Liebe Mom, lieber Dad,
wir leben in einer Gesellschaft, wo Liebe von Hass und Schmerz verdrängt wird und wo die Menschen versuchen, Gefühle zu halten, die schon längst gegangen sind. Wo sich Menschen eingestehen müssen, dass die Liebe, die vor Jahren aufflammte plötzlich nicht mehr existiert und, dass Liebe, Hass und Wut nicht weit auseinanderliegen. Ich halte das alles nicht mehr aus, die ganze Situation, das Zusammenleben in unserer Familie. Das ist alles nicht gut für mein Herz und meine Seele. Und wenn man weiß, dass man in seinem Leben nicht mehr glücklich werden kann und sich von Tag zu Tag die Gründe dafür häufen, dann bleibt einem nichts anderes übrig als aus diesem Leben zu verschwinden. Es war allein meine Entscheidung, in die große, weite Welt aufzubrechen. Ich habe euch all die Jahre viele Schwierigkeiten bereitet und ich habe auch viele Fehler gemacht, die ich auch aus tiefsten Herzen bereue, doch es ist besser, wenn wir alle ein bisschen Abstand zu einander haben. Danke für alles, was ihr für mich getan habt doch es war Zeit für mich zu gehen, da sonst mein Herz zersprungen und meine Seele unheilbar geworden wäre. Ich brauche eine Auszeit. Es tut mir leid. Ich werde euch nie vergessen.
In Liebe, eure Liz.
Ich machte den Füller zu, steckte den Brief in den dafür vorgesehenen Umschlag, klebte ihn zu und legte ihn auf mein Kopfkissen. Dann nahm ich die Taschenlampe, schulterte meinen Rucksack, steckte ein Foto von Mom, Dad und mir hinein, öffnete lautlos das Fenster und kletterte hinaus. Ich landete mit beiden Füßen im Kies, drehte mich um, lehnte das Fenster an, so als ob nichts gewesen wäre und rannte, ohne mich noch einmal umzusehen davon, Richtung Stadt zum Bahnhof. Ich wusste nicht wohin ich fahren sollte, wo ich schlafen konnte und was ich nun machen sollte, doch eins wusste ich: Mein Leben sollte sich ändern und der Zeitpunkt etwas zu ändern war nun gekommen. Am Bahnhof angekommen rannte ich die Stufen zu den Bahnsteigen hoch. Ein Zug stand dort zur Abfahrt bereit. Ich wusste nicht wohin er fuhr, doch es war mir egal. Ich stieg ein, ohne eine Fahrkarte zu besitzen. Setzte mich auf den freien Platz im dritten Abteil, neben eine ältere Frau. „Wohin möchte denn ein so junge Frau um diese Uhrzeit?“, fragt mich die Frau. „Irgendwo ins Nirgendwo, einfach so weit weg wie möglich!“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Sie schaute mich an, aber sagte nichts dazu. Ihr Blick war magisch, ergreifend, so als ob sie meine Gedanken lesen würde. „Soso“, sagte sie. Dann nichts weiter. Ich sagte auch nichts mehr, steckte die Kopfhörer in meine Ohren, hörte mein Lieblingslied und drehte die Lautstärkenregulierung voll auf. Ich schloss die Augen, und gab mich der Musik hin. Nach einer Weile wurde ich aus meinem tranceähnlichen Zustand herausgerissen. Der Schaffner stand vor mir. „Die Fahrkarte bitte, junge Frau!“ „Fahrkarte?“, fragte ich ungläubig. „Ja, wenn man Zug fährt braucht man eine Fahrkarte, das haben Sie schon gut erkannt. Oder haben Sie gar keine?!“ „Doch, doch, aber ich finde sie gerade nicht!“ „Dann müssen Sie leider an der nächsten Station aussteigen und ich muss ein Strafmandat anfertigen!“ „Ich finde es gleich, ganz bestimmt“, säuselte ich. Er ging weiter, kam jedoch zurück und wollte die Karte sehen. Ich hatte sie zum Glück gefunden und gab sie ihm. Er nahm sie, machte ein Loch mit einer Zange hinein, gab sie mir zurück und wünschte: „Viel Spaß in Berlin.“ Dann ging er in das nächste Abteil. „Warum möchten Sie denn alleine nach Berlin?“, fragte mich die Frau, die neben mir saß. Sie war sehr hübsch. Sie hatte kurze, lockige braune Haare, war dezent geschminkt, rosa Lippen, Beiger Liedschatten, babyrosa Rouge. So anders, als alle andern älteren Damen, die ich kannte. „Was meinen Sie denn, warum ich alleine nach Berlin möchte?“, fragte ich meine Sitznachbarin. , „Du bist von zu Hause abgehauen und willst einfach nur weg“, beantwortete sie meine Frage. „Woher wissen Sie das alles?“, fragte ich erneut. „Jetzt lass erst mal dieses blöde „Sie“ weg, dann fühle ich mich so alt. Ich heiße Ena und ich wusste es nicht, ich habe es geraten. Ich war schließlich auch mal in deinem Alter, bin auch von zu Hause weggelaufen und habe auch zu einer Omi im Zug gesagt, als sie fragte wohin ich denn wolle Irgendwo ins Nirgendwo.“ „Krass!“, platzte es aus mir heraus. Ich bin Liz. Fahren wir jetzt wirklich nach Berlin?" fragte ich ungläubig, aber voller Vorfreude. „Ja mein Kind, dort wohne ich und wo willst du schlafen?“ „Keine Ahnung! Mal hier, mal da, mal dort“, sagte ich. „Die erste Nacht, könntest du bei mir schlafen, ich hab ein schönes Gästezimmer“, bot sie mir an. „Das ist lieb von dir Ena, aber ich bin abgehauen, weil ich selbst klarkommen wollte und mich selbst finden wollte. Ich werde schon etwas finden. Ganz bestimmt!“ „Okay“, sagte Ena ein bisschen traurig. „Dann nimm wenigstens meine Nummer, für den Notfall. Du kannst mich immer anrufen. Bei Tag und bei Nacht“, sagte sie, als wäre sie meine Tante. Sie schrieb ihre Nummer auf einen Zettel, gab ihn mir, zwinkerte mir zu und sah dann aus dem Fenster. Ich steckte mir meine Kopfhörer wieder in die Ohren, hörte weiter Musik, minimierte aber die Lautstärke auf die Hälfte, damit ich die Durchsage des nächsten Bahnhofes nicht verpasste. Nach gefühlten 5 Milliarden Stunden ertönte: „Berlin Hauptbahnhof“. Ich wickelte meine Kopfhörer um meinen iPod, sah nach links. Ena saß nicht mehr dort. Ich hatte es nicht bemerkt, dass sie aufgestanden und ausgestiegen war. Ich erhob mich von meinem Platz, nahm meinen Rucksack und stieg aus dem Zug. „Endlich bin ich frei“ dachte ich. Der Hauptbahnhof war belebt, viele Menschen rannten umher, es war laut, nicht, dass es nicht zum aushalten gewesen wäre, aber doch so laut, dass Kleinkinder nicht hätten schlafen können. Überall standen Koffer, Taschen, Rucksäcke und Menschen, die teils gut und teils schlecht gelaunt, teilweise auch genervt waren. Ein Zug auf Gleis vier kam an. Ein Mädchen viel einem wirklich gutaussehenden Jungen um den Hals. Eine Mutter versuchte ihre zwei kleinen süßen Kinder beisammen zuhalten. Arrogante, wohl sehr wichtige Geschäftsleute mit dem neusten iPhone am Ohr und einem kleinen Silberkoffer in der anderen freien Hand sprangen aus dem Zug und hasteten davon. Ich machte mich auf zum Ausgang. Als ich auf dem großen Platz davor stand sah ich schon wieder diese schnöseligen Geschäftsleute, die sich in die schönsten aller BMWs setzen, den Fahrer herumkommandierte und dabei das iPhone immer noch am Ohr hielten. Ohr und iPhone sollten wohl schon miteinander verschmolzen sein. Ich drehte mich um, sodass ich mit dem Gesicht zur Glasfront des Einganges stand. Ich zückte meine Kamera, um ein Foto von diesem wirklich schönen Gebäude zu machen. Ich bekam jedoch nicht alles auf das Display, sodass ich ein paar Schritte zurückmachte. Irgendwie verhedderte ich mich irgendwo und landete auf dem Rücken. Ein blonder, großer Junge grinste mich an, nahm meine Hand, zog mich hoch half mir auf die Füße. „Bist wohl neu hier, was Blondchen?“, spottete er. „Ja bin ich du Breitmaulfrosch!“ „Uuh, jetzt hab ich aber Angst!“, spottete er weiter. „Zieh leine du Kackbratze“, maule ich ihn an. „Ich bin Jake!“, versuchte er die Situation etwas zu retten. „Aha!“, raunte ich ihn an. „Und wer bist du, wenn ich fragen darf?“, fragte er keines Wegs verunsichert. „Du darfst fragen. Ich bin Liz!“ „Okay Liz. Warum bist du hier?“ „Was geht dich das an, Jakearsch?“, zickte ich ihn an. „Was hab ich dir eigentlich getan? Du kennst mich doch garnicht?“, sagte Jake. Da hatte er allerdings Recht. „Sorry, ich bin müde von der Zugfahrt. Ich bin von zu Hause abgehauen, will mir ein neues Leben aufbauen. Hier. In Berlin.“ „Und wie alt bist du?“, bohrte er weiter. „Ich bin 16 und du?“, stellte ich die Gegenfrage. „17 und solo“, merkte er (ganz beiläufig natürlich) an. „Hast du einen Freund?“ Ich hatte keine Lust über mein Liebesleben mit einem Jungen den ich gerade mal seit zehn Minuten kannte zu reden. Ich sagte ihm, dass es ihn nichts angehe. Er nahm es so hin. Das wunderte mich ein bisschen, denn davor hat er dauernd nachgefragt, aber es war mir Recht, dass er es hinnahm. Jake begleitete mich bis zum Alexanderplatz, dort wo der Fernsehturm steht. Er gab mir seine Handynummer und sagte mir, dass er mich morgen um elf Uhr hier abholen würde. Dann zeige er mir die Stadt, die wichtigsten Orte, wo Partys steigen und wo man von Alkohol bis Drogen alles bekommen konnte. „Bis Morgen dann“, sagte er zu mir, als er in Richtung U-Bahn Station verschwand. Nun stand ich mitten auf dem Alexanderplatz, hatte keine Ahnung was ich Essen und wo ich Schlafen sollte. Ich suchte mir eine dunkle Gasse, zog meine Jacke aus legte sie mir als Decke über, schloss die Augen und schlief ein. Als ich aufwachte zeigt die Uhr meines Handys 16 Uhr an. Ich stand auf zog meine Jacke an, durchwühlte meinen Rucksack, fand zwei zehn-Euro Scheine, ging in eine Bäckerei, kaufte mir zwei trockene Brötchen und zwei Flaschen Cola und machte mich auf, Berlin zu entdecken. Ich sah Punks, die an einem Brunnen feierten und Dosenbier tranken. Eine Girly- Clique, die sich die neuesten Zeitschriften lasen und sie über die neuesten Trends der Nagellacke unterhielten. Eine Gruppe von Skatern, die waghalsige Sprünge machten, nur um Aufmerksamkeit von Mädchen, die gegenüber bei Starbucks saßen und Kaffee tranken zu erlangen. Sie konnten springen wie sie wollten, die Mädchen fanden diese Show sehr lächerlich. Ich kannte den Blick von Elgina und ihren Tussies aus meiner Stufe. Elginas Klamottengeschmack war, wie soll ich es sagen, sehr speziell. Im Sommer trug sie goldene Shorts mit roten Designertops oder Sachen von Desigual. Sie könnte sich die Sachen nicht leisten, wenn ihr Vater nicht ein Manager einer großen Hotelkette in der USA wäre und ihr Mutter Designerin für ein angesagtes Modelabel. Ihre „Mädelschatzys“, wie sie ihre Freundinnen nannte, waren auch Töchter reicher Eltern. Sie passten einfach zusammen. Dieses Trio liebte es andere Mädchen, die nicht „perfekt“ waren runterzumachen und sie vor der ganzen Schule lächerlich zu machen. Mein Hass auf diese Clique war so groß, dass es sich gar nicht mehr beschreiben lässt. Meine beste Freundin Kelly und mein bester Freund Arvin, hassen diese Mädchen auch, denn Kelly gehörte mal zu ihnen und wurde von ihnen ausgenutzt, Arvin war mal mit Carlotta Smith (die zweite im Bunde) zusammen gewesen, als er noch „in“ war. Sie sind fast 2 Jahre miteinander gegangen. Sie trennten sich, weil Elgina Carlotta damit drohte, aus der Clique zu fliegen, wenn sie diesen nichtsnutzigen, elendigen, outen Versager nicht verlassen würde. Sie trennte sich natürlich, weil ihr Freundschaft wichtiger war. Arvin hat das ziemlich aus der Bahn geworfen, da er Carlotta wirklich sehr geliebt hatte. Er fing an Tabletten zu nehmen, zu rauchen, Alkohol zu trinken, doch als das alles nicht mehr half, besorgte er sich Speed, nahm es jeden Tag, wurde abhängig, landete in der Entzugsklinik, in der ich ihn jeden zweiten Tag besuchte. Carlotta war auch ein paarmal da, schrieb ihm Briefe, brachte ihm das Mitgeschriebene aus dem Spanischkurs. Lernte mit ihm, spielte Gesellschaftsspiele. Arvin brachte ihr das Gitarre spielen bei, erzählte ihr von der Therapie. Sie sprachen sich aus, waren wieder zusammen. Carlotta trennte sich von der Clique. Sie hat es geschafft Arvin wieder in die richtige Spur zu leiten, ihm den Lebenswillen wieder zu geben. Das alles ist jetzt fast ein Jahr her, doch es kommt mir so vor als wäre alles in der letzten Woche geschehen. Plötzlich fiel mir ein, dass ich Arvin und Kelly gar nichts von meiner „Flucht“ erzählt habe. Ich tippte eine SMS an beide.
Hey,
ich bin von zu Hause abgehauen und bin jetzt in Berlin. Bitte sagt meinen Eltern nichts, denn sie würden sich wieder unnötig Sorgen machen. Ich hab dich lieb. x3
Melde mich bald wieder.
Deine Liz. <3
Ich drückte auf senden und sah mein Displayhintergrund an. Auf dem Bild waren Kelly, Arvin und ich zusehen, als wir das letzte Mal am Baggersee waren. Das war der erste Sommer nachdem Arvin aus der Klinik entlassen wurde. Wir hatten viel Spaß. Spielten Volleyball, schwammen um die Wette, bis zu der kleinen Insel mitten im See, aßen Eis und sprachen über alles was wir noch nicht ausgetauscht hatten. Wir saßen bis spät abends am Wasser, schauten der Sonne zu, wie sie im See versank. Es war ein wunderschöner Tag gewesen. Ich klappte das Handy zu, drückte es auf mein Herz und dachte an sie. Dann steckte ich es in meine Hosentasche und ging weiter. Inzwischen war es neun Uhr. Die Straßen waren immer noch belebt, viele Leute, die umherliefen. Berlin kommt wohl nie zum Ruhen. Ich ging die Treppen hinunter zur U-Bahn Station, fuhr zurück zum Hauptbahnhof. Dort war eine Bücke unter der ich mich zum schlafen legen wollte. Ich legte mein Regencape auf den Boden, setze mich darauf, zog den Reißverschluss meiner Jacke bis oben hin zu, lehnte mich an den Brückenpfeiler und schlief ein. Mitten in Nacht wachte ich auf ziemlich durchgefroren auf. Ich sah auf mein Handy. Die Uhr zeigte 3.20 Uhr an. Ich wählte das Symbol des Telefonbuches und gab in das Suchfeld ein „E“ ein. Der Name Ena erschien auf dem Display. Ich wählte den Namen aus, drückte auf den Hörer. Das Freizeichen ertönte. Es tutete zweimal, dreimal, viermal, dann wurde schon abgenommen. Ein sehr waches „Hallo“ ertönte. „Hallo Ena, tut mir leid, dass ich störe, aber ich wollte fragen ob dein Angebot aus dem Zug noch steht, das mit dem Schlafplatz.“ „Ja natürlich steht mein Angebot noch mein Kind. Wo steckst du denn gerade?“ „Ich bin am Hauptbahnhof unter der Brücke. Ich bin durchgefroren und hungrig.“ „Alles klar mein Kindchen, bleib schön da sitzen. Ich bin in ca. 15 Minuten bei dir. Bis gleich!“ „Okay. Bis gleich.“ Nach kurzer Zeit erschien Ena vor mir. Ich folgte ihr zu einem Auto, stieg ein, zog die Tür zu. Sie setzte sich hinter das Steuer, lies den Wagen an und schaltete das Radio ein. Wir redeten während der gesamten Fahrt nicht ein Wort. Schweigend sah ich aus dem Fenster und guckte zu wie die Straßenlaternenlichter an uns vorbeiflogen und die Gebäudelangeschatten über die Berliner Straßen wanderten. Das Auto hielt vor einem Häuserblock, abseits der Innenstadt. „Wir sind da mein Kindchen!“, verkündete sie. Ich nahm meinen Rucksack, stieg aus und folgte ihr ins Innere des Hauses. Ena stieg in den Fahrstuhl, ich eilte hinterher. Wir fuhren in den fünften Stock. Die Tür ging auf und wir traten aus dem Fahrstuhl heraus in den dunklen Flur. Ena schloss die Wohnungstür auf. Ich folgte ihr und erstarrte. Ihre Wohnung war nicht altmodisch, wie ich erwartet hatte nein. Es war eine wahre Designerwohnung. Total modern, keine zusammengewürfelten Möbel. Nein. Alles passte perfekt zusammen. Die lila Vorhänge passten perfekt zu dem Zottelteppich, der in der offenen Küche lag. „Hast du Hunger? Ich könnte schnell was zaubern.“ „Ja sehr gerne, aber nur wenn es dir wirklich nichts ausmacht .“ „Nein, nein Herzchen. Das macht mir überhaupt nichts.“ Sie ging zum Kühlschrank und steckte ihren Kopf hinein. Ich schaute mich derzeit in ihrer Wohnung um. Ich entdecke Bilder von einem Mann, von zwei kleinen Kindern, eine junge Frau, die ich auf Mitte, Ende 20 schätzte. „Oh du hast meine Familie entdeckt“, sagte Ena aus der Küche. Ein Lächeln umschmeichelte ihre mal nicht geschminkten Lippen. „Das ist meine Tochter mit ihrem ach so tollen Mann Dave. Sie schien ihn gerade nicht besonders zu mögen. Sie sagte es in einem sehr abfallenden Tonfall. „Was ist denn mit Dave?“, fragte ich nach. „Ach weißt du Liz, meine Tochter Mariana hat ihn in L.A. kennengelernt. Es war ein Urlaubsflirt. Sie hat sich in ihn verliebt, doch er passt nicht zu ihr. Dave ist ein Imobilienmakler und hält sich für den tollsten Mann. Er ist so furchtbar arrogant. Aber er kümmert sich um seine Kinder, das macht ihn wieder sympathisch.“ „Die Kinder sind wirklich süß. Wie heißen sie denn?“ „Jelana und Maveric. Jelana ist inzwischen vier Jahre und Maveric ist zwei Jahre alt. Sie sind mein ganzer Stolz. Sie haben echt Glück mit ihrem Vater, wenn man die Arroganz bei ihm ausblendet. Meine Tochter musste ohne Vater aufwachsen. Ich hatte einen Urlaubsflirt auf Mallorca und ich wurde schwanger. Ich bin eigentlich froh, dass Mariana mit Dave zusammengeblieben ist. Es ist schwer als alleinerziehende Mutter den Alltag zu bewältigen. Ich spreche da aus Erfahrung.“ „Tut mir Leid, dass ich nachgefragt habe. Das war dumm von mir.“ „Nein, nein es ist schon okay. Ich habe mich damit abgefunden. Ich bin im Nachhinein froh, dass sie ohne Vater aufgewachsen ist. Er hätte nie Vatergefühle für sie gehabt, weil er mich nicht geliebt hat. Hier mein Herzchen, iss schon einmal, ich bereite in der Zeit das Gästezimmer vor.“ Sie verschwand aus dem Zimmer, öffnete im Nebenraum das Fenster, schlug das Bett auf, bezog Kopfkissen und Decke und kam dann zurück. „Ich mache mir einen Tee. Möchtest du auch einen?“ „Ja gerne“, willigte ich ein. Ich hatte aufgegessen und hielt nach kurzer Zeit eine dampfende Teetasse in der Hand. Ena ging zum Fenster, zog dir Gardine zurück. Erst jetzt bemerkte ich, dass es kein Fenster, sondern eine Balkontür war. „Komm wir setzen uns auf den Balkon und dann reden wir beide einmal.“ Ena schnappte sich ihre Tasse und ging hinaus auf den Balkon. Ich folgte ihr. Auf den beiden Stühlen lagen bereits dicke Wolldecken. Ich setze mich auf den Stuhl, kuschelte mich in die Decke ein, schlürfte meinen Tee und starrte in die dunkle Berliner Nacht. Ena machte das gleiche. Wir redeten über meine Familie, ich erzählte von Kelly und Arvin. Von Arvin´s Entzugskur. Ich erzählte auch von Jake und meinen ersten Eindrücken aus der Hauptstadt. Ena hörte zu, unterbrach mich nicht einmal, nickte zwischendurch, nahm meine Hand und hielt sie fest. „Du hast in deinen jungen Jahren schon viel mitgemacht mein Kleines.“ Mehr sagte sie nicht außer, dass ich jetzt schlafen gehen sollte. Ich war wirklich ziemlich müde, darum befolgte ich ihren Rat. Auf dem rieseigen Bett im Gästezimmer lag ein schönes Nachthemd. Ich streifte meine Klamotten ab, zog es an und legte mich ins Bett. Bevor ich das Licht löschte, zog ich das Foto aus meinem Rucksack. Eine heile Familie. Ja so schien es, doch in Wirklichkeit war sie schon vor vielen Jahren zerbrochen. Seit mein Vater seine Chefsekretärin gepoppt hat und sie von ihm schwanger geworden war. Meine Mutter hat es ihm verziehen, doch nie vergessen. Sie distanzierte sich immer mehr von meinem Vater. Sie redeten nicht mehr wie Eheleute sondern mehr wie Bekannte. Sie stritten sich jeden Tag über die kleinsten Kleinigkeiten. Dad war sogar für zwei Monate ausgezogen. Mom war so wütend, dass sie seine Klamotten aus dem Fenster warf und nicht einmal vor dem Laptop hatte sie halt gemacht. Sie war einfach tiefgründig verletzt. Ich konnte den Anblick dieser „Familie“ nicht mehr ertragen und legte es unter das Kopfkissen. Dann schaltete ich das Licht aus, schloss die Augen und schlief ein.
Am nächsten Morgen wurde ich von dem Duft von Kakao und warmen Brötchen geweckt. Ena klimperte in der Küche mit Tellern, Tassen und Besteck herum. Ich stand auf, ging zum Fenster, zog die Vorhänge auf, lies die ersten Sonnenstrahlen mein Gesicht streifen. Öffnete das Fenster, atmete die frische Morgenluft ein, legte mich wieder ins Bett. Es klopfte an der Tür. Ena kam mit einem Tablett herein. „Guten Morgen“, trällerte sie. „Ich habe Frühstück für uns gemacht. Rück mal bitte ein Stück.“ Ich rückte ließ sie mit unter meine Decke. Ena war keine Fremde mehr für mich. Sie war so etwas wie meine Tante, die ich nie gehabt hatte. Meine Eltern wollten nie, dass ich Kontakt mit ihren Schwestern hatte, denn sie waren Alkoholabhängig und somit ein schlechter Umgang für mich. Ich bin meinen Eltern dankbar, dass ich sie nie kennenlernen musste. „Wo möchtest du jetzt eigentlich schlafen? Und wie soll es jetzt weitergehen bei dir?“, wollte sie wissen. Das wusste ich auch noch nicht so genau. „ Ich weiß noch nicht, Ena. Am liebsten möchte ich bei dir wohnen bleiben, aber das geht bestimmt nicht!“ „Doch, doch. Ich würde mich freuen, wenn du bei mir bleiben würdest. Dann bin ich nicht mehr so alleine, weil meine Tochter ist mit ihrem Macker ausgewandert und hat mich alleine gelassen.“ „Das wäre wirklich schön, wenn ich hier wohnen kann, ich kann dir auch sowas wie Miete zahlen. Ich suche mir einen Job und helfe dir dann finanziell. Alles kein Problem.“ „Nein, mein Kind das brauchst du nicht. Es ist mir ein Vergnügen dich zu versorgen“, bestätigte sie mir überglücklich. Nach dem Frühstück, verschwand ich ins Bad machte mich fertig. Setzte mich vor meinen Laptop, den ich mitgenommen hatte und sichte mir einen Job. Ich brauchte unbedingt neue Klamotten. Ich fand keinen, aber ich traf mich ja in zwei Stunden mit Jake. Er wusste bestimmt, wo man hier Jobs finden kann und wie. Ich hörte eine mir bekannte Melodie, wusste aber nicht woher sie kam. Dann bemerkte ich, dass diese Melodie mein Handy war um genau zu sein mein Klingelton. Ich klappte es auf, las „Home“ und drückte weg. Meine Eltern haben den Brief gefunden und wollen mich jetzt erreichen. Ich schaltete es aus, da man in der heutigen Zeit Handys orten konnte. Niemand außer Nelly und Arvin sollte wissen wo ich bin und was ich machte. Ich schnappte mir das restliche Geld, steckte es in meine Hosentasche und machte mich auf zum Alexanderplatz. Nach ca. einer halben Stunde war ich dort angekommen. Viel zu früh. Ich hatte noch fast eine Stunde Zeit. Deshalb steuerte ich auf den New Yorker zu und kaufte mir zwei Tops für fünf Euro und eine Hotpants für sieben Euro. Bei Edeka erstand ich zwei Strumpfhosen für einen Euro. Jetzt hatte ich noch eine halbe Stunde, die ich überbrücken musste. Ich ging zurück zum Brunnen, setze mich auf den Rand und reckte mein Gesicht in die Sonne. Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Ich öffnete die Augen und erschrak. „Na du Sonnenkönigen. Alles fit?“ Jake stand vor mir und grinste mich charmant frech an. „Klar ist alles fit und bei dir?“, stellte ich die Gegenfrage. „Auch“, sagte er nur. Gut diese Auskunft reichte mir. „Komm ich zeig dir jetzt Berlin. Ich bin dein persönlicher Stadtführer. Kostenlos!“, laberte er mich voll. Dann griff er nach meiner Hand und zog mich hinter sich her. Nach hundert Metern schüttelte ich seine Hand, wie eine lästige Fliege ab. Es fühlte sich falsch an, einen Jungen festzuhalten, den ich gar nicht richtig kenne. Er sagte nichts dazu, es schien für ihn okay zu sein. Er fuhr mit mir zum Reichstag, zum Brandenburger Tor, rauf auf den Fernsehturm, zeigte mir Berlin von oben, wo er ungefähr wohnte. Außerdem noch seine Schule, seine Lieblingsplätze, wo man gut essen kann und seine Lieblingspartywiese. Nach seiner Tour fragte ich, wo ich denn einen Job finden könne. Er sagte mir, dass er das für mich regeln und mich dann morgen anrufen würde. Er brachte mich zu Ena, verabschiedete sich und verschwand um die nächste Straßenecke. Dieser Junge war echt komisch, er kann aus dem Nichts auftauchen und er hat ein Talent dafür schnell zu verschwinden. Ich ging ins Haus, fuhr hoch zu Ena's Wohnung, klingelte. Ena öffnete die Tür, nahm mich in den Arm. Sie fragte mich, ob ich einen schönen Tag gehabt hätte und was ich alles gesehen hab von ihrer Heimat. Ich erzählte ihr von den Plätzen wo wir gewesen waren. Die Annäherungsversuche von Jake verschwieg ich jedoch. Ich wusste ja selbst nicht, was das sollte und ob es etwas zu bedeuten hatte. Ich legte mich in mein Bett, dachte an zu Hause. An Mom, die jetzt bestimmt fürchterlich weinte, an Dad, der Mom jetzt bestimmt Vorwürfe machte, dass sie an allem schuld war, was natürlich nicht stimmte. Sie stritten bestimmt wieder fürchterlich. Ich bin froh, das alles nicht mitbekommen zu müssen. Ich hatte nie Geheimnisse vor Mom, sie war sowas wie meine zweite beste Freundin, aber eins hatte ich. Es war vor zwei Jahren. Ich lag schon im Bett, als meine trockene Kehle nach Wasser verlangte. Ich stand auf, öffnete die Tür, hörte, dass meine Eltern sich mal wieder stritten. Ich schlich zur Treppe, legte mich flach auf dem Bauch, konnte so ins Wohnzimmer spähen. Dad stand vor Mom, die weinend auf dem Sofa saß. Er schrie sie an, weil er wieder einmal getrunken hatte. Sie solle ihn angucken, wenn er mit ihr reden würde. Mom ließ den Blick gesenkt, schaute nicht auf, weil sie nicht mochte, dass mein Vater sie weinen sah. Sie versuchte immer stark vor ihm zu sein, doch ihre Nerven spielten nicht mehr mit. Mein Vater nahm seine Hand, packte ihren Kiefer, zog den Kopf zu sich herauf. Schrie: „Du sollst mich angucken, wenn ich mit dir rede. Hast du mich nicht verstanden?“ „Doch, hab ich“, hauchte meine Mutter leise, aber nicht so leise, dass ich es nicht hätte verstehen können. „Antworte mir laut, wenn ich dich etwas frage“, brüllte mein Vater sie an. Dann geschah es. Er ließ ihren Kiefer los, holte aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Ich erstarrte, hörte auf zu atmen, konnte gerade noch meinen Schrei unterdrücken. Ich lag noch eine Weile leblos auf dem Boden. Ich weiß nicht wie lange ich dort lag, aber es war wohl eine Weile gewesen. Nach diesem schrecklichen Vorfall schlich ich wieder zurück, legte mich ins Bett und versuchte einzuschlafen, aber immer wenn ich meine Augen schloss, erschien dieses Bild vor meinen Augen, dass mein Vater meine Mutter schlug. Ich schlief besonders schlecht in dieser Nacht. Wenn ich heute die Augen schließe, treten nur noch vereinzelte Fetzen dieses Ereignisses auf. Nur diese eine schreckliche Szene, in der mein Dad meine Mom schlägt. Ich habe nie mit jemanden darüber geredet, noch nicht einmal mit Kelly und Arvin. Niemand weiß von diesem Ereignis, außer meinem Dad, meiner Mom und mir.
Die Gedanken an zu Hause taten mir nicht gut. Ich schob sie daher ganz weit weg von mir. Ich dachte an morgen, an Jake, warum auch immer und an mein neues Leben in Berlin. Um mich weiter abzulenken schnappte ich meinen Laptop, setzte mich auf den Balkon und begann eine Mail an Kelly zu schreiben.
Hallo Süße,
ich hab ja versprochen mich zu melden. Also mir geht’s recht gut in Berlin. Ich wohne bei einer sehr netten alten, aber modernen Dame. Sie heißt Ena und hat mich quasi im Zug gerettet. Ich wohne erst mal vorübergehend bei ihr im Gästezimmer. Ihre Wohnung ist echt der Hammer. Wie geht’s dir und Arvin? Was gibt’s neues an der Front? Schreib bitte zurück.
Ich hab dich lieb. :*
Deine Liz.
Ich schickte die Mail ab, fuhr den Laptop herunter, kuschelte mich in die warme Decke und blickte in den Sternenhimmel. Ena kam zu mir auf den Balkon, setzte sich neben mich auf den freien Stuhl, drückte mir eine Teetasse in die Hand und fragte mich nach meinem heutigen Tag. Ich erzählte ihr ein bisschen, aber nicht alles. Sie fragte nichts nach, hörte einfach zu, so wie sie es immer tat. Ich war etwas bedrückt, weil ich eben an das Erlebnis mit Mom und Dad denken musste. Ena bemerkte, dass etwas nicht stimmte. „Was hast du denn mein Herzchen?“, fragte sie besorgt.“Ach nicht so wichtig!“, murmelte ich. „Komm erzähl schon“, versuchte Ena mich herum zu kriegen. Ich erzählte ihr von meiner Vergangenheit, von Mom, die unter meinem Dad litt, aber sich nicht von ihm trennen konnte. Ich erzählte auch von meinem Dad, der herumschreit, wenn er getrunken hatte. Plötzlich kamen mir die Tränen. Ich habe lange versucht, sie zurück zu halten, das ganze Gespräch über, doch jetzt ging es nicht mehr. Es platzte einfach so aus mir heraus. „Dad hat Mom vor zwei Jahren geschlagen, sie hat es sich einfach gefallen lassen, sie saß einfach nur auf dem Sofa, gab keinen Mucks von sich, schrie noch nicht einmal auf, als die Hand von Dad auf ihre Wange traf. Es hat furchtbar geknallt, aber sie blieb stark. Die Tränen hielt sie zurück. Sie leidet unter Dad, doch Mom hat schreckliche Angst, wenn sie sich trennt, dass alles dann noch schlimmer wird, dass sie mich verliert“, schluchzte ich. Ena nahm mich in den Arm, so als ob sie meine Mutter sein würde. Strich mir die Haarsträhnen aus dem Gesicht. So wie Mom es immer gemacht hatte, wie ich kleiner war. Ena konnte wirklich gut trösten, sie sprach mit mir darüber, weil sie meine Eltern nicht kannte und somit eine ganz andere Sicht auf die Dinge hatte. Ich merkte, wie erschöpft ich doch vom Tag und dem Gespräch mit Ena war. Ich trank meinen Tee aus, stellte die Tasse auf die Spüle, ging ins Gästezimmer, zog das Nachthemd an und legte mich ins Bett. Schlief sofort ein und machte mir keine Gedanken mehr was früher, heute oder morgen sein würde.
Das hier und jetzt zählt. Mitten in der Nacht wurde ich durch ein Summen geweckt. Mein Handy. Mom stand auf dem Display. Nicht „Home“ sondern Mom. Sie rief von ihrem Handy an, ich weiß nicht wieso.
Ich entschied mich nicht ran zu gehen, obwohl es wehtat sie so kalt zu ignorieren. Nach einer Minute hörte es auf zu summen. Stille. Dann vibrierte es. Eine SMS von Mom. Ich las.
Hallo meine Süße,
ich weiß, dass ich viele Fehler gemacht habe und das tut mir schrecklich leid. Ehrlich. Ich mache mir sehr große Sorgen um dich, weil ich nicht weiß, wo du bist. Bitte komm´ wieder nach Hause, ich habe Angst um dich. Wir bekommen alles wieder hin auch das mit Dad. Das verspreche ich dir.
Ich liebe dich.
Mom.
Ich las diese SMS geschätzte hundert Mal und mit jeden Lesen wurde ich stärker von Heulkrämpfen geschüttelt. Mom ist wirklich sehr verzweifelt und ich wollte gar nicht wissen, was Dad ihr wohl alles an den Kopf geworfen hat, das sie ich mitten in der Nacht anrief, doch es muss ziemlich heftig gewesen sein. Ich machte mir Sorgen um sie. Ihre Nerven waren schon gespannt wie Drahtseil, ein klitzekleines Wort oder nur eine kleine Handlung könnten sie zerreißen. Dann ist meine Mutter krank, muss in die Nervenklinik, dort wo sie nie landen sollte. Und alles nur weil Dad so schrecklich geworden ist und ich weggelaufen bin. Ich tue ihr weh. Das ist eins dieser Dinge, die ich nie erreichen wollte bei ihr. Ich legte das Handy beiseite, konnte aber nicht aufhören an Mom zu denken. Ich nahm es und tippte eine SMS zurück.
Hallo Mom,
mir geht’s gut, mach dir bitte keine Sorgen um mich. Ich möchte dir meinen momentanen Aufenthaltsort nicht nennen. Lass dich von Dad nicht unterkriegen und ich bin mir sicher, dass wir das nicht mehr hinbekommen, wegen Dad. Du musst dich endlich von ihm trennen, er tut uns nicht mehr gut. Ich komme erst dann wieder nach Hause wenn du deinen weiblichen Stolz runterschluckst und ihn endlich verlässt. Ich liebe dich auch. :*
Liz.
Ich schrieb, dass sie sich von ihm trennen sollte, doch ich wusste genau, dass Mom es nicht konnte. Mit diesem Satz habe ich ihr bestimmt wehgetan, doch es musste endlich einmal gesagt werden. Mom´s Angst vor Dad ist wirklich groß. Sie wurde aber erst so groß, nachdem Dad sie geschlagen hatte. Ich hatte ihr schon einmal vorgeschlagen sich helfen zu lassen oder in ein Frauenhaus zu gehen, damit alles ein Ende hatte. Sie wusste davon, dass ich jeden Streit mitbekommen hatte, doch nicht, dass sie geschlagen worden war. Das verschwieg sie mir und ich, dass ich es wusste. So teilten wir ein Geheimnis.
Ich legte das Handy weg, steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren, schaltete die Musik an und lies mich von Bushido wieder in den Schlaf singen.
Der nächste Tag fing genauso an wie der letzte. Außer das mit dem Frühstück im Bett. Ich stand auf, wie immer, frühstückte mit Ena auf dem Balkon, duschte, zog mich an, machte mir die Haare und schminkte mich. Heute wollten Ena und ich den Reichstag besichtigen und einkaufen gehen. Wann Jake sich genau melden wollte wusste ich nicht. Ob er sich überhaupt bei mir melden würde war fraglich. Ich wusste ja noch nicht mal wo er wohnte, doch die grobe Richtung, aber ich kannte ihn ja erst gerade mal zwei Tage. Ena kam ins Bad, setze sich auf den Badewannenrand und sah mir beim restlichen schminken zu. „Kannst du mich auch mal so schminken?“, fragte sie mich. „Klar, kann ich machen“, antwortete ich. Ich nahm Eyeliner, Kajal und Mascara, schminkte sie so wie ich mich geschminkt hatte. Es sah gut aus bei ihr. Wirklich gut. Sie sah jünger aus, nicht das sie es bräuchte, doch es stand ihr. Der Kajal passte zu ihren dunklen Augen. Sie stellte sich neben mich.
Unsere Blicke trafen sich im Spiegel. Wir mussten beide lachen, denn wir sahen aus wie Tante und Enkelin. Wir gingen aus dem Bad, schnappten uns zwei Taschen und zogen los Richtung Innenstadt. Wir fuhren mit der U-Bahn zum Brandenburger Tor, schlenderten hindurch und steuerten auf den Reichstag zu. Wir gingen ganz nach oben in die Kuppel. Schauten über die Dächer von Berlin. Das erste Mal im Leben fühlte ich mich wirklich frei. Ich dachte nicht an zu Hause, nicht an Mom, nicht an die Zukunft, noch nicht einmal an mich selbst. Hier oben konnte ich alles vergessen. Ich fühlte mich wohl. Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinem Trancezustand und holte mich zurück in die Realität. Es war Jake. Ich war aufgeregt, doch ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen. Daher sagte ich so lässig wie möglich: „ Hey Jake, was geht ab?“ „Vieles!“, sagte er. „Mehr für dich, als für mich, denn du hast ab nächste Woche einen Job. Du kannst Flyer für die Pizzeria „Leonardo“ verteilen. Du musst Montag um 14 Uhr dort sein, dann bespricht er alles mit dir, also dein Gebiet.“ „Danke, dass du mir den Job beschafft hast“, dankte ich ihm überglücklich.“ „Kein Problem. Ich hab doch gesagt, dass ich das mache. Können wir uns heute Abend sehen?“, fragte er. „Ich machte Ena ein Zeichen, sie nickte, holte Sag ihm, dass ich ihn heute Abend zum Essen einlade, nur wenn du willst. Um acht kann er kommen.“ Ich fragte Jake ob er das Angebot annehmen wollte. Er willigte ein. Dann stand alles fest. Jake aß heute Abend bei uns mit. „Da wir heute Abend einen Gast erwarten, sollten wir uns überlegen, was wir ihm auftischen wollen und was wir dafür brauchen.“, sagte Ena. „Ja, stimmt“, bestätigte ich ihr ihre Aussage. Also machten wir beide uns auf zum Supermarkt um dort ein Menü für Jake zusammen zu stellen. Wir entschieden uns für Hühnchenauflauf mit Ofenkartoffeln und Buttergemüse. Nachdem Ena bezahlt hatte, gingen wir mit vollgepackten Tüten nach Hause. Dort angekommen half ich ihr die Tüten aus zu packen und alles im Kühlschrank und Eisfach zu verstauen. Es war bereits fünf Uhr. Ena fing an das Hühnchen vorzubereiten und die Wohnung ein bisschen aufzuräumen. In der Zeit verschwand ich erst einmal zwei Stunden im Bad. Ich zog ein knielanges dunkelrotes Kleid mit roten Sandaletten mit Absatz an. Das Kleid und die Schuhe hatte ich am Abend meiner Flucht noch schnell in den Rucksack gestopft. Ich trat hinaus auf den Flur, denn dort hing ein raumhoher Spiegel. Ich betrachtete mich, bemerkte jedoch, dass etwas fehlte. Ena bemerkte das auch. Ging in ihr Schlafzimmer, kam mit einer Schmuckkassette zurück. Sie nahm silberne, dicke Perlernohrstecker und eine passende Kette dazu heraus. Legte mir die Kette um. Die Ohrstecker drückte sie mir in die Hand. Ich nahm die Stecker, steckte sie mir in die Ohren, betrachtete mich erneut. Diese Person im Spiegel sah so wunderschön aus. Ich trat näher an den Spiegel heran, streckte meine Hand aus. Erst als meine Finger das kalte Glas des Spiegels berührten realisierte ich, dass diese Person, die mich aus dem Spiegel ansah ich selbst war. Meine Mundwinkel zuckten in die Höhe. Ich konnte ein kleines Lächeln erkennen. Ich hatte lange nicht mehr richtig gelacht oder gelächelt seitdem Tag, als Dad Mom geschlagen hatte. Das war wohl einer der dunkelsten Tage in meinem Leben. Ich ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass alles noch dunkler kommen wird. Inzwischen war es halb acht. Ich ging ins Wohn,- Esszimmer, deckte den Tisch, während Ena sich umzog und neu schminkte. Wir hatten passend zu den Vorhängen Servierten und Kerzen gekauft. Ich dekorierte den Tisch, holte Getränke aus der kleinen Nische neben dem Kühlschrank, stellte sie auf die Theke. Dann ging ich ins Schlafzimmer, schaute nach was Ena anzog. Sie sah umwerfend aus. Sie hatte sich in ein bodenlanges, weinrotes Kleid gehüllt. Dazu trug sie schwarze Pumps. Um den Hals trug sie ein goldenes Collie, das sehr alt aussah. Wahrscheinlich ein Erbstück. An ihrer rechten Hand trug sie einen Goldring mit Stein und ums Hanfgelenk ein ineinandergeschelungendes goldenes Armband. Sie war sehr stilsicher, das musste man ihr lassen. Um punkt acht Uhr klingelte es an der Tür. Jake war pünktlich, was ich nicht erwartet hatte. Ich ging zu Tür. Es war gar nicht so leicht auf hohen Absätzen zu gehen, wenn einem die Knie so zitterten wie mir in diesem Moment. Ich öffnete die Tür. Jakes Kinnlade klappte herunter. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, dann sagte er: „ *Wow*, du siehst einfach klasse aus“, sagte er mir und wurde ein bisschen rot. „Danke. Komm doch erst einmal herein.“ Als er ins Licht trat, sah ich dass er einen Blumenstrauß und eine einzelne Rose dabei hatte. Die Rose überreichte er mir, den Blumenstrauß schenkte er Ena. Sie freute sich sehr, stellte sie gleich ins Wasser und platzierte sie auf dem kleinen Tisch neben dem Sofa. Dann setzen wir uns an den Tisch. Ena servierte das Essen. Wir redeten über alles Mögliche. Ena fragte Jake dies und das. Gegen halb 11 ging Jake dann, aber nicht ohne mir ein Küsschen auf die Wange zu hauchen. Nachdem er gegangen war, räumte ich mit meiner „Ersatztante“ die Spülmaschine ein und stellte das übergebliebene Essen in den Kühlschrank. Danach ging ich ins Bad. Schminkte mich ab, putzte mir die Zähne, zog mein Nachthemd an und fiel todmüde, aber überglücklich ins Bett. Bevor ich schlief, steckte Ena noch kurz den Kopf zur Tür herein. „Gute Nachte mein kleiner blonder Engel“, sagte sie zu mir. Es tat gut so etwas mal wieder zu hören. Dad hatte mich nie so genannt. Mom sagte immer „Maus“ oder „Süße“ zu mir auch wenn ich schon 16 Jahre alt war. „Dein Jake ist wirklich nett“, sagte sie mir. „Ja ich weiß“, bestätigte ich ihr. „Ena?“ „Ja mein Kleines?“ „Ich hab dich lieb“ und das war noch nicht einmal gelogen. Dieser Satz tat mir und meinem Herzen wirklich gut. Ich hatte diesen Satz seit langer Zeit nicht mehr gesagt. „Ich hab dich auch lieb mein Kleines“, sagte Ena mit sanfter Stimme. „Schlaf gut. Bis morgen Früh.“
Ich kuschelte mich in die Decke, dachte an Jake und schlief mit etwas Bauchkribbeln ein
In den nächsten Tagen passierte nichts Aufregendes. Ich lebte einfach in den Tag hinein, so wie ich es mir immer gewünscht habe. Ich schrieb E-Mails und SMS, traf mich mit Jake. Verdiente mein eigenes Geld, ging schoppen mit Ena, lernte neue Leute durch Jake kennen. Ein Punkmädchen. Sie hieß Layla und war super nett. Sie wurde so etwas wie meine Freundin. Wir schlenderten durch Berlin und sie half mir beim Flyer austragen, ohne etwas von dem Geld abhaben zu wollen. Jetzt war ich schon eine Wochen hier. Von Mom hatte ich lange nichts mehr gehört. Es schien alles in Ordnung zu sein.
Am Morgen des nächsten Tages wurde ich nicht von Sonnenstrahlen geweckt. Ich dachte erst, dass es mitten in der Nacht oder früh am Morgen wäre. Der Himmel über Berlin war bedeckt und die ersten Regentropfen fielen aus den dicken grauen Wolken, die den Himmel verschleierten. Ich zog mich an, ging ins Bad, frühstückte, ging dann zurück ins Gästezimmer, stellte mich vors Fenster und sah dem Regen zu, wie er an mein Regen klopfte. Mein Handy klingelte. Eine unbekannte Nummer stand auf dem Display. Ich ging ran. „Hallo?“, meldete ich mich. „Hallo, spreche ich mit Liz Quntrex?“, fragte mich eine mir unbekannte weibliche Stimme. „Ja. Was wollen Sie denn von mir, wenn ich fragen darf?“, fragte ich freundlich nach. „Ja. Das darfst du natürlich. Deine Mutter hatte mich gebeten dich anzurufen und dir ausrichten zu lassen, dass sie nun in unserer psychiatrischen Klinik und damit in den besten Händen ist.“ „Was ist denn passiert?“, fragte ich mit zitternder Stimme. Tränen stiegen mir in die Augen. „Deine Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch.“ „Wie geht’s ihr denn jetzt?“, stotterte ich. „Ihr geht’s den Umständen entsprechend gut. Sie hat nach dir gefragt. Im Schlaf murmelt sie immer „Liz komm zurück“ und „Nein, schlag mich nicht schon wieder. Wurde sie von ihrem Mann geschlagen?“, fragte die Schwester mich. Ich wusste nicht, ob ich jetzt die Wahrheit sagen oder verschweigen sollte, dass ich es wusste. Ich sagte, dass ich es einmal mitbekommen hatte, doch danach nicht mehr oder, dass mir nichts aufgefallen war. Ich erkundigte mich nach der Adresse der Klinik, falls ich sie doch besuchen wollte. Dann war das Gespräch beendet. Ich klappte mein Handy zu, lehnte mich an die Wand und lies mich langsam auf den Boden gleiten. Dann brach ich mit einem Heulkrampf zusammen. Ich war so sauer auf Dad, er hatte Mom psychisch an den Abgrund gebracht. Jetzt wusste ich, dass Dad sie öfter als ein Mal geschlagen hatte. Er gab ihr die ganze Schuld dafür, dass ich abgehauen war, was nicht stimmte. Ich bin wegen ihm abgehauen. Jetzt weiß ich auch, dass es ein großer Fehler war. Ich hätte Mom nie alleine lassen dürfen mit Dad. Ich war nicht da gewesen um ihr Leben auszugleichen. Um mich abzureagieren warf ich mein Handy mit einem lauten Knall gegen die gegenüberliegende Wand. Mit dem Knall kam gleich Ena angerannt. „Was ist denn los mein Kindchen?“, fragte sie gleich besorgt. „Nichts!“, schrie ich sie an. Stand auf, schnappte meinen Rucksack, rannte aus dem Zimmer, aus dem Haus, irgendwo hin. Ich versuchte vor allem wegzulaufen. Doch meine Vergangenheit holte mich mit jedem Schritt, den ich tat, immer mehr ein. Nachdem ich zwanzig Minuten, ohne einmal anzuhalten gerannt war, fand ich mich mitten auf dem Alexanderplatz wieder. Meine Tränen vermischten sich mit dem sinnflutartigen Regen. Ich war klitschnass, verzweifelt, wütend und zu tiefst traurig auf einmal. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich ging in den nächsten Laden, steuerte auf das Regal mit dem Hochprozentigen zu. Nam mir irgendeine Flasche, knibbelte das Etikett ab, schmiss es ins Regal, steckte die Flasche unbemerkt in den Rucksack und ging ganz normal aus dem Geschäft. Ich setzte mich im Regen an den Brunnen, holte die Flasche aus meinem Rucksack, machte sie auf und trank einen Schluck. Heulte. Trank wieder. Heulte. Immer abwechselnd. Ich machte es so lange, bis die Flasche leer war. Ich stellte sie neben mich, legte den Kopf in den Schoß und heulte weiter. Eine Hand berührte meine rechte Schulter. Ich schaute auf, sah in ein Gesicht, dass von einer schwarzen Basballkappe halb verdeckt wurde. „Was ist denn los Süße?“, fragte eine männliche Stimme besorgt. Ich erkannte den Jungen trotz Alkoholeinfluss. Es war Jake. „Nichts!“, nuschelte ich. Ich konnte nicht mehr in klaren Worten sprechen. „Doch es ist was. Erzähl doch!“, bohrte Jake weiter. „Meine Mom hatte einen Nervenzusammenbruch ist jetzt in psychiatrischer Behandlung und alles nur wegen mir und meinem Dad.“, schluchzte ich. „Was hat denn dein Dad gemacht?“, wollte er unbedingt wissen. „Er hat sie geschlagen, immer und immer wieder, weil er meinte, dass sie bei meiner Erziehung versagt hätte und, dass sie schuld ist, dass ich weggelaufen bin. Aber das stimmt nicht. Ich bin wegen Dad weggelaufen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, dass er Mom so runtergemacht hat, aber es war ein großer Fehler, denn es hat alles noch Schlimmer gemacht!“, platzte es aus mir heraus . Jake fehlten die Worte. Er nahm mich einfach nur in den Arm, ganz fest, so als wäre er mein Bruder. „Aber du hilfst deiner Mutter doch nicht, wenn du dich hierhin setzt und dir `ne Flasche Wodka in deinen hübschen Kopf haust.“ Er hatte Recht, helfen würde ich Mom nicht damit, aber es tat mir gut. „Komm ich zeig dir jetzt einen Ort, wo Menschen wie du sind, die das gleiche durchmachen oder durchgemacht haben. Sie werden dich verstehen. Wir fuhren mit der S- Bahn fünf Stationen. Dann liefen wir noch 10 Minuten zu Fuß, bis wir an einer alten Lagerhalle ankamen. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen, doch der Himmel war immer noch verhangen. Aus der Lagerhalle war Musik zu hören. Keine Partymusik wie auf Mallorca, sondern etwas düsterere und trauriger. Die Tür knarrte als Jake sie aufdrückte mich bei der Hand nahm und mich mit hineinzog. Im Inneren war es düster. Es gab kein Licht, sondern nur Kerzenständer, aber davon reichlich. Viele junge Leute saßen in Kleingruppen auf dem Boden. Mädchen und Jungen gemischt. Eins hatten sie alle gemeinsam. Sie waren durchgehen schwarz gekleidet und dunkel geschminkt. Auch die Jungen, nur nicht so stark wie die Mädchen. Einige hatten Schnittwunden an den Armen, andere waren tätowiert oder an Lippen, Nase oder Augenbrauen gepierct. Jake steuerte zielsicher auf eine Gruppe zu. Die Jugendlichen saßen im Kreis und malten irgendwelche Bilder mit dunklen Sprüchen. Die meisten waren über Tod und Verzweiflung. Jake und ich setzen uns dazu. Er flüsterte mit einem der Jungen, bedankte sich, stand auf und verschwand einfach ohne Tschüss zu sagen. Ich wollte ihm hinterher laufen, doch ich wurde von dem Typen festgehalten mit dem Jake eben geredet hat. Ich blieb also in dem Kreis der „schwarzen“ sitzen. Ein Mädchen musterte mich, stand auf, kam auf mich zu, nahm mich bei der Hand zog mich hoch. Sie ging mit mir in einen Nebenraum. „Bist du Jakes Freundin?“, fragte sie mich giftig. „Nein. Wir sind einfach nur befreundet“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Dann ist ja alles okay“, sagte sie mir. „Ich heiße übrigens Shanell.“ „Hi, ich bin Liz.“ „Warum bist du hier?“, fragte mich Shanell. „Jake erzählte mir, dass man hier her kommen kann, wenn man Probleme hat und, dass ihr teilweise das gleiche mitgemacht habt wie ich.“ „Kommt drauf an, was du durchgemacht hast“, sagte Shanell. Wir gingen zurück in den Kreis, Shanell setze sich neben mich. „Das ist Liz unsere Neue“, stellte sie mich in der Runde vor. „Hi Liz, herzlich Willkommen in unserer Szene“, sagten die andern im Chor. Ich fühlte mich wie in einer Selbsthilfegruppe. Irgendwie war diese Gemeinschaft auch ein bisschen so. Wir redeten über unsere Probleme. Dann fragten sie mich, warum ich hier sei. Ich fühlte mich wohl in ihrem Kreis und erzählte von Mom und Dad, von der psychiatrischen Behandlung, in der Mom sich zurzeit befand. Dann erzählte ich noch von meiner Flucht von Kelly und Arvin. Auch von Arvin´s Drogenvergangenheit. Die anderen verstanden mich, nahmen mich in den Arm. Ich mochte ihren Style, diese schwarzen, langen, toupierten Haare, die Klamotten. Ich verabredete mich mit Shanell für morgen zum Klamottenkauf und zum Friseur wollten wir auch gehen. Ich verabschiedete mich und ging. Es war schon 10 Uhr, wenn bis ich zu Hause war, war es bereits halb elf.
Zu Hause angekommen, legte ich mich einfach ins Bett. Ob Mom wohl ihr Handy dabei hatte? Dann fiel mir ein, dass ich mein Handy am Morgen zersäbelt hatte, weil ich so verdammt sauer auf Dad gewesen war. Ich schob den Gedanken Mom anzurufen also beiseite und schlief ein. Am nächsten Tag zog ich mit Shanell um die Häuser. Wir gingen in ihr Lieblingsgeschäft und hüllten mich in tiefes, vergessenes Schwarz. Kauften noch kleine Haarspangen mit Schleifchen und Handstulpen. Außerdem noch Schuhe mit Absatz. Dann gingen wir beide zum Friseur. Shanell wollte sich pinke Strähnchen und ich mir meine blonden Barbiehaare schwarz färben lassen. Nachdem wir drei Stunden dort verbracht hatten, waren wir überglücklich. Sie kam noch mit zu mir. Wir tranken Tee auf dem Balkon. Shanell erzählte von sich und wie sie in diese Szene gekommen war. Heute Mittag hatte ich mir eine ganze Flasche Wodka in den Kopf gekippt, da ich aber viel an der frischen Luft war, habe ich keine Schäden davongetragen. Ich bin schon an Alkohol gewöhnt. Ich hatte mit 13 angefangen zu trinken. Ich wollte meinen Kummer und den weltumfassenden, grauenhaften Schmerz, der in mir herrschte ertränken. Es gelang mir immer erstaunlich gut. Als Shanell und ich unseren Tee ausgetrunken hatten, verschwanden wir im Bad um uns für das Treffen heute Abend fertig zu machen. Nach einer Stunde brachen wir dann zu unserem Treffen auf. Dort angekommen setzen wir uns in unseren Kreis. Alle waren hin und weg von meinem neuen Aussehen. Die Jungs machten mir Komplimente, die Mädchen fragten mich bei welchem Friseur ich gewesen wäre und in welchem Klamottenladen ich die Sachen gekauft hätte. Ich erzählte es ihnen. Inzwischen ist die Szene mein drittes zu Hause. Melx, der Junge mit dem Jake geredet hatte kam mit einem Tablett. Darauf lagen kleine Tütchen mit weißem Pulver. Kein Zucker, kein Mehl, sondern Drogen. Ich hatte noch nie in meinem Leben Drogen genommen. Doch die Anderen nahmen sie auch. Melx drückte mir ein Päckchen in die Hand. „Hier, das ist das Tor zur Freude!“, sagte er mir. Ich war mir nicht sicher, ob ich es wirklich einnehmen sollte. Entschied mich dagegen und steckte es in meine Jackentasche. Alle andern nahmen es. Nach wenigen Minuten war die Stimmung von tiefer Trauer auf Partylaune umgeschlagen. Ich fühlte mich unwohl und ging lieber. Ich fuhr mit der S-Bahn zum Alexanderplatz. Ich sah einen Jungen und ein Mädchen, die sich fest umschlungen küssen. Der Junge hatte viel Ähnlichkeit mit Jake, aber er hat keine Freundin. Ich schaute noch einmal. Trat dafür ein paar Meter näher heran. Es war wirklich Jake. Er war nicht mein Freund, trotzdem tat es weh. Tränen stiegen mir in die Augen. Das Paar löste sich. Jake sah über die Schulter des Mädchens direkt in meine Augen. Ich wollte nicht, dass er sah, dass ich weinte. Ich drehte mich blitzschnell um, rannte so schnell mich meine trugen, davon. Ich hörte Jakes Stimme, schnelle Schritte hinter mir. Ich versuchte noch schneller zu laufen, doch ich konnte nicht. Dann spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. „Was ist denn los?“, fragte mich Jake. „Du hättest mir ruhig sagen können, dass du eine Freundin hast“, schrie ich ihn an. „Hast du dir etwa Hoffnungen gemacht, dass wir zusammenkommen?“ „Ja das habe ich, ich habe mich nämlich in dich verliebt, doch du bist es echt nicht wert Jake. Lass mich einfach nur in Ruhe!“, brüllte ich und lief mit tränenverschleierten Augen davon. Nach Sunden des sinnlosen Herumirrens ließ ich mich an einer Hauswand auf den Boden sinken und heulte einfach. Mir fiel das Päckchen in meiner Jackentasche ein. Ich zog es heraus, ließ mir das Pulver auf die Hand laufen und leckte es mit der Zunge auf. Es schmeckte erst salzig, dann süß. Nach wenigen Minuten war mir alles egal, ich war einfach überglücklich, lachte andere Leute an und fühlte mich einfach super. Nach 3 Stunden war dieser Rausch von Glück vorbei und ich fiel zurück in meine Traurigkeit. Ich ging nach Hause und fand einen Zettel von Ena. Sie war zu einer Freundin gefahren und würde erst in zwei Tagen zurück sein. Ich machte mir ein Brot und fing an ihre Schränke zu durchsuchen. Ich fand eine halbvolle Flasche Whisky, die ich bis zum letzen Tropfen leerte. Jetzt war der Rausch von Glück und Freiheit wieder da. Es ging mir gut. Mir war egal, wie lange er halten würde. Hauptsache mir würde es jetzt gut gehen. Ich hatte schon früh gelernt, dass das Leben eine Qual und keine Belohnung ist. Es klingelte an der Tür. Ich betätigte die Gegensprechanlage. „Wer ist da?“, säuselte ich. „Jake. Wir müssen reden.“ Ich drückte auf den Summer und öffnete die Wohnungstür. Nach fünf Minuten stand Jake davor. „Komm rein“, befahl ich ihm. Er folgte mir auf den Balkon. „Hast du getrunken?“, fragte er. Ich hatte nicht daran gedacht, die Flasche zu verstecken, doch im Prinzip ging es ihn auch nicht an, was ich machte. Ich sagte daher: „ Ein bisschen, aber es geht dich nichts an!“ „Es geht mich sehr wohl etwas an, wenn ein Mädchen, dass mir sehr viel bedeutet sich betrinkt!“, sagte er mir und sah mir fest in die Augen. „Seit wann bedeute ich dir denn etwas?“, fragte ich ihn. „Eben hast du mir doch noch gesagt, dass ich mir keine Hoffnungen machen sollte.“ „Das stimmt zwar, aber ich hatte es nicht so gemeint. Mir ist es eben erst bewusst geworden, dass ich DICH liebe und nicht Stella.“ Ich wusste nicht ob ich ihm glauben konnte und guckte ihn daher giftig an. „Soll ich es dir beweisen?“, fragte er mich. Ehe ich etwas sagen konnte, presste er mir seine Lippen auf meine. Ich ließ es über mich ergehen. Plötzlich wurde mir schwindelig und ich brach zusammen.
Ich fand mich in einem großen, weißen sterilen Raum wieder. Mein Arm hing an einem Tropf. Meine linke Hand wurde festgehalten. Ich öffnete die Augen und schaute in Jakes Gesicht. Er lächelte. „Hallo Süße.“, begrüßte er mich. „Was ist denn passiert?“, fragte ich ihn, weil ich einen Filmriss hatte. „Du bist zusammengebrochen. In deinem Blut wurde außerdem noch Rückstände von Drogen und Alkohol gefunden. Sie haben dir den Magen ausgepumpt und jetzt behalten sie dich noch zwei Tage zur Beobachtung hier.“ „Das geht nicht, heute Abend muss ich wieder zum Treffen. Ich muss hier weg.“ „Du bleibst schön hier“, sagte Jake wie mein Vater, Ich wurde sauer und zickte ihn an, dass er nicht mein Vater sei und dass er mich tief verletzt hatte mit der Geschichte mit Stella. „Geh jetzt besser“, gab ich ihm zu verstehen. Er ging ohne Tschüss zu sagen. Er tat mir Leid, also rief ich ihm hinterher. „Es tut mir leid Jake ich liebe dich. Ich brauche dich doch. Bitte bleib.“ Die Tür ging wieder auf, er kam herein und küsste mich so liebevoll, als wären wir schon eine Ewigkeit zusammen. Wie geht’s dir eigentlich?“, wollte Jake wissen. „Den Umständen entsprechend gut, ich würde nur gerne wissen wie es meiner Mom geht, doch ich hab mein Handy zersäbelt und die Nummer von der Psychiatrie nicht.“ „Ich geh´ die Schwester mal nach ´nem Telefonbuch fragen.“, sagte Jake und schlurfte ab. Er ist wirklich ein Schatz und er tut meinem Herzen gut. Nach 10 Minuten kam Jake mit einem Zettel in der Hand zurück. Er hatte tatsächlich die Nummer der Klinik besorgt. Ich wählte die Nummer. Das Freizeichen ertönte. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine junge Frau. Ich erzählte ihr wen ich sprechen möchte und fragte ob es möglich sei Mom zu sprechen. Es war tatsächlich möglich. Sie leitete meinen Anruf weiter.
„Hallo hier ist Madita Quntrex“, sagte sie. Sie hörte sich traurig und krank an.
„Mom“, platze es aus mir heraus. „Liz? bist du es wirklich?", fragte sie ungläubig. „Ja Mom ich bin es wirklich, es ist so schön deine Stimme zu hören.“ „Mein Kleines wo steckst du bloß? Ich kann dich nicht erreichen, ist dein Akku leer?“ „Nein Mom, mein Handy ist kaputt, ich bin in Berlin im Krankenhaus, es ist aber alles in Ordnung. Kann ich dich besuchen kommen?“ „Ich werde meine Ärztin und meine Betreuer fragen, ob es geht. Wie kann ich dich denn erreichen und wo wohnst du eigentlich?“, fragte sie mich. Ich sagte ihr, dass ich ihr alles in Ruhe erzählen würde und gab ihr die Festnetznummer von Ena. Dann legte sie auf. Es war schön ihre Stimme zu hören, auch wenn sie sich krank und schwach anhörte, doch ich wusste, dass es ihr gut geht. Trotzdem würde ich nicht nach Hause zurückkehren. Mom war in guten Händen. Dad wohnte jetzt alleine in unserem schönen Haus, vielleicht hatte er auch schon eine neue Frau, die er schikanieren konnte, aber es war mir auch egal, was er machte. Hauptsache er würde Mom nicht mehr wehtun. Ich legte das Telefon zur Seite und rückte ein Stück zur Seite, damit Jake sich neben mich legen konnte. Er legte seinen Arm um meine Schulter und ich lehnte meinen Kopf an seine. Es war schön, wenn man so einen Rückhalt hatte, an den man sich anlehnen konnte, wenn es einem schlecht ginge. Ich war froh ihn zu haben. Nach zwei Tagen war ich wieder aus dem Krankenhaus raus. Ich musste mir von Ena eine Standpauke und die Folgen von der Drogeneinnahme anhören. Außerdem musste ich versprechen die Finger von Drogen zu lassen. Ich versprach es, wusste aber nicht, ob ich dieses Versprechen einhalten konnte. Von den Leuten aus der Szene hielt ich mich aber dennoch nicht fern. Ich ging weiterhin zu den Treffen, traf mich mit Shanell in der Stadt, ging schoppen oder wir saßen einfach nur irgendwo herum und schauten die „normalen“ Leute an, die einkauften, schoppten oder arbeiten gingen. Shanell und ich waren inzwischen unzertrennlich. Ein neues Handy besaß ich auch schon, denn ich hatte mein Sparbuch geplündert. Ich wählte Arvin’s Nummer, doch es ging niemand ran. Deshalb rief ich Kelly an um mich zu erkundigen, was mit Arvin war, denn eigentlich ging er immer an sei Handy, wenn ich anrief. Kelly war zu erreichen, sprach aber sehr leise und mit verheulter Stimme. „Kelly, was ist denn los?“, fragte ich besorgt. „Und warum geht Arvin nicht an sein Handy?“ „Er kann nicht an sein Handy gehen“, schluchzte sie. „Er ist rückfällig geworden mit seinen scheiß Drogen und liegt jetzt im künstlichen Koma“, brach ihr ganzer innere Schmerz aus ihr heraus. „Was?“, fragte ich fassungslos. Ich merkte wie Tränen bereits meine Wangen zeichneten. „Aber, warum?“ „Seine Oma ist gestorben, die die er so aus tiefsten Herzen geliebt hat.“ „Oma Hilde?“, fragte ich nach. „Ja, Arvin war so traurig, dass er sich wieder in die Drogenwelt flüchtete. Ich habe ihn dabei erwischt, wie er sich das Zeug eingeschüttet hat. Ich habe ihm die Tüte aus der Hand gerissen. Da ist er völlig ausgerastet. Er fing an mich anzuschreien er hat mich sogar geschlagen. Er wusste überhaupt nicht mehr wer ich bin oder wer Carlotta ist. Dann ist er zusammengebrochen. Ich hab den Krankenwagen gerufen. Er wurde sofort künstlich beatmet noch bei ihm zu Hause. Ich hab so Angst um ihn. Carlotta und ich sind immer abwechselnd stundenweise bei ihm, damit er nicht alleine ist, falls er aufwacht, doch die Chancen stehen schlecht. Er würde sich freuen, wenn du kommst, ihn besuchst und mit ihm redest, da bin ich mir ganz sicher.“ Ich werde alles versuchen um zu euch zu kommen“, versprach ich ihr unter Tränen. Dann legt sie auf. Ich brach an der Schulter von Shanell weinend zusammen. Sie gab mir ein Päckchen mit Pulver. Drogen. Das Zeug, warum Arvin jetzt im Koma lag, vielleicht wegen diesem Teufelszeug sterben musste. Doch es hatte mir das letzte Mal geholfen. Ich nahm es, riss es auf, schüttete mir alles in den Mund, schluckte es hinunter. Nach wenigen Minuten ging es mir so gut wie schon lange nicht mehr. Ich lachte, verdrehte die Augen tanze auf der Straße. Shanell nahm mich an die Hand. Wir gingen zu unserer Lagerhalle, wo die andern waren, die uns bzw. mich in diesem Moment verstanden. Ich saß im Kreis Melx gegenüber. Er guckte mich an, lächelte, sagte etwas zu mir, was ich aber nicht verstand. Ich starrte in die Leere, sah bunte Kreise an der Wand. Ich stand auf und versuchte sie einzufangen. Immer wenn ich näher an die Wand herantrat verschwanden die Kreise und wenn ich weiter weg ging, waren sie plötzlich wieder da. Ich gab auf, ging zurück zu meinem Platz. Mit jedem Schritt, den ich tat, drehte sich die Welt. Mal links herum, mal rechts herum. Dann kippte alles. Als ich den harten Boden spürte wusste ich, dass nicht die Welt sich gekippt hatte, sondern dass ich umgefallen war. Ich fand es anscheinend sehr lustig. Ich lachte. Ich wusste nicht worüber, aber ich lachte. „Was hast du ihr bitte gegeben?“, fragte Melx Shanell. „Die dreht ja völlig am Rad.“ Die Antwort bekam ich nicht mit, denn ich musste mich weiter todlachen. Nachdem ich dort eine Weile auf dem Boden gelegen und mir die Seele aus dem Leib gelacht hatte, fassten zwei starke Arme um meinen dürren Körper. Jake. „Warum bist DU hier?“, murmelte ich. „Melx hat mich angerufen und mich hier her bestellt, weil meine Freundin am Rad dreht“, sagt er ein bisschen angesäuert. „Du hast Ena doch versprochen die Finger von Drogen zu lassen. Du kommst jetzt mit zu mir, denn Ena wird an die Decke gehen, wenn sie herausbekommt, das du schon wieder Drogen genommen hast.“ Da hatte er leider Recht und trug mich aus der Halle. „Ich kann auch alleine gehen“, versicherte ich ihm. Er stellte mich auf die Füße, hielt mich aber fest, als wäre ich ein kleines Kind, das gerade erst laufen lernt. Es war gut, dass er mich so fest hielt, denn meine Beine sackten zwischendurch einfach weg. Bei Jake angekommen legte er mich auf die Couch. Ich sah mich um, denn ich war noch nie bei Jake gewesen. Es war schön bei ihm. Nicht so schön wie bei Ena, doch die Einrichtung erinnerte mich an zu Hause, denn den gleichen Glastisch hatten wir auch zu Hause. Jake setzte sich zu mir, strich mir die schwarzen Haare aus dem Gesicht und küsste mich auf die Stirn. Ich machte die Augen zu, um meinen Rausch auszuschlafen. Kurze Zeit später befand ich mich schon im Land der Träume
Ich wurde von Schlüsselrasseln und Stimmen geweckt, doch ich ließ die Augen zu. „Wer ist das denn?“, fragte eine weibliche Stimme. „Das ist Liz, meine Freundin, habe ich dir doch erzählt, Mama“, sagte Jake. „Ich dachte sie wäre blond und nicht so eine Gruftibraut!“, sagte Jakes Mom zu ihm. „Hey, lass sie in Ruhe sie ist schwer in Ordnung, ich sag auch nichts zu deinen Mackern, wenn du wieder einmal einen nach Hause mitschleppst.“, wurde Jake langsam sauer. Ich rekelte mich ein bisschen auf der Couch und schlug die Augen auf. Zum Glück war ich inzwischen nüchtern und nicht mehr unnatürlich von Drogen aufgepusht. Ich stand auf. „Wo ist denn euer Badezimmer?“, fragte ich Jake. „Zweite Tür links“, sagte er und drückte mir demonstrativ einen Kuss auf den Mund. Seine Mutter starrte mich an, als wäre ich von einem anderen Planeten. Ich ging den kleinen Flur entlang und verschwand im Bad, schloss die Tür lehnte mich von innen dagegen und lies mich auf den Boden gleiten und lauschte. „Kannst du es bitte lassen meine Freundin mit solchen Giftblicken zu mustern? Sie ist wirklich toll. Du kennst Liz gar nicht und willst sofort über sie urteilen“ meckerte er seine Mutter an. „Liebling, guck sie dir doch mal an. Diese schwarzen Lippen, diese dunkel geschminkten Augen, das blasse Gesicht, die pechschwarzen Haare. Sie sieht aus, als wäre sie aus einem Gruselfilm entsprungen. Das ist doch nun wirklich kein Umgang für dich“, redete sie ihrem Sohn ein. Ich drehte den Wasserhahn auf, wusch mir die Hände und trat dann aus dem Badezimmer. Zack, schonwieder so ein eiskalter Blick von Jakes Mutter. Ich ging zu ihr hin, streckte die Hand aus. „Hallo, ich bin Liz.“, sagte ich so freundlich wie möglich. Ich versuchte zu lächeln, doch ich scheiterte, weil meine Seele nicht lächeln konnte. „Hallo“, sagte sie und ignorierte meine ausgetreckte Hand. Sehr nett von ihr. „Blöde Zicke“, dachte ich. „Komm ich zeig dir mein Zimmer“, brach Jake die Begegnung zwischen mir und seiner Mom ab. Er nahm mich bei der Hand, zog mich hinter sich her, ins obere Stockwerk des Hauses. Sein Zimmer war groß. Sehr groß. Fast das doppelte meines Zimmers zu Hause. Ich ließ mich auf die einladende schwarze Ledercouch in der hinteren Ecke des Zimmers fallen. Sie war kalt, so kalt wie Jakes Mom eben gewesen war. „Sorry wegen meiner Mom“, entschuldigte er sich. „Sie ist nicht immer so, aber sie hat etwas gegen die Szene. Ich war auch mal darin und sie hat schlechte Erfahrungen mit meinen ehemaligen Freunden gemacht. Sie traut den Leuten aus diesem, wie sie es ausdrückt „schwarzen Kreis der Teufelsanbetung“ nicht.“ „Wir beten gar nicht den Teufel an. “Wir verkörpern nur durch unser Aussehen, was unsere Seelen fühlen. Wir sind nicht wie andere Menschen, das stimmt, aber wir sind genauso aus Fleisch und Blut wie sie.“, hielt ich ihm einen überflüssigen Vortrag. „Sag das nicht mir, sonder meiner Mom“, erwiderte er prompt. „Hast du dich wegen deiner Mom und ihrer Einstellung immer in der Stadt oder bei mir getroffen?“, fragte ich nach, obwohl ich die Antwort bereits wusste. „Ja“, bestätigte er mir. „Ich wollte dich vor meiner Mutter und ihrer Einstellung schützen. Ich habe ihr erzählt, dass du blond bist und zu der Zeit, warst du es auch noch. Außerdem noch, dass du nett und verständnisvoll bist, bist du jetzt immer noch, nicht das du jetzt denkst, dass es nicht mehr so ist.“ Ich merkte wie seine Sätze immer länger und komplizierter wurden und er nicht genau wusste, wie er seine Gefühle ausdrücken sollte. Ich küsste ihn einfach, damit er seinen Mund sinnvoll einsetzen konnte und keine Opern zu quatschen brauchte. „Deine Mom ist speziell, aber dir zur liebe kann ich, wenn ich dich besuche mich etwas anders stylen, wenn dir das lieber ist“, versuchte ich einen Kompromiss einzugehen. „Nein!“, sagte er sehr energisch. „Mom muss damit klar kommen, dass ich mit dir zusammen bin und wie du aussiehst. Entweder sie akzeptiert dich so wie du bist, oder sie ist dagegen. Ich, mach ihr das schon klar, dass sie ihren Hass auf die Szene nicht an dir auslassen soll. Das verspreche ich dir.“, sagte er streng. „Danke, du bist echt süß Jake.“, flüsterte ich ihm ins Ohr. „Ich muss jetzt aber wirklich gehen, tut mir Leid. Ena macht sich bestimmt schon große Sorgen.“ Wir gingen wieder hinunter. Er nahm meine Hand, brachte mich zur Tür, machte sie auf, gab mir einen Abschiedskuss und schloss sie hinter mir wieder. Er stand noch lange am Fenster und sah mir zu, wie ich in großen Schritten die Straße hinunterlief.
Zu Hause angekommen, setze ich mich zu Ena an den Esstisch. „Wo warst du?“, wollte sie wissen. „Bei Jake zu Hause“, antwortete ich. „Dann ist ja gut. Ich dachte du wärst wieder in dieser schrecklichen von Drogen verseuchten Lagerhalle bei deinen Artgenossen in schwarz.“ Ich war fassungslos. Sie hatte noch nie etwas so abwertendes gesagt wie gerade. Ihr war es egal gewesen mit welchen Leuten ich wo und wie lange abhing. Hauptsache ich war um 10 Uhr zu Hause und wenn es später war als 10 Uhr, war sie froh, wenn ich von einem Jungen nach Hause gebracht werden würde. Aber seit der Drogengeschichte war sie anders geworden. Sie rief mich jetzt zwischendurch auf dem Handy an. Sie hatte in der ganzen Zeit, nicht einen Kontrollanruf getätigt, doch jetzt war es schon zur Gewohnheit geworden. „Nein ich war bei Jake!“, gab ich ihr zu verstehen. „Und jetzt gehe ich ins Bett, wenn ich darf, denn morgen fahre ich zu meiner Mom in die Klinik und besuche sie. Du kannst ja mitkommen, wenn du willst oder du lässt es bleiben. Gute Nacht!“ Ich verschwand aus dem Wohnzimmer und machte meine Zimmertür etwas lauter zu als gewöhnlich, legte mich ins Bett und tippte noch eine SMS an Jake. Dann schlief mit dem Gedanken an ihn ein.
Der nächste Morgen begann für mich bereits um sechs Uhr. Ich stand auf, zog die Gardine auf und starrte in den noch dunklen Himmel. Ein Flugzeug blinkte am Horizont, doch die Wolken am Himmel versprachen, dass heute ein schöner Tag werden würde. Ich löste meinen Blick und schlenderte Richtung Badezimmer. Das war aber bereits besetzt, denn Ena empfing mich mit einem Guten- Morgen- hast- du- gut- geschlafen- Lächeln. Sie hatte die Zahnbürste im Mund, deshalb sah ihr Lächeln sehr lustig aus, ich grinste, also was man bei mir als Grinsen bezeichnen konnte. Ich setzte mich auf den Badewannenrand und schaute Ena zu, wie sie ihre weißen strahlenden, wie aus der Zahnpastawerbung blitzenden Zähne schrubbte. Ich schnappte mir ebenfalls meine Zahnbürste und setzte mich wieder auf den Rand der Badewanne. Ena war fertig im Bad und ich hatte deswegen das ganze Waschbecken zur freien Verfügung. Ich putze mir die Zähne fertig, wusch mein Gesicht, schminkte mich dezent, so wie meine Mom es von mir gewohnt war, bürstete meine langen, jetzt schwarzen Haare und band sie zu einem über die rechte Schulter fallenden Zopf zusammen. Danach schlurfte ich zurück in mein Zimmer und zog mir meine Klamotten, mit denen ich abgehauen war an. Rosafarbendes Top, dunkelblaue Hotpants und rosa Chucks. Ena hatte in der Zeit Frühstück gemacht und uns Brote für die Fahrt geschmiert. Ich packte sie in meine Umhängetasche, dazu noch eine Flasche Wasser, ein Foto von Shanell und eins von Jake, die wollte ich Mom zeigen. Nach dem Frühstück brachen Ena und ich zum Bahnhof auf. Wir hatten vor ein paar Tage in meiner alten Heimat zu verbringen. Nach drei Stunden Zugfahrt war ich wieder am Ausgangspunkt meiner Flucht. Jetzt aber mit andern Absichten. Ena und ich stiegen in ein Taxi sie ließ sich zum Hotel fahren und ich zur der psychiatrischen Klinik. Dort angekommen musste ich meine Tasche abgeben, wurde durchleuchtet und musste alle scharfen Gegenstände ablegen. Danach führte man mich in einen Aufenthaltsraum, indem viele Frauen und auch Männer saßen. Meine Mom saß alleine in einer Ecke mit dem Gesicht zum Fenster. Ich ging zu ihr, stellte mich hinter sie und legte meine Hand auf ihre Schulter. Mein Gesicht wurde in der Fensterscheibe gespiegelt. Meine Mom drehte sich um. Ein Lächeln zeichnete ihr trauriges, eingefallenes Gesicht. Sie hatte abgenommen, ihre Wangenknochen traten deutlich hervor. Sie sah schrecklich aus. Was EIN Mensch einem antun konnte, wenn er zu weit ginge. Beängstigend. Sie stand auf und nahm mich in den Arm. Ich spürte, dass sie froh war mich wieder zu haben. Ich spürte auch, dass sie weinte, dass sie in diesem Moment alles losließ, wie eine schwere Last von ihrem Herzen fiel und sie erleichtert aufatmete. Mom löste ihre Umarmung und sah mich mit einem glücklichen Blick an. Ihre Augen strahlten und ihr Lächeln war wunderschön. Wir setzten uns in zwei Sessel. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, in dem ich ihr erzählen musste, warum ich abgehauen war. Ich fing in der Vergangenheit an, dass ich mitbekommen hatte, wie sie geschlagen wurde. Sie war schockiert, brach in Tränen aus. „Ich wollte nicht, dass es dich dein ganzes Leben lang belastet. Ich wusste auch nicht, dass du es mitbekommen hast. Rene´ hat mich oft geschlagen“, erzählte sie mir. Sie sagte schon lange nicht mehr „mein Mann“, oder „Dad“. Sie sprach ihn immer mit dem Vornamen an, so als seien sie Bekannte und keine Eheleute. Ich hatte mich daran gewöhnt und es akzeptiert, dass sie so etwas wie Freunde waren. Ich hätte daran auch nichts ändern wollen und meine Eltern wollten es auch nicht. Sie hatten sich damit abgefunden, dass die Liebe zwischen ihnen nicht mehr existierte, dass sie am Tiefpunkt angekommen waren, doch wahrhaben wollten sie es beide nicht. Mom wusste nicht genau, warum Dad so geworden war, doch sie meinte es sei das Alkoholproblem, dass er schon seit Jahren hatte. Doch es war noch nie so schlimm aufgetreten wie in diesem Jahr. Mom sah mich an, ihre Tränen zeichneten ihr Gesicht, sie sah mit jeder Träne schrecklicher aus. Ich wollte nicht das sie so leiden musste, deshalb nahm ich sei in den Arm, wie sie es früher mit mir immer gemacht hatte. Ich musste jetzt einfach für sie da sein. Ich hatte sie alleine gelassen, obwohl ich genau wusste, dass mein Vater sie schlug. Ich hatte sie alleine gelassen, obwohl ich genau wusste, dass der innere Schmerz sie zu Grunde gehen ließ, wenn ich an ihrer Seite fehlte. Ich wusste das alles ganz genau und trotzdem war ich fortgegangen. Es tat so weh in meinem Herzen. Mom hatte in der Zwischenzeit aufgehört zu weinen. „Warum hast du eigentlich deine schönen blonden Haare schwarz gefärbt?“, fragte sie direkt. Ich konnte ihr natürlich nichts von der Szene und dem Weltschmerz, den ich tief in meiner Seele versteckte erzählen. Ich sagte einfach: „Das Blond war mir zu langweilig geworden.“ Mom fragte nicht nach, sie akzeptierte einfach. Ich schaute aus dem Fenster und dachte an Arvin, der in diesen Minuten um sein Leben kämpfen musste. Mom bemerkte, dass mich etwas bedrückte. Sie sah mich von der Seite an. Ihr Blick bohrte sich bis in mein Herz hinein. Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich hasste es vor meiner Mom zu weinen, denn dann kam ich mir immer so schwach vor. Sie machte mir ein Zeichen, dass ich mich bei ihr auf den Schoß setzen sollte. Ich stand auf und setze mich auf ihre Beine. „Was ist denn los meine Große?“, fragte sie mich einfühlsam. Ich erzählte ihr von Arvin und seinem Rückfall, dass er jetzt im Krankenhaus im Koma lag und um sein Leben kämpfte. Alles brach einfach aus mir heraus und es tat verdammt gut, sich alles von der Seele zu reden. Mom hörte mir zu, nahm mich in den Arm und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich war froh, dass ich sie wiederhatte und, dass sie in diesem, von mir schwachen Moment für mich da war, dass sie mich einfach auffing. Ich merkte, wie sehr sie mir gefehlt hatte und wie froh ich war, dass ich sie hatte. Nachdem sie mich getröstet hatte, zeigte sie mir ihr Zimmer, das sie bewohnte. Es war sehr schick und es sah gar nicht aus wie ein Zimmer in der Psychiatrie. Ich dachte immer, dass die Zimmer steril und kalt sein, doch. das Zimmer von Mom hatte die gleiche Wandfarbe wie unser Wohnzimmer zu Hause. An der Wand hingen Fotos von ihr und mir. Dad fehlte. Sie bemerkte meinen fragen Blick und sagte: „Ich habe mich von deinem Vater getrennt. Das Trennungsjahr hat bereits vor zwei Wochen begonnen. Er ist ein abgeschlossenes Kapitel in meinem Leben. Du kannst ihn natürlich besuchen, wann immer du möchtest. Er wohnt in unserem alten Haus mit seiner neuen Freundin.“ „Ich möchte ihn gar nicht besuchen und ich möchte seine neue Flamme gar nicht kennenlernen. Ich bin froh, dass ihr euch getrennt habt. Jetzt kann unser neues Gewaltfreies Leben beginnen“, sagte ich zu ihr. Sie lächelte, nahm mich in den Arm und streichelte mir über den Kopf. Dann kam eine Betreuerin von Mom und sagte uns, dass die Besuchszeit leider zu Ende sei. Ich verabschiedete mich von Mom, versprach ihr wiederzukommen und ging. Der Weg bis zum Krankenhaus, indem Arvin lag war nicht weit. Ich ging zu Fuß dorthin, rief unterwegs Kelly an und sagte ihr, dass sie vor dem Haupteingang auf mich warten sollte. Ich erkannte sie schon von weiten. Meine Schritte wurden immer schneller und schneller, ich rannte und warf mich in ihre Arme. Wir waren so glücklich, dass wir uns endlich wiederhatten. Ich folgte ihr auf die Intensivstation. „Ich war heute schon bei ihm“, sagte Kelly leise. Ich bekam einen grünen Kittel und ging hinein. Arvin sah schrecklich aus. Das Atmen übernahmen Maschinen für ihn. Das Gerät gab regelmäßige Pieptöne von sich. Daran erkannte man, dass sein Herz noch nicht aufgehört hatte zu schlagen. Ich setzte mich auf den Stuhl neben seinem Bett und nahm seine Hand. „Ich bin bei dir, du brauchst keine Angst zu haben. Es wird alles wieder gut werden Arvin, das verspreche ich dir!“, sagte ich zu ihm. Ich wusste nicht ob er es mitbekam, dass ich da war. Ich wusste auch nicht, ob er meine Worte hörte oder die Wärme meiner Hand auf seiner spürte. Ich hatte es schon oft in Filmen gesehen, dass die Angehörigen mit ihren geliebten Menschen sprachen, ihnen Mut zusprachen oder einfach nur die Hände nahmen oder ihnen die Haare aus dem Gesicht strichen. Meine eine Hand, hielt Arvin’s, mit der freien Hand streichelte ich seine rechte Wange. Ich hatte keine Angst davor von zu Hause wegzulaufen, ich hatte keine Angst vor der Szene gehabt und keine Angst bei einer fremden Frau zu wohnen. Ich hatte noch nie wirkliche Angst in meinem Leben gehabt, doch jetzt hatte ich sie. Panische Angst davor, dass Arvin sterben könnte, dass er mich nie wieder aus seinen klaren grünen Augen anschauen würde, dass ich nie mehr seine warme Stimme hören könnte. Ich hatte das erste Mal in meinem Leben richtig Angst. Nach einer Stunde kam eine Krankenschwester und forderte mich auf zu gehen. Sie sagte mir, dass ich morgen wiederkommen könnte. Kelly war, nachdem ich bei Arvin im Zimmer war gegangen. Ich ging nun auch. Das Hotel, indem Ena und ich schliefen, lag eine gute Stunde Fußweg von der Klinik entfernt. Der schnellste Weg führte an meinem ehemaligen zu Hause entlang. Ich steckte mir die Kopfhörer meines iPods in die Ohren, drehte die Musik voll auf und ging im Takt der Musik die Straße hinunter, bog zweimal in die Seitenstraßen ab und fand mich schließlich vor dem Eingangstor meines alten zu Hause wieder. Ich wusste genau, wenn ich jetzt klingelte, würde mein Vater mir die Hölle heiß machen. Ich blickte zu unserem Küchenfenster und erschrak. Eine blonde junge Frau stand am Fenster und starrte mich an. Ich wandte den Blick ab und wollte losrennen, doch bevor ich es konnte wurde mirt Schwung die Haustür aufgerissen und mein Vater erschien im Türrahmen. Ich warf ihm einen giftigen Blick aus dem Augenwinkel zu und rannte einfach los. Mein Vater rannte mir ein paar Meter hinterher, doch ich hatte zum Glück eine Menge Vorsprung und somit einen Vorteil. Den restlichen Weg zum Hotel rannte ich, als wäre der leibhaftige Teufel hinter mir her. Völlig erschöpft kam ich vor dem Hotelzimmer von Ena und mir zum stehen. Ich klopfte. Die Tür wurde geöffnet und ich stürzte ins Zimmer und lies mich auf das Doppelbett fallen. „Kind, was ist denn passiert?“, fragte Ena besorgt. Ich erzählte von Arvin, wie schlecht es ihm ginge, dass seine Überlebenschancen nicht gut standen und von der Flucht vor meinem eigenen Vater. Sie hörte sich alles geduldig an und schwieg. Ich schaltete den Fernseher ein, um mich abzulenken und die Gedanken an Arvin und meinem Vater weit von mir weg zu schieben. Abends gingen Ena und ich in ein Lokal essen, denn wir hatten nur Halbpension gebucht. Wir saßen lange draußen auf der Terrasse. Wir redeten über alles Mögliche und sie erzählte mir, dass sie am nächsten Tag meine Mom besuchen wollte. Mom wusste ja wer sie war. Ich hatte ihr viel von Ena erzählt und Mom wollte sie kennenlernen. Um elf Uhr gingen wir dann zurück ins Hotel und fielen müde ins Bett.
Am nächsten Morgen wachte ich albtraumgeplagt auf. Ich konnte mich an den Traum nicht mehr ganz erinnern, doch ich wusste, dass er schrecklich gewesen war. Irgendwas mit Arvin und Tod. Es war beängstigend gewesen. Ich stand auf, machte mich zurecht und ging mit Ena frühstücken. Wir planten unseren Tag. Ena wollte meine Mom besuchen und ich wollte ins Krankenhaus zu Arvin. Ich machte mich also nach dem Frühstück auf zu meinem schweigendem Freund. Darüber macht man keine Witze, doch ich musste mich ablenken, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass er sterben könnte. Ich dachte den ganzen Weg vom Hotel bis zum Krankenhaus an die Vergangenheit, wo Arvin wieder clean und das Leben einfach besser war. Das Erlebte innerhalb meiner Familie blendete ich allerdings aus. Ich dachte nur an Kelly, Arvin und mich. Am Krankenhaus angekommen, ging ich sofort Richtung Intensivstation, zog den grünen Kittel an und setzte mich wieder auf den Stuhl neben Arvin‘s Bett. Ich nahm seine Hand, streichelte über seinen Kopf und weinte. Meine Tränen liefen mir die Wangen herunter und tropften auf Arvin’s Arm. Sie liefen einfach an seinem Arm herunter, ohne, dass eine Hand sie wegwischte. Leblos lag er in dem Bett. Wenn die Maschinen nicht bei jedem Herzschlag piepen würden, könnte man meinen, dass er schon lange von uns gegangen wäre. Er war steif, seine Lippen verzogen sich nicht, wie ich sie kannte zu einem Lächeln. Sie lagen einfach aufeinander, so als ob er nie wieder ein Wort reden wolle, doch er wird wieder aufwachen. Seine Augen waren fest geschlossen, so als ob er den ewigen Schlaf bereits angetreten hätte, doch er wird wieder aufwachen und mich aus seinen Augen angucken und sie werden leuchten, wie ich sie in Erinnerung habe. Inzwischen war ein ganzer Tränensee auf seinem Arm entstanden. Ich zog meine Strickjacke über die Hand und ließ den Stoff über die nasse Stelle gleiten. Dann schob ich sie wieder über meinen Ellenbogen. Es klopfte an der Tür und Carlotta kam herein. Sie ging auf die andere Seite des Bettes und drückte Arvin einen Kuss auf die Lippen. Wir redeten über den neuesten Tratsch und über alte Zeiten. Es tat gut, mit jemanden zu reden, der einen gut kannte. Man konnte nicht sagen, dass wir beste Freundinnen waren, aber Freundinnen, die sich viel erzählen konnten. Ich spürte, dass Carlotta gerne mit Arvin alleine sein wollte, darum verabschiedete ich mich und verließ das Krankenhaus. Ich rief Kelly an, damit wir uns in unserem alten Stammcafe treffen konnten, doch sie ging nicht ans Handy und zu Hause war sie auch nicht zu erreichen. Daher schlenderte ich alleine durch die verlassenen Gassen meiner alten Heimat, ging an meiner Grundschule und dem Gymnasium, das ich zuletzt besuchte vorbei. Die Gefühle, die ich dabei empfand waren gemischt. Bei der Grundschule waren es gute, beim Gymnasium eher schlechte Gefühle. Ich wollte meine Gefühlswelt nicht weiter durcheinander bringen, daher schlug ich die entgegengesetzte Richtung ein. Die zum Cafe. Dort angekommen ließ ich mich auf einen Stuhl am Fenster fallen, bestelle einen Kaffee und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Plötzlich fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter. Diese Hand gehörte Michel. Ein Junge, den ich noch nie leiden konnte. Er setzte sich einfach mir gegenüber. „Liz! Lange nicht gesehen!“, sagte er so gefühlskalt, dass sich meine Haare auf den Armen aufstellten. „Verpiss dich!“, raune ich ihn an. „Hey, hey. Bleib mal ruhig. Ich wollte doch nur ein bisschen mit dir quatschen, über alte Zeiten.“, sagte er und er konnte sein breites Grinsen nicht unterdrücken. „Ich will aber nicht mit dir quatschen und es gibt keine gemeinsame Vergangenheit.“, motzte ich ihn an. Dann stand ich auf, bezahlte und ging zurück zum Hotel. Ena war noch bei meiner Mom. Ich war froh alleine zu sein, denn ich wollte telefonieren. Ich wählte Jakes Nummer. Nach wenigen Sekunden war er am Telefon. Er meldete sich mit: „Hey Süße.“, doch es klang gespielt, so als ob ich ihm nicht mehr wichtig wäre. Ich erzählte ihm von Arvin’s Zustand und seiner geringen Überlebenschance. Jake sagte ein paarmal „Ja“ oder „Mhm“, er schien mit den Gedanken weit weg zu sein. Er hörte mir auch nicht richtig zu, schien abgelenkt. Ich hörte Stimmen im Hintergrund. Keine Jungenstimmen, sonder hohes, schrilles Gekreische und Gekicher. Er schien Mädchenbesuch zu haben, was ich nicht schlimm fand, denn ich hatte ja auch Jungs als Freunde, doch dieses Gefühl, dass immer da war, wenn er andere Mädchen ansah, ließ mich nicht kalt. Ich erzählte noch von der Flucht vor meinem Vaters, doch Jake hörte nun gar nicht mehr zu. Er würgte mich mitten im Satz mit einem: „Sorry, ich muss los“ ab und legte auf. Diese Situation fand ich eigenartig, nicht, dass ich eifersüchtig wäre, doch ich machte mir meine Gedanken darüber, was er jetzt wohl machen würde und wer diese Mädchen waren. Ich kannte so gut wie keinen seiner Freunde, nur Melx und dieses Mädchen, mit der er sich mal geküsst hatte. Sie kannte ich allerdings nur vom sehen. Vielleicht war sie es, mit der er sich in der Zeit, wo ich nicht mehr bei ihm war traf. Vielleicht war sie die Neue an seiner Seite. Ich verdrängte den Gedanken schnell, obwohl ich wusste, wie schnell Menschen ersetzbar sind. Die besten Beispiele dafür sind Mom und Dad. Dad hat Mom auch in kürzester Zeit ersetzt, aber ihr war es egal, weil es ihr ohne ihn besser ging. Aber mir würde es nicht egal sein, wenn Jake mich ersetzen würde. Ich kann nicht genau sagen, was ich dann machen würde, doch eins weiß ich, dass ich mir die Augen aus dem Kopf heulen würde. Ich legte das Handy beiseite, schaltete den Fernseher ein und guckte den Menschen bei RTL zu, wie sie sich gegenseitig beleidigen und anschreien, schalte aber nach wenigen Minuten doch aus, weil mich alles zu stark an mein früheres Leben erinnerte. Ich rollte mich auf dem Bett zusammen und vergrub mein Gesicht im Kissen. Durch das Umdrehen des Schlüssels im Schloss wachte ich auf. Ena kam herein. „Oh du hast geschlafen. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.“ „Nicht schlimm. Warst du bis jetzt bei meiner Mutter?“, frage ich ich. „Ja, wir haben uns sehr lange über dich und eure Situation unterhalten. Deine Mutter ist zurzeit stabil, doch nur eine unüberlegte Handlung könnte sie wieder zurück in ihre Ausgangssituation befördern. Deine Mom ist wirklich eine sehr, sehr starke Frau. Ich habe noch nie eine so starke und zugleich feinfühlige Person kennengelernt. Sie ist sehr stolz auf dich und versucht alles, nur um dir ein besseres Leben zu ermöglichen. Einen Neuanfang. Als sie deinen Abschiedsbrief gelesen hat war sie mit den Nerven völlig am Ende, denn sie hatte das Gefühl versagt zu haben. Den Brief hatte sie dabei. Ich habe ihn gelesen und selbst dabei geweint. Du hast das angesprochen, was deine Mutter jahrelang zu deinem Schutz verschwiegen hat. Du kannst wirklich froh sein, so eine liebe Mom zu haben.“ Ich schwieg, spürte einen Kloß im Hals, doch meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich nichts hätte sagen können. Ich merkte, wie meine Augen nass und mein Blick immer unschärfer wurde. Die Tränen flossen jetzt einfach aus meinen Augen heraus. Ich ließ es geschehen, denn Ena konnte ruhig sehen wie es mir ging. Ich weinte einfach den ganzen Schmerz aus meinem Inneren heraus, doch dieses befreiende Gefühl, dass meine Seele nun endlich all‘ die Last abgeworfen hatte blieb aus. Ich wischte mit meiner Hand die Tränen weg, stand auf, ging ins Bad wusch mir mein Gesicht, legte mich wieder ins Bett und schlief ein, obwohl es erst 20.00 Uhr war. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Schlechte Träume und eine Art Vision zwangen mich die Augen zu öffnen und nachzudenken. Ich holte das Foto von meiner Mom, Dad und mir und das Foto von Arvin Kelly und mir aus dem Rucksack. Ich riss bei dem Familienfoto Dad weg. Es gab jetzt nur noch Mom und mich. Dad war Geschichte. Das Foto mit Arvin und Kelly legte ich, nach langem Ansehen, unter mein Kopfkissen, schloss die Augen und schlief wieder ein.
Am nächsten Morgen beeilte ich mich mit frühstücken, denn ich wollte schnell zu Arvin. Nach dem Frühstück rannte ich so schnell, wie mich meine Beine trugen zum Krankenhaus. Ich war nicht die Einzige, die Arvin an diesem Tag besuchte. Heute vor sechs Wochen, so erzählte es mir Kelly, sei Arvin ins Koma gelegt worden und seitdem hatte sich sein Zustand nicht verbessert, sonder von Tag zu Tag verschlimmert. Ich bemerkte, dass Kelly einen Umschlag in der Hand hielt. „Was ist das?“, fragte ich sie und deutete auf ihn. „Arvin‘s letzte Worte an uns, falls er sterben sollte. Er hatte ihn lange vor seinem Rückfall geschrieben für den Notfall. Er sagte mir auch, wo er sie hinlegen würde, falls etwas mit ihm passieren würde.“ Ich war so geschockt, dass ich nichts sagen konnte. Ich beschloss den Brief, erst dann zu lesen, wenn er wirklich gestorben war. Er hätte sich es so gewünscht. Da war ich mir ganz sicher. Und Kelly dachte genauso wie ich, denn der weiße Umschlag in ihren Händen war ebenso fest verschlossen wie Arvin’s Augen. Wir nahmen jeder eine Hand, streichelten sie und erzählten ihm abwechselnd unsere neuesten Erlebnisse und unsere tiefsten Gedanken. Unsere Gefühle sprachen wir nicht aus, denn er hätte es nicht gewollt, dass es uns wegen ihm schlecht ging. Nach zwei Stunden verließen wir schweren Herzens das Krankenhaus und gingen in unser Stammcafé. Wir redeten über Allesmögliche. Zwischendurch schwiegen wir auch und jeder hing seinen Gedanken nach. Nachdem wir einige Zeit dort gesessen haben, stand ich auf und irrte durch die Straßen. Ich dachte darüber nach, was Arvin in den Brief geschrieben haben könnte und wie er daran denken konnte, dass er sterben würd. Wie er sich so sicher sein konnte. Dieser Gedanke an ein Leben ohne Arvin zerriss mich. Ich dachte schnell an Mom, doch sie hatte ihr Leben aufgegeben nur damit ich glücklich sein konnte, doch ich war nie glücklich in meinem Leben gewesen, denn ich konnte nie damit leben, dass Mom ihr Leben aufgegeben hatte und, dass sie alles hat über sich ergehen lassen, nur damit ich den Eindruck hatte, dass wir eine glückliche Familie wären. Sie hatte die ganze scheußliche Wahrheit verschwiegen, die ganzen Probleme mit Dad, die Schläge, genau wie Arvin mit seiner Drogenvergangenheit. Die Drogen waren sein größtes Problem in seinem Leben gewesen und die Leere in seinem Herzen, seit dem Tag als seine Oma starb, vor wenigen Wochen. Dann hatte ich noch ein Loch in sein Herz gerissen, weil ich weggelaufen war und ich ihm somit im Stich gelassen hatte. Kelly und Carlotta konnten seine Seele nicht heilen, deshalb griff er wieder zu den Drogen. Wie sagt man so schön: „Schweigen ist der lauteste Schrei.“ Und in diesen Fällen hat dieses Sprichwort recht. Mom und Arvin haben alles totgeschwiegen nur um ihre geliebten Menschen nicht zu belasten. Doch es bringt doch nichts, wenn sie am meisten darunter leiden, jetzt ums Überleben kämpfen oder in irgendeiner Klinik versuchen, all‘ das Geschehende zu verarbeiten. Es bringt nichts. Man muss offen über seine Probleme reden, doch man hat zu viel Angst vor der Wahrheit und davor, dass man, die geliebten Menschen verliert. Ich redete auch nicht über alles mit Mom, Ena, Kelly oder Jake. Ich wollte niemanden mit meinen Problemen belasten, obwohl ich genau wusste, dass sie immer für mich da wären und, dass ich mit ihnen über alles reden könnte, doch ich schluckte all‘ meine Sorgen und Ängste hinunter, denn ich wollte sie, wie schon gesagt, nicht belasten. Daher behalte ich alles für mich, was ich denke oder fühle. Ich kam an dem Platz vorbei, wo wir Arvin zum ersten Mal vollgepumpt mit Drogen aufgefunden haben. Ich setzte mich an die Stelle, wo er zusammengekauert lag. Ich holte den Brief aus meiner Tasche und hielt ihn gegen die Sonne, doch der Umschlag war zu dick, um die Wörter hindurch sehen zu können. Ich packte den Brief also wieder in meinem Rucksack, stand auf und rief die Klinik, in der meine Mom war, an. Ich bekam eine Besuchszeit und machte mich schon einmal auf den Weg zur Klinik. Eine halbe Stunde später saß ich meiner Mutter gegenüber, erzählte ihr von Arvin’s Zustand und von dem Brief. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Deshalb nahm sie mich nur in den Arm und tröstete mich. Wir gingen noch ein Stück in dem Klinikpark spazieren. Danach begleitete ich sie zu ihrem Zimmer, verabschiedete mich und ging ins Hotel. Dort suchte ich mit meinem Laptop nach günstigen Wohnungen für Mom und mich. Ich suchte in unserem Heimatort und in Berlin und Umgebung. Da ich nichts Gescheites fand, schaltete ich den Laptop aus und griff zum Handy. Ich schrieb Jake eine SMS.
Hi Schatz,
wie geht’s dir und was hast du heute den ganzen Tag gemacht?
Ich vermisse dich.
Deine Liz.
Kurze Zeit später summte mein Handy und das Display zeigte eine neue Nachricht an. Ich öffnete sie und las.
Hey Süße,
mir geht’s gut und ich habe heute nichts besonderes gemacht.
Ich vermisse dich auch.
Dein Jake.
Nichts Besonderes. Was ist denn bei ihm nichts Besonderes? Ich hab ein anderes Mädchen geküsst! Nichts Besonderes. Ich bin mit ihr zusammen. Auch nichts Besonderes!!!. Ich wusste nicht, warum ich mich so aufregte, doch es könnte an der Mädchenstimme, die ich am Telefon gehört hatte liegen. Aber würde Jake mich betrügen? ich glaubte nicht daran. Ich vergaß den Gedanken ganz schnell wieder. Ich nahm das Foto von mir und Mom aus der Nachtischschublade. Ich sah es eine Weile an und war froh, dass ich Dad weggerissen hatte. Ich ging hinunter in die Eingangshalle und setzte mich auf das Sofa vor dem Fenster. Ich schaute den Leuten den Leuten zu, wie sie ihre vollen Einkaufstaschen schleppten oder sich mit anderen unterhielten. Sie waren alle so verschieden, doch eins hatten all‘ die Menschen gemeinsam. Sie schienen glücklich und zufrieden mit ihrem Leben. Ganz anders als bei mir. Ich war noch nie glücklich gewesen. Alle meinen, dass die Welt gut ist und, dass es einen Zauber gibt, doch es gibt keinen. Die Trauer holt diese Welt ein, legt einen Schleier über sie. Einen dunklen, denn die Trauer ist wie ein Ozean. Sie ist tief, dunkel und viel größer, als wir uns je vorstellen können und der Schmerz, den es immer geben wird ist wie ein Dieb in der Nacht. Er ist hartnäckig, leise und gemein. So sieht unsere Welt aus. Sie enthält keinen Zauber, sie ist nur grausam. Unser Planet wird auch nie anders besser werden, weil wir ignorieren, wie kaputt er ist. Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken und wandte meinen Blick ab, weil ich das Glück der Menschen hinter der Scheibe nicht ertragen konnte. Ich stand vom Sofa auf und versuchte Ena zu erreichen. Sie meldete sich und wir verabredeten uns in einem Cafe´ in der Nähe. Zwanzig Minuten später dampfte eine Tasse Tee in meinen, und eine Tasse Kaffee in ihren Händen. Wir redeten darüber, wie es mit Mom, aber vor allem mit mir weitergehen sollte. „Möchtest du hier bleiben, oder zurück nach Berlin?“, fragte Ena. Ich hatte mir bis jetzt noch keine Gedanken darüber gemacht, doch, wenn Arvin wirklich sterben sollte, dann muss ich Kelly Halt geben. Halt, den ich selbst nicht haben werde, denn so ein schreckliche Ereignis würde mir den Boden unter den Füßen wegreißen. „Ich habe mir noch keine Gedanken darüber gemacht.“, antwortete ich zwischen zwei Schlucken Tee. Die Wärme durchströmte mein kaltes, zerbrochenes Herz. In einem Augenblick fühlte es sich heile und ganz an, doch im nächsten Augenblick zerbrach es wieder in tausend Teile und wurde zu Eis. Ich hatte vor Jahren eine dicke Mauer um mein Herz gezogen, damit es niemand verletzen konnte. Diese Mauer hatte noch nie jemand geschafft zu durchbrechen. Nicht Arvin, nicht Kelly, nicht Mom, Ena oder Dad. Noch nicht einmal Jake konnte dieser Mauer einreißen. Ich liebte ihn zwar, doch nie so intensiv, dass er ihr einen Riss verpassen konnte. Jake weiß nichts von dieser Mauer, die mein Herz beschützt. Eigentlich weiß er fast gar nichts über mich. In einigen Punkten ist es gut so in andern Punkten wieder nicht. Er weiß nicht ganz genau, was ich bereites in meinen frühen Lebensjahren durchleben musste, doch wieder so viel, dass er sich ein Bild von mir machen konnte. Ich bin für ihn ein Puzzel, indem noch viele Teile fehlen, bis es ganz komplett ist. Ich persönlich fühle mich wie der mittlere Teil eines Puzzles, denn in meinem Leben fehlt der Rand. Der Rand, der dem Puzzel Halt gibt, es komplett macht. Die vier Ecken sind in meinem Falle Mom, Kelly, Arvin und Ena. Jake und die Szene finden sich irgendwo im Mittelteil wieder. Sie sind Teil meines Lebens, doch nicht der Mittelpunkt. Ein Gefühl schlich sich immer tiefer in mein Herz herein. Das Gefühl von den vergangen Gefühlen für Jake. Wenn ich an ihn dachte war da nicht mehr das Kribbeln. Wenn ich jetzt an ihn dachte, waren da nur noch Stiche, die mit jedem Gedanken fester und fester wurden. Ich möchte ihn lieben und von ihm geliebt werden. Er war mir wichtig und ich wollte ihn nicht verlieren. Die Stiche gingen bestimmt wieder vorbei und dann war alles wie immer. Ja, sie waren nur Einbildung. Ich wand meinen Blick ab, stand auf und verließ das Cafe´. Ich ging in den nächsten Supermarkt, machte den billigsten Wodka im Regal aus, zückte meinen gefälschten Personalausweis und kaufte sie. Dann verzog ich mich auf den Spielplatz, auf dem ich früher als kleines Kind gespielt hatte. Jetzt war ich an den Ort meiner Kindheit zurückgekehrt, jetzt nicht mit Schaufel und Eimer sondern mit einem gebrochenem Herzen und einer Flasche Alk. Ich setze mich auf eine Schaukel, packte die Flasche aus und versuchte meinen inneren Schmerz zu ertränken. Ich trank ein Viertel der Flasche, doch es änderte sich nichts an meinem emotionalen Zustand. Daher packte ich sie wieder ein und wünschte mir jetzt bei meiner Clique zu sein und das weiße, pulvrige Zeug wieder auf meiner Zunge zu spüren. Doch leider war ich in dem Ort meiner schrecklichen Vergangenheit. Ich stand von der Schaukel auf und machte mich auf den Weg zu Arvin. Dort angekommen erschrak ich. Vor der Zimmertür standen seine Mom, sein Dad, seine kleine Schwester, sein großer Bruder und Kelly. Seine Mom und Kelly weinten, seine Schwester Clara schlang sich um die Beine ihres Vaters und sein Bruder Calvin saß auf einem Stuhl und hatte sein Gesicht in die Hände vergraben. Kelly kam auf mich zu und warf sich weinend in meine Arme. „Arvin, er, er…“, weiter kam sie nicht, denn ihr dünner Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Ihre Worte blieben ihr im Hals stecken, doch ich wusste genau, was sie hätte sagen wollen. Arvin‘s Zustand hatte sich verschlechtert. Ich wusste nicht, wie schlecht es um ihn stand, doch wenn die ganze Familie hier vor deiner Tür stand, musste etwas Schlimmes passiert sein. Kelly löste ihre Umarmung und ließ sich an der Wand hinunter auf den Boden gleiten. Ich blieb stehen, schloss die Augen und vor meinen inneren erschien Arvin’s strahlendes Gesicht. Erst jetzt wurde mir bewusst, was mit mir passieren könnte, wenn ich weitermachte mit den Drogen und dem Alkohol. Ich könnte so enden wie Arvin. Ich könnte jetzt an seiner Stelle in dem Bett liegen. An seiner Stelle an den Schläuchen hängen, die ihn am Leben hielten. Mein Herz müsste jetzt an Stelle seines Herzens kämpfen und meine Augen sollten geschlossen sein und keine Farben mehr sehen.
Wenn ich den Konsum von Drogen und Alkohol nicht reduziere, würde ich bald, in absehbarer Zeit im Koma liegen. Dann würde meine Familie für mich beten und Kelly und Arvin würden meine leblosen Hände halten und auf ein Lebenszeichen von mir hoffen. Vielleicht würde Jake aus Berlin kommen und sich Sorgen um mich machen. Er würde endlich wieder meine Hand nehmen und mich umarmen, auch wenn ich es nicht spüren würde. Doch würde ich es zulassen? Ich weiß es nicht. Es ist einfach zu viel passiert. Er hat sich bis jetzt nicht einmal gemeldet. Ich weiß nicht warum, doch es muss einen Grund dafür geben. Hat er mich vergessen? Liebt er mich nicht mehr, aber will es mir nicht sagen? Oder hat er vielleicht eine andere? Meine Gedanken wurden von dem behandelnden Arzt von Arvin unterbrochen. Während die Tür langsam ins Schloss fiel, konnte ich einen kurzen Blick auf ihn werfen. Er war blass, abgemagert und sah schwach aus, sehr schwach um genau zu sein. Er war an unzählige Schläuche angeschlossen. Ich konnte es kaum mit ansehen. Die Tür fiel ins Schloss und der Blick auf meinen besten Freund wurde mir verwehrt. Der Arzt trat auf Arvin’s Mutter zu. „Wie geht’s es ihm?“, fragte seine Mom unter Tränen. „Sein Zustand hat sich drastisch verschlechtert. Seine Atmung ist langsamer geworden und sein Puls ist auch schwach. Wir müssen sehen wie er die nächsten Tage und Nächte übersteht. Wenn Arvin die nächste Woche übersteht, dann ist er über’ n Berg.“, gab der Arzt sein Ergebnis bekannt. Arvin’s Mutter atmete auf. Nicht erleichtert, doch so viel, dass sich ein kleines Lächeln über ihre Lippen schob. „Darf ich zu ihm?“, hörte ich mich flüstern, denn meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich meine Frage nicht laut und deutlich stellen konnte. „Er ist noch sehr schwach, doch für eine Viertelstunde wird es schon gehen“, sagte der Arzt zu mir. Ich schaute seiner Mutter tief in die Augen. Als sie zustimmend nickte, ging ich, ohne etwas zu sagen an alles vorbei, umschloss die Klinke von Arvin’s Zimmertür fest und drückte sie herunter. Die Tür ging auf und ich trat lautlos ein. Arvin lag still und bewegungslos im Bett. Sein Gesicht war blass, sein Körper abgemagert. Bei seinem Anblick vereisten meine Adern. Ich stand bewegungslos mitten im Raum. Meinen Blick konnte ich nicht abwenden, ich starrte ihn an, einfach so, obwohl ich es nicht wollte. Ich wusste, dass Arvin es hasste, wenn man ihn anstarrte. Er hatte es immer gehasst. Wenn ich ihn anstarrte, kniff er mir früher immer ganz leicht in die Seite. Was würde ich jetzt dafür geben, dass er es wieder tat. Meine Starre löste sich allmählich und Leben kehrte in meinen Körper zurück. Ich ging auf Arvin’s Bett zu, zog den Stuhl heran, setzte mich und legte seine Hand in meine. Ich drückte sie leicht, doch es kam kein Druck zurück. Arvin hatte immer gerne Musik gehört, deshalb holte ich meinen iPod aus meiner Tasche, schloss ihn an die kleinen Boxen an und fing an die Melodie mit zu summen. Das nächste Lied hat Arvin nie gemocht. Er hatte es immer weggeschalten, wenn ich es gehört hatte. Er fand es schnulzig, doch finde es immer noch wunderschön. Es ist von Jupiter Jones und heißt „Still“. Dieses Lied bekam für mich eine völlig neue Bedeutung. Die Zeilen „So still, dass alle Uhren schwiegen, ja, die Zeit kam zum erliegen, so still und so verloren gingst du fort, so still und so verloren gingst du fort“, brachten mich zum Nachdenken. Was bedeuteten sie eigentlich genau? Diese Worte bedeuten eigentlich nichts anderes als, dass die Zeit stehen geblieben war und eine neue Zeitrechnung begonnen hat. Sie begann an dem Tag, als Arvin ins Koma fiel. Die Zeiger der Uhren fingen an sich langsamer zu drehen, so kam es mir jedenfalls vor. Aus Stunden wurden Jahrhunderte, aus Minuten Tage und aus Sekunden Stunden. Alles wurde langsamer. Die Schritte jedes Menschen, jedes Flügelschlagen der Vögel, jedes Wachsen der Pflanzen. Alles begann langsamer zu werden. Das einzigste was nicht stehen blieb, war die Angst, die sich immer weiter in meinen Kopf ausbreitete. Sie wurde nicht weniger oder langsamer. Nein. Sie raste und mit ihr schwand die Hoffnung, die jede Sekunde weniger wurde. Ich wollte nicht so denken, das wollte ich nie, doch hatte Arvin überhaupt noch eine Chance? Wird sein Herz diesem ganzen Druck aushalten? Ich wusste es nicht. Keiner wusste es. Man konnte nur noch beten und versuchen für Arvin da zu sein. Niemand wusste auch nicht so genau, ob er überhaupt spürte, wenn jemand da war, seine Hand hielt und Tränen aus den Augen liefen, während man an alte Zeiten dachte. Und nun tat ich es schon wieder. Ich weinte. Ich wollte es nicht. denn ich war vor Arvin immer die Starke gewesen, seine bessre Hälfte. Wenn er wüsste, dass ich ab und zu zur Flasche oder zu Drogen griff, nur um mich besser zu fühlen, er würde mich hassen. Er würde mich verachten und mir immer sagen, dass es dadurch nicht besser, sonder immer nur noch schlimmer werden würde. Wenn er mir jetzt doch nur sagen könnte, dass alles was ich bisher gemacht hatte falsch war. Das es falsch war in die Szene einzutreten, dass es falsch war mich in eine Person zwängen zu lassen, die ich gar nicht war, dass ich einem Jungen so blind vertraute, dass er alles mit mir machen konnte, dass dieser Junge mir nicht sagte, dass ich keine Drogen nehmen sollte und nie wieder trinken sollte und vor allem, dass ich zurückkommen sollte, weg aus Berlin, zurück in mein altes Leben zu meiner Mom. Ich wünschte mir so, dass er aufwachte und mir die ganze Wahrheit, die ich innerlich eigentlich schon wusste mir ins Gesicht sagt mich anschrie um mich danach in den Arm zu nehmen und zu sagen, dass er mich trotzdem gern hat und mir hilft daraus zu kommen. Ich würde echt alles dafür tun, dass Arvin die Augen öffnete, mich anguckte und lächelte. Doch dies war nur ein Wunsch von vielen von mir, doch es war der größte den ich bisher hatte. „Arvin wach auf! Wach doch endlich auf! Ich brauche dich doch“, du kannst jetzt nicht gehen und mich im Stich lassen. Arvin!“ Ich fing an seinen Körper zu schütteln, ihm auf die Wange zu klopfen, so wie man es mit Bewusstlosen machte. Dabei weinte ich mir all meine Gefühle von der Seele. Die Krankenhaustür flog auf und der behandelnde Arzt stürmte auf mich zu, packte mich am Arm und riss mich von meinem besten Freund weg. Er zog mich auf den Flur und setze mich auf einen Stuhl. Dabei hielt er mich an beiden Armen fest und drückte mich in das Polster, damit ich mich nicht losreißen und wieder ins das Zimmer stürmen konnte. Eine Schwester kam mit einem Glas Wasser, drückte mir eine Tablette in die Hand und sagte: „Das ist ein Mittel zur Beruhigung. Nimm das!“ Ich tat was sie mir sagte, nahm die Tablette, steckte sie mir in den Mund und spülte sie mit viel Wasser herunter. Danach begleitete sie mich ins Schwesternzimmer, wo ich mich eine halbe Stunde auf eine Liege legen sollte. Mach dieser Ewigkeit durfte ich gehen. Am Eingang bekam ich meinen Rucksack wieder, jedoch ohne Boxen und IPod. Die standen wohl noch bei Arvin im Zimmer. Ich ging ohne mich noch einmal umzusehen zurück ins Hotel.
Als ich zurück ins Hotel kam, erwarteten mich dort schon Ena und Mom. Ena hatte bereits die Koffer gepackt. Ich entdeckte meine Tasche, ihren Koffer und noch zwei weitere. Es waren die meiner Mom. „Ich komme mit nach Berlin. Ich wurde wegen guter Kooperation aus der Klinik entlassen. “, sagte meine Mom und nahm mich in den Arm. „Ich möchte einmal sehen, wie ihr zwei in Berlin lebt und wo du gelandet bist. Ich freute mich wirklich darüber, dass sie mitkam. „Du musst mir aber dabei helfen eine neue Wohnung für uns zwei zu finden“, stelle Mom eine Bedingung. „Klar helfe ich dir Mom“, sagte ich lächelnd. Es ist echt schön, sie wieder lachen zu sehen. Das Gefühl ist unbeschreiblich. Zwei Stunden später saßen wir im Zug Richtung Berlin Hauptbahnhof. Die Stimmung zwischen Ena, Mom und mir war ausgelassen. Wir sprachen über vieles und lachten über Dinge, die eigentlich gar nicht lustig waren. Der Schaffner kontrollierte unsere Fahrkarten. Als er meine ablochen wollte, grinste er mich nur an und sagt: „Heute siehst du besser aus, als damals.“ Darauf antwortete ich nur: „ Im Gegensatz zu damals, bin ich heute auch glücklich.“ Er lachte. Bevor ins nächste Abteil ging, wünschte er uns noch einen schönen Tag und viel Spaß. Ena und ich sahen uns an und fingen an zu lachen. Mom guckte uns so unverständlich an, dass Ena und ich anfingen die Zugfahrt von damals zu erzählen. Sie musste lachen und bedankte sich herzlichst bei ihr, dass Ena mich aufgenommen hatte, obwohl sie mich nicht kannte. Ena meinte nur, das wäre selbstverständlich gewesen, denn sie sei schließlich auch einmal jung gewesen. Das Signal ertönte und die Computerstimme gab „Berlin Hauptbahnhof“ durch. Als der Zug zum stehen kam, nahmen wir unser Gepäck und stiegen aus. Das Wetter war wunderschön. Die Sonne strahlte von einem blauen, nicht wolkenverhangen Himmel herunter und es war für Anfang August noch Recht warm. Eine Dreiviertelstunde später befanden wir uns bereits in Ena‘ s Designerwohnung. Meine Mutter war begeistert. Sie betonte immer wieder, wie schön Ena und ich es doch hier hatten und wie toll der Blick vom Balkon aus wäre. Nachdem wir einen Tee zusammen getrunken hatten rief ich Jake an, dass ich wieder in Berlin sei. Er holte mich ab und wir schlenderten Hand in Hand durch meine neue Heimat Berlin. Wir setzten uns auf eine Bank und redeten. Er fragte nicht nach Arvin, erfragte auch nicht wie es mir ginge. Er fragte nur, warum ich nicht mehr seine schwarze Nachtprinzessin war. Ich hatte die Klamotten abgelegt, weil ich nicht mehr so sein wollte, wie er mich gerne hätte, aber das wollte ich ihm nicht so sagen. Stattdessen gab ich als Grund meine Mom an. Sie sollte keinen Schreck bekommen, wie ich aussah, wegen ihrer Krankheit. Ich erzählte ihm von Arvin und seinem Zustand. Ich erzählte Jake auch was ich fühlte, wie ich Arvin’s Hand gehalten habe. Ihn schien es nicht besonders zu interessieren, wie es mir ging oder was Arvin mir bedeutete. Er spielte die ganze Zeit mit seinem Handy herum und nickte. Zwischendurch sagte er nur „aha“ oder „Mhm“, aber das war auch alles was er als Wörter von sich gab. Sein Handy vibrierte. Eine SMS erschien auf seinem Display. Er hielt seine Hand darüber, las sie, packte das Handy weg, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und murmelte irgendwas von „Sorry Prinzessin ich muss weg. Ich ruf dich an!“ und dann war er auch schon mit großen Schritten davongeeilt. Ja so war Jake nun mal. Wenn etwas wichtig war, musste er es sofort erledigen. Dann wurde alles andere zweitrangig. Ich wunderte mich schon gar nicht mehr darüber. Ich rief Layla an und bestellte sie zu unserem Lieblingscafè. Als ich eintrudelte saß sie bereits an einem Tisch und ließ sich ihr bleich geschminktes Gesicht von der Sonne bescheinen. Ich setzte mich neben sie und tippte ihr auf die Schulter. „Hey Layla, na alles klar?“ Statt einer Antwort starrte sie mich nur an. „Du siehst so normal aus. Wo ist dein schwarzes Gewand?“ Ich erzählte ihr das, was mir im Krankenhaus klargeworden war. Dass ich mich nicht mehr in irgendetwas zwingen lassen wollte was ich gar nicht war. Sie akzeptierte es, doch ganz verstehen konnte sie es nicht. Ich musste ihr alles erzählen. Wie es meiner Mom ging, wie es Arvin ging, was ich zu Hause gemacht hatte und was ich nun mit Jake machen würde. Das mit Jake war schwer. Er hatte sich nicht einmal gemeldet, als ich nicht da war und heute machte er den Eindruck, dass ich ihn gar nicht mehr interessierte. Ich mochte ihn noch, aber ob ich ihn noch liebte, wusste ich nicht so genau. Ich hatte in den letzten Tagen nicht wirklich an ihn gedacht, sondern mehr an Arvin und an die alten Zeiten. „Jake war eben richtig komisch drauf.“, vertraute ich Layla an. „Das war er oft in letzter Zeit.“, sagte sie mir. „Ist den irgendwas passiert, als ich nicht da war?“, frage ich nach. „Nein eigentlich nicht. Oder? Doch. Jake und Blake haben sich geschlagen. Bei unserem Treffen in der Lagerhalle. Es ging um irgendein Mädchen. Ich glaube sie hieß Belinda oder so. Auf jeden Fall ist sie in der Parallelklasse von Jake und Blake ist halt schon länger in sie verliebt. Jake hat gesagt, das Belinda nur eine billige Schlampe wäre und daraufhin ist Blake völlig ausgerastet und hat deinem Freund eine geknallt. Dann haben sie sich auf dem Boden herumgewälzt bist Jake dann abgehauen ist.“ „Und warum hat Jake das gesagt?“, wollte ich wissen. „Er wollte es Blake wohl heimzahlen, weil Blake letztes Jahr etwas über Jake‘ s Ex-Freundin gesagt hat.“, versuchte mir Layla zu erklären. „Davon hat er mir nie etwas erzählt“, stellte ich fest. „Aber eins ist komisch an Jake. Immer wenn er eine neue Freundin hatte, brachte er sie mit in die Szene und die Freundinnen blieben immer nur solange, bis er eine neue hatte. Einmal hab ich gesehen, dass einer der Gründer unserer Szene Jake Geld gab. Es sah so aus, als ob er ihn bezahlen würde. Genau danach als er eine neue Freundin hatte und sie in die Szene mitbrachte.“, erzählte mir Layla. „Das glaube ich nicht, dass er sich dafür bezahlen lässt, neue Mädchen in die Szene zu schleusen. Dann müsste seine Liebe bei jedem seiner Freundinnen gespielt gewesen sein. Er würde mich nicht anlügen Layla. Wir lieben uns doch.“ „Genau das macht er sich doch zu Nutze Liz. Hast du noch nie davon gehört, dass Liebe blind macht?“, wollte sie mir verklickern. Natürlich hatte ich davon schon gehört, doch ich glaube es nicht. Die Gefühle zwischen Jake und mir waren echt. Wenn man Gefühle vorspielt merkt man das. „Ich glaub dir das alles nicht. Ich muss jetzt weg. Tschüss“ „Ja genau, renn du nur vor den Problemen weg. Mach die Augen auf Dornröschen. Dein Prinz ist keiner. Dein Prinz ist einer, der gezielt Mädchen in die Szene schleust, sie mit Drogen abfüllt, sie wehrlos und abhängig macht!“, schrie sie mir hinterher. Ich antwortete nicht darauf, sondern ging schweigend nach Hause. Soll sie dich denken, was sie will über Jake. Ich liebe ihn und er würde so etwas nie machen. Dafür bin ich ihm zu wichtig. Bei Ena angekommen stürme ich, ohne einen Ton zu sagen in das Gästezimmer. Die Tür knallte hinter mir zu. Ich riss das Fenster auf und atmete die klare Luft ein. Ich holte mein Handy aus der Tasche und guckte nach, ob Jake sich gemeldet hatte. Hatte er natürlich nicht. Warum denn auch? Ich bin ja nur seine Freundin. Nichts Besonderes also. Ich nahm das Handy und schleuderte es auf das Bett. Ich war sauer auf Layla, das sie so schlecht über Jake geredet hatte. Ich war sogar sauer auf ihn, dass er sich nicht meldete. Er machte es nicht extra, doch er wusste nicht wie weh es tat. Wir haben in den letzten Wochen nicht viel miteinander gesprochen, eigentlich gar nicht. Außer heute natürlich, aber da war er irgendwie mit den Gedanken woanders. Ich möchte eigentlich nicht sauer auf Jake sein, doch mein Herz blutete. Mancher Schmerz ist so groß, dass das Auge keine Tränen mehr weinen kann, sondern das Herz still Blut weint. Bei mir war es so. Bei Arvin konnte ich nicht weinen und jetzt konnte ich meine Wut und meinen Schmerz auch nur noch herunterschlucken. Auch wenn ich gerne weinen würde, es würde nicht gehen. Es würden keine Träne kommen, nur Stiche, die mein Herz zerschlitzen. Aus der Nachbarwohnung dröhnte laute Musik. „We are gonna dance into the sea all I want is you, you're ma Cherie, never seen that girl that so tres jolie. All I want is You, you're ma Cherie we are gonna dance into the sea, all I want is You, you're ma Cherie, never seen that girl that so tres jolie all I want is You, you're ma Cherie.” Ma Cherie, meine Liebe. Ich merkte, wie sich mein Magen zusammenzog und plötzlich waren sie wieder da. Diese Stiche mitten ins Herz, so zielsicher und fest, wie noch nie. Sie taten so weh, mein Herz fing an zu bluten. Ich wusste nicht warum sie kamen, doch sie waren so intensiv wie noch nie dagewesen zu spüren. Und alles nur wegen Jake, weil er so komisch geworden war. Manchmal hab ich das Gefühl, dass ich ihn gar nicht mehr richtig kennen würde, aber nur manchmal halt. Es war alles kompliziert. Dieses blöde Lied, was aus der Nachbarwohnung drang. Stocksauer knallte ich das Fenster zu und lehnte mich dagegen. Ich fühlte einen dicken Klumpen in meinem Hals, der sich wieder herunterschlucken noch herauskotzen ließ. Er saß einfach so fest, dass ich noch nicht einmal atmen konnte. Um ihn loszuwerden musste ich entweder heulen, was ich nicht wollte, oder Schreien, was auch keine gute Idee gewesen wäre, denn dann wären gleich Ena und Mom angerannt gekommen und hätten gefragt was los wäre und das ging die Beiden wirklich nichts an. Daher beschloss ich mich ruhig zu verhalten und heute Abend in die Lagerhalle zu gehen, um mich im Kreis meiner Gleichgesinnten trieben zu lassen. Die Uhr sagte mir, dass es bereits 18 Uhr war. Das Treffen begann immer um 21 Uhr. Also ging ich erst einmal duschen. Danach schminkte ich mich Szenengerecht, schwarz umrandete Augen, schwarzer Liedschatten und roter Lippenstift und hüllte mich in Netzstrumpfhose, Hotpants, bauchfreies schwarzes Oberteil und mit meinen roten Chucks. Meine Haare föhnte und glättete ich. Dann trat ich aus dem Badezimmer und betrachtete mich im Spiegel. Meine Mom kam aus dem Esszimmer und starrte mich nur an. Sie sagte nichts, musterte mich nur, drehte sich auf dem Absatz um und ging zu Ena auf den Balkon. Sie ließ sich in einen der Stühle fallen und schaute in die Ferne. Ich ging zu ihr sagte, dass ich jetzt gehen würde, wartete die Antwort nicht ab und verließ die Wohnung. Unten an der Haustür wartete schon Layla auf mich. Ich hakte mich bei ihr unter und ging mit ihr zusammen zum Treffen. Eine Dreiviertelstunde später saßen wir bereits in einem gemütlichen Sitzkreis mit den anderen. Die Kerzen in der Mitte unseres Kreises warfen unsere Körper als lange Schatten an die kalten Mauern der Lagerhalle. Wir redeten über viele verschiedene Themen. Schule, Freundschaft, Liebe und wie wir nach dem Tod wohl weiterleben würden. Ob es überhaupt ein Leben gibt und was unsere Familie oder Freunde machen würden, wenn wir plötzlich nicht mehr unter ihnen wären. Würden sie uns vermissen? Würden wie zu unserer Beerdigung kommen, in den Stuhlreihen in der Kapelle sitzen, den Worten des Pastors lauschen und bei dem ersten Tastenanschlag des Orgelnisten die Tränen nicht mehr zurückhalten können, weil alle Erinnerungen hochkommen?! Wer würde alles zu meiner Beerdigung kommen? Mom, vielleicht Dad, Ena, Layla, Kelly und Arvin? Arvin. Was war mit ihm, ging es ihm besser? Ich hatte seit einer Woche nichts mehr von Kelly gehört, wie es ihm geht. Ich griff zur Wodkaflasche, die herum ging. Versuchte den inneren Schmerz und all die quälenden Fragen zu ertränken. Danach griff ich zum Handy, wählte Kellys Nummer und verließ die Lagerhalle. „Ja“, hörte ich ihre Stimme. „Kelly, wie geht’s Arvin?“, fragte ich. „Schlechter“, sagte sie mit einer Stimme, die so zerbrechlich und so tief verletzt klang. Ich hätte sie gerne in den Arm genommen, ihr Kraft gegeben, die ich zwar selbst nicht hatte, aber sie für meine beste Freundin aufbringen würde, denn sie brauchte sie mehr als ich. Sie saß Tag und Nacht an seinem Bett, hielt seine Hand, strich ihm die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Kelly war diejenige gewesen, die immer darauf achtete, dass seine Lieblingsmusik aus meinen kleinen Boxen neben seinem Bett schallte. Ich konnte nicht viel ausrichten von hier. Leider. „Die Ärzte geben ihm noch 1-2 Wochen, dann sollten seine Eltern darüber nachdenken, die Maschinen abzustellen, denn würde zu sehr leiden.“ Kelly schluckte, sie weinte. Ich musste sie nicht sehen um zu wissen, dass Tränen ihre Wangen herunterliefen. „Kannst du nicht wieder herkommen?“, schluchzte sie. „Es tut mir leid, doch es geht nicht. Mom und ich sind erst nach Berlin gefahren. Ich kann nicht wieder zurück!“ Kelly sagte nichts. Sie musste jetzt auch nichts sagen. Ich wusste was sie hätte sagen wollen. Ich verabschiedete mich und legte auf. Dann ging ich zurück in die dunkle Lagerhalle, nahm einen großen Schluck aus der Flasche und fühlte mich nach einer Stunde richtig gut. Ich lachte, tanzte und war einfach nur glücklich. Arvin war für kurze Zeit vergessen. Um zwei Uhr Nachts stolperte ich mehr die Treppe zu Ena’s Wohnung hinauf, als dass ich ging. Zwischendurch kroch ich auf allen vieren, ab und zu hielt ich mich am Geländer fest, um nicht wieder rückwärts die Treppe herunter zu fallen. Wie ich die Wohnungstür aufbekam wusste ich nicht so genau, doch ich schaffte es, streifte die Schuhe ab, legte mich ins Bett und schlief kurze Zeit später ein.
Der Tag begann mal wieder grau und regnerisch und mein Kopf gab mir die Bestätigung, dass ich noch lebte. Ich stand auf, schlich in die Küche und nahm zwei Aspirin. Danach legte ich mich wieder ins Bett und wartete, dass mein Kopf aufhörte zu hämmern. Mein Handy vibrierte. Eine SMS von Jake. Ich las:
Hey Liz, das mit uns hat kein Sinn mehr, ich liebe eine Andere.
Bitte versteh das. Lass uns Freunde bleiben.
Jake.
Was dachte dieser Kerl sich eigentlich dabei einfach per SMS Schluss zu machen. Per SMS! Wie feige war er denn bitte? Hatte er noch nicht mal den Mut mir diese paar Worte ins Gesicht zu sagen. Den Hass und den Schmerz, der bei so einer SMS eigentlich zu spüren ist blieb aus. Er war bestimmt irgendwo da, aber dann muss es so tief in mir sein, dass ich es nicht mehr spüren konnte. Tiefer als jedes Erdloch, tiefer als jede Schlucht und tiefer als jeder Ozean der Welt. Seine SMS war komplett lächerlich. Heute war Mittwoch. Ich wusste wo er heute abhing. Ich zog mich schnell an, schminkte mich, band die Haare einfach nur zu einem Zopf zusammen und stürmte aus dem Badezimmer. Am Flurspiegel hing ein Zettel. „Sind einkaufen, werden bald zurück sein. Ena & Mom.“ Ich nahm mir einen Kuli und schrieb unter ihre Zeilen: „Bin unterwegs, aber über’ s Handy zu erreichen. Kuss Liz.“ Dann machte ich mich auf den Weg zu Jake. Ich nahm die U-Bahn und schon 20 Minuten später war ich am Alexanderplatz. Jake hing mittwochs immer dort ab. Er war schon von Weitem gut zu erkennen. Er saß im Kreis mit drei Mädchen und drei Jungen. Ein Mädchen, ziemlich abgemagert, blonde, lange Haare, ziemlich tussimäßig gekleidet (pinke Röhrenjeans, weißes Top, pinke Jacke, pinke Ballerinas, weißes Schleifchen in den Haaren) saß auf seinem Schoß. Ich setzte auf den Überraschungsmoment, schlich mich von hinten an und räusperte mich übertrieben laut. Jake zuckte nur zusammen, während Barbie einen hysterischen Schrei ausstieß. Jake drehte seinen Kopf und schaute mich so kalt an, dass mir ein Schauer den Rücken hinunter lief. „Was machst du denn hier?“, fragte er mit einer Betonung, die mich erstarren ließ. „Mit dir reden!“, zickte ich an. „Da gibt’s nichts mehr zu reden Liz. Leb einfach dein scheiß Leben und verpiss dich!“, erwiderte er. „Dann werd‘ doch glücklich mit deiner billigen Tusse da!“, schrie ich ihn an, ging einen Schritt auf ihn zu und klatschte ihm eine. Dann stürmte ich wütend davon. Ich rannte zur U-Bahn Station und fuhr zum Potsdamerplatz um mit meinem letzten Geld eine Packung Glück zu kaufen. Dort angekommen entdeckte ich an einer Säule des Brandenburgertors Bleeker lehnen. Er war einer von Jake’ s „Freunden“ . Ich steuerte auf ihn zu. Er wusste was ich wollte. Er schob mir eine Packung zu, ich bezahlte, verzog mich in eine Nebenstraße um das Tütchen Glück mit meinem Blut zu vermischen. Ich ließ mich an einer Hauswand hinuntergleiten. Ich saß da, nicht denkend, fast nicht atmend. Meine Hand glitt in die Jackentasche, meine Finger umschlossen sich um das Tütchen und zogen es hervor, rissen es auf und schütteten es in meinen Hals. Dann schloss ich die Augen und wartete auf die Wirkung. Ich nahm das Zeug, um stark zu sein, bloß keine Schwäche zeigen zu müssen. Ich war immer die Starke gewesen, mein ganzes beschissenes Leben lang. Ich war stark, als Dad Mom geschlagen hatte und war immer für Kelly da gewesen, wenn sie einbrach. Ich war es, die ihr die Kraft gab wieder auf zu stehen, die Tränen weg zu wischen und immer weiter zu machen, egal was passiert war. Ich war sogar stark geblieben, als Arvin vor zwei Monaten ins Koma fiel. Ich bin stark geblieben. Ich kannte das Wort „Schwäche“ nicht. Ich wollte dieses Gefühl auch nie erleben. Deshalb fing ich an zu trinken, Drogen zu nehmen, um mich niemals schlecht zu fühlen. Langsam trat die Wirkung der Drogen ein. Von Minute zu Minute fühlte ich mich besser, freier, glücklicher als zuvor. Ich stand auf und lief lächelnd durch das verregnete Berlin. Mein Handy vibrierte. Ein Anruf. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und las „Kelly“ auf dem Display. „Hey Kelly, was geht ab?“, fragte ich gut gelaunt. „Nichts“, schluchzte sie. „Arvin, Arvin!“, ihre Stimme zitterte. Mein Atmen stockte, trotz Drogeneinfluss. „Was ist mit Arvin?“, fragte ich geschockt. „Er, er…!“, jetzt weinte sie. Ein paar Minuten war nur ihr schluckten und ihr zitternde Atem zu hören. „Sein Herz ist heute stehengeblieben.“, jetzt wurde ihr Körper von Schluchzern und Tränen geschüttelt. Ich blieb stehen. Es regnete, doch es war mir egal. Die Welt hörte sich auf zu drehen, alles um mich herum fror ein. Tränen stiegen mir in die Augen. „Mach keine Scherze“, sagte ich im strengen Ton, die Tränen unterdrückt. „Er ist tot Liz, TOT!“, weinte sie. „NEIN!“, schrie ich ins Telefon. Am anderen Ende Schweigen. Jetzt wusste ich, dass Kelly nicht gescherzt hatte. Arvin war wirklich tot. Ich versuchte den Kloß, der fest in meinem Hals saß, runter zu schlucken, doch scheiterte. Ich wollte nichts mehr sagen und legte deshalb einfach auf. Ich wusste, dass ich Kelly in diesem Moment mit meiner Handlung sehr wehtat, doch es war mir egal. Ich rannte los. Der Regen peitschte mir ins Gesicht, Haarsträhnen klebten mir an den Wangen. Ich dachte nicht, ich schrie nicht, ich rannte einfach. Wusste nicht wohin, wusste nicht wie lange ich schon gerannt war, denn ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ich versuchte vor dem Schmerz wegzurennen, doch er holte mich mit jedem Schritt ein, klammerte sich so fest an meine Seele, dass er tiefe Schnitte in sie riss. So tiefe Wunden, als wären es Klingen. Ich stolperte, fiel und blieb regungslos liegen. Meine Tränen vermischten sich mit den Regentropfen. Meine Klamotten waren durchnässt, meine Schminke verlaufen und meine Haare zerzaust, doch alles war in diesem Moment nicht wichtig. Es gab nur noch mich, die Leere in meinem Kopf, den Schmerz in meinem Herzen und die zwei Worte „TOT“ und „ARVIN“. Ein „Ich“ existierte nicht mehr. Ich lag einfach da und fühlte nichts mehr. Die Wirkung der Drogen wurde von dem Schmerz in meinem Herzen und den offenen Wunden meiner Seele überdeckt. Nachdem ich eine Weile reglos im Regen lag, raffte ich mich hoch und lief nach Hause. Ich klingelte, doch niemand öffnete. Ich kroch also die Treppe hoch, schloss die Wohnungstür auf, warf meine Schuhe in die Ecke und legte mich, nass wie ich war, ins Bett, schloss die Augen und schlief unter Tränen ein.
Ich wurde von Pizzaduft geweckt. Ich stand auf und schlenderte in die Küche. Ena und Mom saßen am Tisch, jeder eine Tasse Tee in der Hand. Ich schaute zum Boden, hob auch nicht den Kopf, als Mom mich irgendwas fragte. Ich trat an den Tisch heran. Eine Zeitung mit Wohnungsanzeigen lag aufgeschlagen links neben der Tasse. Rechts daneben ein Textmarker und ihr Handy. „Ich hab schon zwei Besichtigungstermine ausgemacht. Morgen gegen 13 Uhr ist der erste Termin. Willst du mitkommen?“ Ich nickte nur. „Maus, du hast doch irgendwas!“, erkannte meine Mutter. Ich schüttelte den Kopf. „Es ist alles okay Mom.“, versuchte ich so überzeugend wie möglich rüber zu bringen. Mom sagte nichts. Sie stand auf, machte einen Schritt auf mich zu und nahm mich einfach in den Arm. Ich versuchte die Tränen zurückzuhalten, doch es ging nicht. Der Zeitpunkt war gekommen einzubrechen. Sich in Mom’s Armen fallen zu lassen und im Meer von Tränen zu treiben. Mom’s Wärme fühlte sich gut an. Sehr gut sogar. Ich legte meinen Kopf an ihre Schulter und sie strich mir über den Kopf. So wie sie es früher immer getan hatte, als ich klein war. „Was ist denn los Kleines?“, fragte sie besorgt. „Kleines“, so hatte sie mich lange nicht mehr genannt. Es tat gut so etwas zu hören. Ich schmiegte mich fester an sie heran. „Arvin.“, sagte ich nur. „Ich weiß, Brigitte hat mich vorhin angerufen. Ich wollte eigentlich nicht, dass du in diesem Moment alleine bist, wenn du es erfährst, doch du warst nicht zu Hause und Ena und ich sind dich noch suchen gegangen, doch Berlin ist einfach zu groß um jemanden zu finden. Als wir von unserer Suche nach Hause kamen, lagst du schon in deinem Bett. Wir haben dich schlafen lassen, weil du ziemlich mitgenommen aussahst.“ Da hatte sie verdammt Recht. Mom’s Umarmung wurde fester, half aber nach einiger Zeit nicht mehr, deshalb löste ich mich in mein Zimmer. Ich schloss die Tür, drehte den Schlüssel im Schloss um, lehnte mich an sie und ließ mich langsam zu Boden sinken. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und schon kamen die Tränen, der Schmerz und die Wut. Alles vermischte sich zu einem großen Haufen Scherben. Ich wurde plötzlich wütend. Ich nahm früher nie Drogen, konnte immer auf natürliche Weise glücklich sein. Heute schüttete ich das Zeug nur so in mich hinein. Und wegen wem machte ich das alles? Wegen Jake, dem Vollidioten. Er hatte mich in die Szene gebracht, er war der Grund, warum ich so viele Drogen nahm. Er war schuld, dass es mir noch schlechter ging, als sonst. Er war auch daran schuld, dass ich mehr trank als je zuvor. Ich merkte, dass ich anfing zu zittern. Also stand ich auf, schloss die Tür auf, ging auf den Flur und durchsuchte meine Jacke nach dem Tütchen. Ich fand es, ging zurück in mein Zimmer, schloss die Tür wieder ab, setzte mich auf’ s Bett und fing an die letzten Reste vom Plastik zu lecken. Danach riss ich das Fenster auf und atmete die Regenluft ein. Mir war nach Schreien zu Mute, doch ich unterdrückte es. Heulte lieber. Schritte näherten sich. Es klopfte. „Alles in Ordnung Süße?“, fragte Mom’s besorgte Stimme. Was sollte ich antworten? Sollte ich lügen und sagen: „ Ja Mom alles klar.“, oder sollte ich die Wahrheit sagen und „Nein, mein bester Freund ist tot, mein Freund hat mich verlassen, ich trinke und nehme Drogen, aber sonst ist alles klar!“ Nein, das konnte ich ihr nicht sagen. Deshalb sagte ich nur „Ja.“ „Ich bin mit Ena in der Stadt, bin aber über mein Handy zu erreichen.“ „Ok, viel Spaß!“, antwortete ich. Dann fiel die Wohnungstür ins Schloss und ich genoss das Alleinsein. Ich schloss die Tür wieder auf, ging ins Wohnzimmer, riss alle Schubladen und Schranktüren auf und fand zwei Flaschen Wein und eine Flasche Wodka. Ich entschied mich für letzteres. Ich nahm einen kräftigen Schluck. Ich hatte keine Ahnung, ob Wodka sich mit den Drogen von vorhin vertrug, doch das war mir eh egal. Vielleicht würde ich sterben, vielleicht auch nicht. Die Chancen standen 50 zu 50. Heute Abend war wieder Szene angesagt. Ich hatte keine besondere Lust hinzugehen, doch dort gab es Drogen und es gab dort Leute, die mich verstanden. Also entschloss ich mich doch hinzugehen. Ich nahm die Flasche mit in mein Zimmer und kramte das Foto von Kelly, Arvin und mir hervor. Ich starrte es an. Tränen liefen mit über’ s Gesicht. Immer und immer mehr. Der Schmerz war nicht mehr auszuhalten. Ich nahm wieder einen Schluck, dieser war größer als der zuvor. Mein Herz zersprang und meine Seele wurde schwärzer als jemals zuvor. Sie war so dunkel, dass man in ihr nicht mehr die Hand vor Augen hätte sehen können. Ich wollte nicht mehr. Ich wollte nicht, dass dieser Schmerz mich so tief traf. Ich wollte nicht, dass mein Herz zersprang, doch dies tat es. Von Sekunde von Sekunde mehr. Es gab kein Licht mehr in meinem Leben. Es war zwar erst ein paar Stunden her, dass Kelly mich angerufen hatte, doch ich spürte schon jetzt, dass mein Leben keinen Sinn mehr hatte. Ein Leben ohne Arvin war unvorstellbar. Arvin, Kelly und ich hatten uns damals im Sommer unter den Ästen im Freibad ein „FÜR IMMER!“ geschworen, denn da wussten wir noch nicht, wie lange unser „FÜR IMMER!“ halten würde. Ein Jahr hatte es gehalten, dann verließ uns Arvin. Ich wusste, dass Kelly jetzt auch ziemlich fertig sein musste, denn für sie war Arvin wie ein Bruder gewesen, denn Kelly hatte keine Geschwister, ich auch nicht, doch ich kam immer gut damit zurecht. Kelly war immer traurig gewesen, dass sie keine Schwester oder Bruder hatte, deshalb war Arvin mehr für sie als ein Freund. Für Kelly war Arvin alles was sie hatte, er gehörte zu Kelly’ s Familie. Jetzt war sie wieder alleine. Ich bekam Angst um sie, denn sie hatte mir einmal gesagt, wenn Arvin oder ich sterben würden, dann würde sie diesen Weg mit uns gehen. Ich hoffte, dass sie es nicht wahrmachte, denn das würde ich nicht auch noch verkraften. Ich vermisste sie. Ich legte das Foto weg und mir fiel ein, dass Kelly mir bei meinem Besuch einen Brief von Arvin, für den Fall, dass er sterben sollte, mitgegeben hatte. Dieser „Fall“ war nun eingetreten. Er musste noch im Rucksack liegen. Ich durchwühlte den Rucksack und fand den Brief. Ich riss ihn vorsichtig auf und hielt einen Bogen Papier in der Hand. Kein Collegeblockpapier oder normales Druckerpapier. Nein. Es war dickes Briefpapier. Es fühlte sich gut an in der Hand. Arvin’s letzte Worte waren per Hand geschrieben. Ich faltete den Brief auseinander und las:
Liebe Liz,
die Zeit ist gekommen, wo ich "Goodbye" sagen muss. Ich werde nicht länger hier sitzen und so tun, als wäre ich glücklich, denn ich bin es nicht. Ich werde mich verabschieden, von meinen Leben, von meiner Qual, von Dir! Das leben, hat es für mich einen Sinn?? Nein, hat es nicht. Ich hasse mein Leben und ich hasse mich. Ich werde nicht mehr so tun, als wäre alles in Ordnung, denn in Ordnung ist schon lange nichts mehr in meinem Leben. Ich habe nur Schmerz, Trauer und Qual erlebt, keine Liebe, immer nur Funktionieren. Also sag mir nicht, ich soll mein Leben lieben, denn dies kann ich nicht! Was gibt es für einen Grund am Leben zu bleiben? Es gibt keinen. Du weißt, wie es mir geht, doch du willst es nicht sehen. Ich danke dir für alles Liz. Du warst echt die tollste beste Freundin, die man sich wünschen konnte. Ich werde unsere gemeinsame Zeit nie vergessen, all den Spaß, den wir zusammen hatten. Durch dich bin ich ein anderer Mensch geworden, aber Zeiten ändern sich und Menschen auch. Es muss nur eine Person im Leben fehlen und man merkt wie leer es sein kann. Sei bitte für Kelly da, sie braucht dich jetzt. Bitte. Versprich es mir! Vergiss mich nicht!
In Liebe, dein Arvin.
„Versprochen“, flüsterte ich in Richtung Himmel. In der Hoffnung, dass Arvin mich hören
konnte. Kein Wort dieser Welt konnte in diesem Moment beschreiben, was ich fühlte. Ich faltete den Brief zusammen, schob ihn wieder in den Briefumschlag und vergrub ihn ganz tief in meine Nachtischschublade. Mein Herz tat weh und der Schmerz zerriss meine Seele. Ich trank den letzten Schluck aus der Flasche. Der Rauschzustand überdeckte meine Traurigkeit, zwar nicht viel aber immerhin so viel, dass ich auf dem Boden vor meinem Bett schlafen konnte. Mein Schlaf war nicht tief, doch es tat gut einmal nicht mit den Augen weinen zu müssen, denn das übernahm im Schlaf mein Herz. Es weinte literweise Blut. Als ich aufwachte fühlte ich mich ausgesaugt, so als hätte mich ein Vampir leer getrunken. Ich kroch auf allen Vieren ins Bad und kotzte mir die Seele aus dem Leib. Danach ging ich duschen um das Regenwasser von meinem Körper zu spülen. Ena und Mom waren wieder zurückgekehrt. Mom stand am Herd und Ena schnippelte Gemüse und Fleisch. „Es gibt in 20 Minuten essen“, verkündete sie mir. „Ich hab keinen Hunger“, sagte ich und ging zurück in mein Zimmer und dort blieb ich auch, bis es Abend wurde. Am Abend traf ich mich mit Layla und wir gingen wieder zusammen zur Lagerhalle. Wenig später saßen wir wieder im Kreis. Jeder erzählte von seinen Gefühlen, von seinen Schicksalen. Jeder außer mir. Ich schwieg. Niemand sollte Fragen stellen, oder versuchen mich zu trösten. Ich hatte für diesen Abend eine Mauer aufgebaut, die niemand durchdringen konnte. Ich war stark. Ich erzählte nichts, weil diese Mauer sonst in sich zusammengefallen wäre und dies wollte ich vermeiden. Mein Herz konnte niemand trösten. Es hatte früher schon einige Risse bekommen, doch sie waren nie sehr tief gewesen, doch Arvin’s Tod zersplitterte mein Herz in zehntausend Teile. Arvin’s Tod schloss mich eine dunkle Welt der Trauer ein. Ich saß dort und schwieg, fühlte nur den Schmerz, der mein Herz zerriss. Die Trauer lähmte meinen gesamten Körper. An diesem Abend trank ich so viel wie noch nie zuvor. Ich konnte nicht mehr nach Hause gehen, darum schlief ich die Nacht bei Layla auf dem Sofa. Nach einem gemeinsamen Frühstück mit Layla, ihrer Mom und ihrer großen Schwester Yala ging ich nach Hause. Dort angekommen, zog ich mich schnell um und fuhr dann mit Mom zu unserer ersten Wohnungsbesichtigung. Die Maklerin wartete schon auf uns vor einem Mehrfamilienhaus. Sie führte uns in den zweiten Stock und schloss die Wohnungstür auf. Wir traten ein. Die Wände waren weiß und hoch. Der Flur nicht besonders groß, aber trotzdem gemütlich. Von ihm gingen 4 Türen ab. Hinter der einen war die Küche mit offenem Durchgang zum Wohnzimmer. Die zweite Tür führte ins Bad. Es verfügte über eine Dusche und eine Badewanne. Außerdem hatte es Tageslicht. Die andern zwei Türen führten in Schlafzimmer. Das eine war ein bisschen größer, das andere dafür aber verwinkelter. Dies gefiel mir. Mom gefiel die Wohnung auch und teuer war sie auch nicht. Mom hatte einen Job als Kassiererin im Supermarkt angenommen. Dort verdiente man zwar nicht allzu viel, doch es reichte um zu Leben. Wir beschlossen die zweite Wohnung auch noch zu besichtigen, versicherten aber der Maklerin, dass diese Wohnung in Frage kommen würde. Mom schrieb ihre Handynummer in das Notizbuch der Maklerin und dann verabschiedeten wir uns höflich und gingen ins Cafe, um noch einmal alles zu besprechen. Im Cafe angekommen bestellten wir zwei Kaffe Latte und erstellten eine To-Do- Liste. Als ersten Punkt hielten wir die Wohnung fest, als zweiten die Heimfahrt, um unsere restlichen Sachen zu holen. Als dritten eine Schule für mich zu suchen, denn die Sommerferien waren bald vorbei. Arvin und meine Trauer waren für diese paar Stunden vergessen, doch als wir bei Ena ankam war sie wieder da. Tiefer und grauenvoller als vorher. Mom und ich stiegen die Stufen zur Wohnung hinauf. Sie schloss die Tür auf und ich hörte eine vertrautes Schluchzten. Es kam aus meinem Zimmer. Ich ging zur Tür, öffnete sie einen spaltbreit und spähte hinein. Ein Mädchen saß auf meinem Bett, eingesponnen in Decken. Die toten Augen in die Ferne gerichtet. Sie zuckte, so als ob sie aufstehen wolle, tat es und ging zum Fenster, nur um dort wieder in ihre Starre zu fallen. Ich klopfte, trat ein und lies die Tür hinter mir leise ins Schloss fallen. Das Mädchen drehte sich um. Sie war Kelly vom Äußeren sehr ähnlich, doch seelisch waren sie und Kelly so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Die Kelly, die ich kannte, hatte keine toten Augen, ihre strahlten immer mit der Sonne um die Wette. Wenn man in ihre Augen schaute, konnte man bis in ihr Herz gucken, doch wenn man jetzt in ihre Augen schaue ist dort nur Finsternis. Nicht so finster, wie bei mir, doch immerhin so viel, dass sie traurig ist. Kelly war bis jetzt noch nie traurig. Sie konnte Traurigkeit immer so perfekt überspielen, dass man sie immer hat nur lachen sehen. Sie litt schrecklich unter Arvin’s Tod. „Kelly“, flüsterte ich. Sie kam auf mich zu und lies sich in meine ausgebreiteten Arme fallen. Ihre Tränen vermischten sich mit meinen. Nachdem wir eine halbe Stunde so dagestanden hatten, ohne einen Ton zu sagen, löste sie ihren Griff, ging zum Bett, öffnete ihre Tasche und gab mir einen Briefumschlag. Ich nahm ihn und riss ihn auf. Eine Trauerfeiereinladung. Oben auf der Karte war ein Kreuz und ein Spruch: „Du bist zwar von der Erde gegangen, doch Du wirst immer in unseren Herzen bleiben.“ Ich ertrug den Gedanken ans für immer Abschied nehmen nicht, deshalb steckte ich die Einladung zurück in den Umschlag und legte diesen ganz tief in meine Nachtischschublade. Kelly griff nach ihrer Tasche, drückte mich noch einmal und machte sich auf zum Bahnhof. Die Umarmung war kalt, doch irgendwie vertraut. Eine Stunde war sie bei mir. In dieser einen Stunde haben wir kein Wort miteinander gesprochen. Wir reichten uns nur die Papiertaschentuchbox hin und her und den Schmerz, den wir beide tiefst im Inneren spürten fraßen wir noch tiefer in uns hinein. Nachdem Kelly gegangen war, wollte ich nur alleine sein. Den ganzen Schmerz von meiner Seele auffressen lassen. Ich setzte mich auf’ s Bett, schlang die Decke um meinen dürren Körper und starrte die Wand an. Tränen, die sich wie Blut anfühlten, zogen ihre Bahnen über mein Gesicht. Sie zerschlitzten mit jeder Bahn mein Herz immer weiter. Plötzlich stockten meine Tränen und Blut rann aus meinem Arm. Im Unterbewusstsein habe ich wohl zur Klinge gegriffen und meinen Schmerz auf meinem Arm verdeutlicht. Ich stand auf, rannte ins Bad und lies kaltes Wasser über meinen zerschlitzten Arm laufen. Eine gewisse Erleichterung machte sich in meiner Seele breit. Ich trocknete meinen Arm und wickelte einen Verband darum. Dann zog ich meinen Ärmel darüber. Die Schmerzen des Males auf meinem Arm überdeckten den Schmerz meiner Seele. Ich spürte nichts. Ich war in der dunklen Welt der Trauer eingeschlossen und wusste nicht, wie lange ich mich noch dort aufhalten würde.
Ich starrte in den Spiegel und versuchte herauszufinden wer ich war und wer nicht, doch ich kam zu keiner Erkenntnis. In drei Tagen war Arvin’s Beerdigung. Ein schreckliches Datum. Als ich mich im Spiegel betrachtete sah ich ein kleines Mädchen, das genauso dastand, nicht atmend, nicht denkend, immer nur dieses eine Bild, diese eine Szene, die sich immer wieder abspielte im Kopf. Das kleine Mädchen war ich. Die Szene, als Dad Mom schlug, die roten Strieme, die sich auf ihren Wangen abzeichneten. Die Hoffnungslosigkeit, die die Schulter von Mom beugte. Dieses Erlebnis werde ich wohl nie wieder vergessen können. Es hatte sich über all‘ die Jahre schon so tief in meinen Kopf eingebrannt, dass jeder Gedanke an Vergangenes furchtbar schmerzte. Ich löste meinen Blick vom kalten Glas des Spiegels und kehrte in die Realität zurück. Den Schmerz, den ich während meines Déjà-vu’s ausgeblendet hatte, traf mich wieder mitten ins Herz. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Diese Leere in meinem Kopf, die Scherben meiner Seele und das gebrochene Herz. Ich schnappte meine Jacke und lief hinaus. Nachdem ich stundenlang in irgendwelchen U-Bahnstationen rumgehangen hatte, oder mich quer durch meine Stadt hab fahren lassen, lehnte ich mich an eine Hauswand an. Meine Beine gaben nach, konnten der Belastung meines Körpers nicht standhalten. Ich lies mich hinuntergleiten. Warum? Warum hat Arvin wieder Drogen genommen? Warum hat er nicht einfach mit mir geredet, so wie er es immer getan hatte? Wir hatten uns alles, wirklich alleserzählt. Es gab kaum etwas, dass der eine nicht über den andern wusste. Wären wir doch bloß nie im Streit auseinandergegangen. Seine letzten Worte klangen nicht verletzt, sie klangen hol und das war viel schlimmer als jedes hässlichste Wort der Welt. War ich vielleicht sogar Schuld an seinem Tod? Ich hätte ihn nie so anschreien dürfen. Nur wegen mir lag er so lange im Koma und hat schließlich den Kampf aufgegeben. Diese Gedanken brannten sich in wenigen Sekunden so tief in meinen Kopf ein, dass ich das heiße Eisen spüren konnte. Ich kauerte mich auf dem kalten Steinboden zusammen und lies alles über mich ergehen. Ich wollte nicht zurück nach Hause, nicht zurück zu Dad, nicht zurück zu Kelly. Ich wollte mir nicht von Dad oder Mom eine „heile Welt“ vorspielen lassen, denn diese war schon vor Jahren in sich zusammengefallen. Mom wollte in den nächsten Tagen nach Hause fahren, um die restlichen und wichtigsten Sachen aus unserem Haus zu holen. Ich wusste noch nicht recht, ob ich mitfahren sollte, denn ich wollte Dad nicht sehen, auch wenn Mom immer sagte, dass sie ihn vergessen hätte, sie hatte es nicht. Nie. Nicht in der Klinik, nicht hier, nirgends. Sie saß oft abends im Wohnzimmer mit ihrem Handy in der Hand. Sie wählte die Nummer von zu Hause, hielt das Handy ans Ohr um nach drei Sekunden wieder aufzulegen und das Handy auf das Sofa zu werfen. Sie weinte auch fast jeden Abend, weil sie Dad schrecklich vermisste, egal was er ihr all‘ die Jahre angetan hat. Die Jahre des Schreckens haben sie stark aber wiederrum zu tiefst verletzlich und vorsichtig gemacht. Ihre Mauer, die sie um ihr Herz gebaut hatte war nicht zu durchdringen. Diese Mauer war fester als jeder Beton dieser Welt. Ihr Zustand beängstigte mich. Ich hatte damals nicht nur einen Vater verloren, sondern auch eine Mutter. Es tat schrecklich weh. Doch würde alles anders werden, wenn wir wieder nach Hause zurückkehren würden? Würden Mom und Dad weder von neu anfangen? Würden sie so glücklich sein wie vor fünfzehn Jahren? Ich denke nicht. All‘ diese Gedanken vermischten sich zu einem riesigen Kloß in meinem Hals, der sich nicht herunterschlucken lies. Ich lag schweigend da im Regen und wollte nur noch sterben. Dieser Wunsch blieb mir unerfüllt. Ich stand auf, rannte weiter und lies mein Leben in Windeseile an mir vorbeiziehen. Auch wenn ich es hätte anhalten können, ich hätte es nicht getan. Ich war froh, dass es so schnell verlief, denn ich wollte nicht mehr länger auf dieser Welt leben. Denn tief in meinem Herzen wusste ich, dass ich mich schon nach Schmerz, Trauer und dem Tod sehnte. Diese Sehnsucht, die ich verspürte wurde von Minute zu Minute stärker. Fast wie eine Sucht. Spät am Abend kehrte ich nach Hause zurück und heulte mich in den Schlaf. Am nächsten Morgen wurde mir klar, dass mein Leben keinen Sinn mehr machte. Arvin war tot, meine Familie zerbrochen und Kelly war auch seltsam geworden, klar das mit Arvin hat sie sehr mitgenommen, doch trotz allem verstand ich sie nicht mehr. Auch in Sachen Liebe hatte ich kein Glück gehabt. Durch Liebe kam ich an Drogen. Dieses Zeug, ohne, das ich nicht mehr Leben konnte. War abhängig. Hatte sogar meinen IPod verkauft, um Geld zu haben, um mir meinen „Glücklichmacher“ zu finanzieren. Ich fühlte mich alleine, nicht verstanden und leer. Meine Träume wurden von Suiziden gezeichnet. Mal stürzte ich aus einem Fenster ein anderes Mal lag ich auf den Bahnschienen. Es klopfte an der Tür. Ich wischte die Tränen weg und setzte die lächelnde Maske auf. Mom kam herein und setzte sich neben mich auf‘ s Bett. „Ich fahre jetzt nach Hause die restlichen Sachen holen. Möchtest du mit?“, fragte sie. Ich hatte keine besondere Lust mitzufahren und Dad zu sehen, doch zu Mom’s Schutz fuhr ich mit. Nach drei Stunden Fahrt standen wir vor unserem Haus. Mom schloss die Haustür auf und ich ließ den vertrauten Duft in meine Lunge strömen. Mom kam, bepackt mit Umzugskartons, hinterher. Sie stellte die Kartons ab und ging ins Wohnzimmer. Ich blieb im Flur stehen, weil ich Angst vor der Begegnung mit Dad hatte. Durch die angelehnte Tür konnte ich sehen, wie Dad Mom in den Arm nahm. Sie standen da, fest umschlungen wie früher, doch die Distanz, die zwischen ihnen herrschte, war kaum zu übersehen. Sie wirkten nicht mehr so vertraut wie früher. Meine Eltern wirkten wie zwei Fremde. Näher werden sie sich wohl nie mehr kommen. Es hatte sich nichts zwischen ihnen geändert. Die Liebe, die vor Jahren aufgeflammt war nun endgültig erloschen, die Gefühle eingefroren und die Erinnerungen aus den Köpfen gelöscht. Alles war noch genauso, wie ich es vor meiner Flucht zurückgelassen hatte. Der Gedanke, dass sich vielleicht alles geändert hatte war gestorben. Ich hasste Dad zwar, doch tief in meinem Herzen wünschte ich mir, dass Mom wieder glücklich werden würde. Ich stieß die Wohnzimmer ein Stück weiter auf. Dad löste seine Umarmung und kam auf mich zu und wollte mich in den Arm nehmen. Er breitete seine Arme aus, doch ich drehte mich nur kalt weg und ging in mein Zimmer, doch oben im Flur hielt ich kurz inne und lauschte. „Was hat sie denn?“, fragte Dad. „Ich weiß es nicht!“, flüsterte Mom eingeschüchtert von Dad's Blick. „Wie du weißt es nicht?!“, schrie er sie schon fast an. „Du musst doch wissen was deine Tochter hat!“, blaffte er. „Liz ist UNSERE Tochter und du musst mich nicht wieder so anschreien. Ich hätte nicht herkommen sollen. Ich dachte die Trennung würde dich zum Nachdenken bringen und, dass du dich vielleicht ändern würdest, doch du bist genau so geblieben wie früher. Ich dachte wirklich, dass dir noch etwas an mir und deiner Tochter liegt, doch du scheinst besser ohne uns zu Recht zu kommen. Es war ein großer Fehler hier her zu kommen und zu glauben, dass du dich ändernd könntest. Ich hab genug unter dir gelitten. Wegen dir war ich in der Klinik, weil du mich psychisch unter Druck gesetzt hast. Ich hab wirklich unter dir gelitten. Ich kann und will das alles nicht mehr. Lass mich in Ruhe meine Sachen packen und dann werde ich die Scheidung einreichen und weit weg von dir mit Liz ein neues Leben anfangen.“ Mom’s Sätze waren so stark, so selbstbewusst. Die Worte sprudelten nur so aus hier heraus. Sie schrie sich alles von der Seele, was sich dort jahrelang festgeklammert hatte. Plötzlich war es totenstill im Haus. Ich schlich leise die Treppe herunter. Plötzlich ein Knall. Es hörte sich an, wie etwas, dass auf nackte Haut schlug. Ich rannte die Treppe herunter und sah Dad, der mit erhobener Hand vor Mom stand. Er hatte es wieder getan. Er hatte Mom wieder geschlagen und ich hatte es wieder mitbekommen. Wut stieg in mir hoch. Ich rannte ins Wohnzimmer, zog Mom aus dem Zimmer und nahm sie in den Arm. Tränen stiegen ihr in die Augen. Ich wischte sie weg und flüsterte: „Bald ist es vorbei Mom. Wir packen schnell unsere Sachen und beginnen ein neues Leben. Irgendwo, wo Dad uns nicht finden kann. Wo wir keine Angst mehr haben müssen.“ „Du bist so stark Liz. Wenn ich dich nicht hätte, hätte ich schon längst aufgegeben!“ Sie löste ihren Griff und ging in die Küche um das Geschirr einzupacken. Ich ging in der Zeit nach oben in mein altes Zimmer und packte Fotos, Klamotten, Schulsachen und Andenken ein. Dann schleppte ich die Kartons nach unten und stellte sie im Flur ab. Mom war in der Küche in den letzten Zügen ich ging zu ihr und half ihr dabei, die letzten Tassen und Teller in Zeitungen zu wickeln und in den Karton zu stellen. Danach packten wir ihre Klamotten in Kartons und räumten alles ins Auto. Mom schloss die Kofferraumklappe, atmete einmal tief ein und aus und stieg dann ein. Ich öffnete die Beifahrertür. Kaum, dass ich saß raste Mom auch schon los. Weg aus der Vergangenheit und hinein in die Zukunft.
Zu Hause angekommen schleppten wir die Kartons in Ena’s Wohnung. Mom’s Handy klingelte. Sie telefonierte zehn Minuten und verkündete danach, dass die Maklerin uns die Wohnung zugesichert hatte. Wir hatten ab heute eine Wohnung. Ich konnte mich nicht richtig darüber freuen, lächelte aber trotzdem, damit Mom sich keine Sorgen machte. Ich ging in mein Zimmer, legte mich auf’ s Bett und ließ den Tag und alle Momente noch einmal durch meinen Kopf strömen. Der Tag war einfach zu kompliziert gewesen. Nach dem Nachdenken schloss ich die Augen und schlief ein. Ich sah ein Mädchen im Traum, dass vor einem Jungen flüchtete, der aussah wie Arvin. Sie rannte. Floh vor ihrer Vergangenheit, doch sie durfte nicht stehen bleiben, denn sonst würde sie die Vergangenheit einholen, sie umschließen sie mit ihren kalten, dunklen Schatten und würde dieses Mädchen erinnern lassen, an eine Zeit, an die sie sich nie erinnern wollte, eine Zeit, die sie versuchte zu vergessen. Erinnerungen würden klaffende Wunden öffnen, die nie ganz verheilen würden. Wunden, die sie als unerträgliche Last, dass ganze Leben schon mit sich herumtrug. Die Last erdrückte sie schon ihr ganzes Leben lang. Ein Schrei schallte durch das dunkle Zimmer. Er war vertraut, so nah und doch so fern.. Ich riss die Augen auf und war in schwarzer, undurchdringlicher Dunkelheit gefangen. Panisch schnappte ich nach Luft und versuchte den rettenden Sauerstoff in meine zusammengepresste Lunge einzuziehen. Hilflos wurde ich von einer unsichtbaren Kraft nach unten gedrückt. Langsam und zugleich qualvoll.. Ich spürte meinen Herzschlag, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Es war einer der letzten Male, denn ich hatte nicht mehr die Kraft dazu stark zu sein. Ich ließ los und wurde unter der kalten, schweren Last begraben.
Am nächsten Morgen war es kalt. Der Himmel bedeckt und die vereinzelnd dunkelgrauen, fast schwarzen Wolken verhangen den Himmel. Ich öffnete das Fenster, versuchte die frische Luft einzuatmen, doch es funktionierte nicht. Daher legte ich mich wieder ins Bett, zog die Decke über den Kopf und kauerte mich zusammen. Der Schmerz, der tief in meinem Herzen herrschte war nicht mehr auszuhalten. Meine Seele war gezeichnet von vielen schrecklichen Ereignissen und war schwärzer als jede Nacht, die ich bis jetzt durchlebt hatte. Ich war von Innen zerstört. Ich wusste nicht wie lange ich dort unter meiner schützenden Decke so gelegen hatte, denn ich hatte in den letzten Wochen jegliches Zeitgefühl verloren. Heute war es soweit. Heute würde alles sein Ende nehmen. Der Schmerz würde endlich gehen und meine Seele wieder rein werden. In einem nicht so schwachen Moment schaffte ich es aufzustehen und unter die Dusche zu steigen. Es war bereits 12 Uhr als ich aus der Dusche stieg und im Bademantel frühstückte. Mom war nicht da, denn sie hatte einen neuen Job als Kassiererin angenommen um Geld in unsere magere Haushaltskasse zu befördern. Nach dem Frühstück ging ich in mein Zimmer und schrieb Mom einen Brief.
Geliebte Mom.
Ich schreibe dir diesen Brief, weil ich dir all‘ diese Worte nicht sagen kann, denn sie würden dich, wenn ich sie aussprechen würde, nur noch mehr verletzen. Diese Welt ist nicht gemacht für ein Mädchen wie mich. Ich fühle mich nicht mehr wohl auf dieser Erde und habe beschlossen, dass es besser ist für mich zu gehen. Du hast wirklich nichts falschgemacht. Mom, bitte mach die keine Vorwürfe. Es war ganz allein meine Entscheidung zu gehen. Such nicht nach mir. Ich will nicht mehr leben. Ich hab meine Gründe dafür.
In Liebe deine Liz.
Ich legte den Brief auf mein Bett, packte die wichtigsten Sachen in meine Tasche und verließ die Wohnung. Den ganzen Tag irrte ich ziellos durch die „leeren“ Straßen. Fuhr da und dort mit der U-Bahn oder saß in irgendwelchen U-Bahn Stationen und hörte Musik. Arvin‘s Brief und das Foto von ihm, Kelly und mir immer in meiner rechten Jackentasche fest an mich gepresst. Ich saß einfach da. Nicht denkend, kaum atmend und starrte mit leeren Augen an die gegenüberliegende Wand. Um mir die Zeit etwas zu vertreiben beobachtete ich die vorbeigehenden Leute. Einige waren gestresst, andere glücklich, weil sie ihren Partner für’s Leben gefunden hatten. Warum waren diese Menschen so glücklich? Warum war ich nicht glücklich? Ich konnte diese Frage nicht beantworten. Ich wusste nur, dass es mir in ein paar Stunden gut gehen würde. Um 20.19 Uhr nahm ich den Bus zum Schloss Bellevue. Eine viertel Stunde später stand ich auf der Lutherbrücke. Der reißende Fluss unter mir. Ich setzte mich auf das Brückengeländer und schaute in den Abgrund. Es war, als würde ich ein neues Leben vor mir sehen. Die Dunkelheit, die mir bis jetzt immer Angst gemacht hatte fühlte sich nun vertraut an. „Alles wird gut Arvin“, rief ich in die Stille des Berliner Abends, die mein Leben beenden sollte. Die mir half ein neues zu beginnen. „Freiheit ich komme!“, schrie ich und breitete meine Arme aus, wie ein Vogel, der in die Lüfte fliegen wollte. Ich streifte meine Tasche ab, warf sie über das Geländer auf die nicht viel befahrende Straße. Ich saß da auf dem Geländer mit ausgestreckten Armen und genoss den Moment der Erlösung. Doch diesen Moment hatte nur eine kurze Dauer, da mein Handy klingelte. Ich wollte mir diesen befreienden Moment aber nicht kaputtmachen lassen und ging deshalb nicht dran. Ich lehnte mich stattdessen ein wenig nach Vorne, hielt mich jedoch mit einer Hand am Geländer fest. Bilder rannten durch meinen Kopf. Eins von Arvin, eins von Kelly, von Mom und Dad, die Szene, in der Dad Mom schlug, ein Bild von Ena, von Jake, von Layla, von der Lagerhalle, eins von den vielen Tütchen, die ich genommen hatte. Die Bilder verliefen zu einem einzigen Film und spielten sich in Sekundenschnelle, fast wie eine Vision ab. Zu den Bildern hörte ich außerdem die Stimmen von den wichtigsten Personen in meinem Leben. „Lasst mich frei!“, schrie ich ins Nichts. Ich wollte mich gerade abstoßen, als mir noch eine Frage durch den leeren Kopf schoss. Was war, wenn mich unten keine Erlösung erwartete? Was würde dann mit mir geschehen? Würde alle wieder von Vorne beginnen? Es gar kein Ende mehr nehmen? Ich schob den Gedanken daran schnell beiseite, mein Blick war getrübt wie nie zuvor. Ich fühlte nichts mehr. Keinen Schmerz, kein Leid, keine Trauer, keine Freude, kein Hass, nur eine große, nie enden wollende Leere, die Arvin hinterlassen hatte. Ich wusste, dass es richtig war, was ich tat und schaute ein allerletztes Mal in die Tiefe und lies mich fallen. Doch ich flog nicht wie ein Vogel, sondern fiel wie ein Stein in die Dunkelheit. Leere umgab mich und ich spürte meinen Körper nicht mehr. Ich hatte es geschafft. Plötzlich erschien ein Licht vor meinen Augen und Arvin stand vor mir, da war er endlich. Er reichte mir seine Hand. Ich wollte danach greifen, doch konnte es nicht. Sie war nah und doch so fern. Arvin’s Bild verschwand und ich sah nun mich, wie ich in einem Zimmer lag. Es war klein, aber lichtdurchflutet. Ein grelles Licht strahlte mich von oben herab an. Mein Körper lag fest bandagiert in einem Bett und eine Frau saß neben mir. Es war meine Mom. Diese Szene sah ich von Oben herab, so als ob ich die Situation von einem weit entfernten Ort beobachten würde. Ich schlug die Augen auf und befand mich in dem zuvor gesehenen Bett. Mein Körper schmerzte fürchterlich. Wo war diese Leere hin, die mein Körper vorher zeichnete? Ich wollte doch nicht mehr leben. Dieser Schmerz war verflogen. „Es tut mir so schrecklich leid mein Schatz, bitte verzeih mir!“, schluchzte Mom. „Doch es wird alles gut werden. Ich bin ab jetzt immer für dich da. Warum hast du denn nichts gesagt? Wir hätten zusammen eine Lösung gefunden, da bin ich mir ganz sicher.“, sagte sie noch, bevor sie mich fest an sich drückte, bevor sie anfing zu weinen. Auf einmal brach der ganze Schmerz aus ihr heraus. So stark und emotional, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. „Du kannst nichts dafür Mom, ehrlich. Es war ganz allein meine Entscheidung, diesen Schritt zu gehen, aber ich verzeihe dir, wenn du dich in irgendeiner Weise schuldig fühlst. Ich verzeih dir Mom!“, flüsterte ich und in Gedanken fügte ich hinzu: „Doch vergessen, werde ich es nie!“
Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2013
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