Mich gelüstete nach einem Kaffee und einem Stück Kuchen. Eben hatte ich eine Besprechung in der Redaktion der WAZ hinter mich gebracht. Tobias war in seinem Laden auf der Schloßstraße und wartete eigentlich darauf, dass ich ihm Bericht erstattete. Das würde ich auch bald tun, aber Kaffee und Kuchen hatten im Moment Vorrang. Ich parkte meinen roten Käfer in einer Nebenstraße und betrat kurz darauf das Café Einhorn auf der Duisburger Straße in Mülheim-Speldorf. Ich wählte einen Platz am Fenster und bestellte bei der Bedienung einen großen Milchkaffee und ein kleines Stück »Flammkuchen klassisch«, der in diesem Café aus eigener Produktion stammt. Süßer Kuchen ist mir ein Gräuel. Allenfalls Rosinenschnecken kommen mir ab und zu auf meinen Teller, wenn ich denn meine, zum Kaffee etwas essen zu müssen. An diesem Tag war es der Flammkuchen, der mich reizte.
Vor zwei Monaten waren Tobias und ich aus Südafrika zurückgekehrt, wo wir mit Howard Gordimer, einem zumindest in Südafrika bekannten Autor, an einem Buchprojekt über die Machenschaften von Pharmakonzernen und deren Auswirkungen auf den afrikanischen Kontinent gearbeitet haben. Das Projekt ist abgeschlossen, das Buch in Druck, und wir haben eine Menge neuer Freunde gewonnen. Umso schwerer fiel uns beiden die Wiedereingliederung in unser »altes« Leben. Die sieben Monate in Südafrika hatten halt ihre Spuren hinterlassen.
Mein Blick schweifte durch das Fenster über die Duisburger Straße, meine Gedanken durch die staubigen Straßen von Paarl, als die Bedienung an meinen Tisch trat und Kaffee und Flammkuchen brachte. Der Flammkuchen war köstlich. Ich kaute genüsslich und sah in diesem Moment, wie sich eine Frau von der Straße her dem Eingang des Cafés näherte. Sie stieg die Stufen hinauf, öffnete die Tür und trat ein. Ihr erster Blick galt der Bedienung, die hinter dem Tresen stand. Nach einer knappen Begrüßung drehte sie sich zu mir, nickte mir zu und stand kurz darauf an meinem Tisch.
Normalerweise besitze ich durchaus ein Gespür dafür, ob ich jemanden schon einmal gesehen habe oder nicht. Das kann Jahre zurückliegen, und möglicherweise kann ich diese Person dann auch nicht sofort in meine Erinnerungen einsortieren, aber ob ich sie schon einmal gesehen habe, weiß ich sofort. Und die Frau, die gerade an meinen Tisch getreten war, hatte ich noch nie gesehen. Sie war mir gänzlich unbekannt. Ich schätzte sie auf Mitte vierzig. Ihr Haar war unter einer baskenmützenähnlichen Kopfbedeckung versteckt. An den unter der Mütze herausragenden Strähnen konnte ich erkennen, dass sie kastanienbraune gelockte Haare hatte. Ihr Körperbau war – sagen wir einmal: stabil. Sie war nicht dick, aber eben auch nicht grazil. Ihre braunen Augen ruhten interessiert auf mir, ihr Blick war nicht unfreundlich, aber auch nicht so offen, als kenne sie mich seit Jahren und freue sich über dieses unerwartete Wiedersehen.
»Frau Freese? Mila Freese?«, fragte sie und begann, ihren dunkelblauen Regenmantel aufzuknöpfen.
Ich hatte mir eben einen weiteren Bissen von dem Flammkuchen in den Mund geschoben. Von daher mochten meine Worte etwas nuschelig rübergekommen sein.
»Wer will das wissen?«
»Ich würde Ihnen das gerne in Ruhe erzählen«, erwiderte die Frau, die ihren Mantel bereits ausgezogen und ihn auf einen der beiden Stühle mir gegenüber gelegt hatte. Nun stand sie in Jeans und einer blauen Bluse, über der sie eine dünne Jacke trug, vor mir. »Darf ich mich zu Ihnen setzen? Das würde es leichter machen.«
Ich wusste nicht, ob ich das wirklich wollte. Ich hatte ursprünglich die Absicht gehabt, meinen Flammkuchen zu genießen, den Kaffee zu trinken und dann Tobias anzurufen, um ihm mitzuteilen, dass in einer der nächsten Samstagsausgaben der WAZ unser Artikel über die Südafrikareise veröffentlicht würde. Und dieser Anruf war längst überfällig. Außerdem verspürte ich tatsächlich so etwas wie Sehnsucht nach ihm.
»Bitte«, sagte ich aber und wies auf den Platz mir gegenüber.
Das letzte Stückchen Flammkuchen verschwand in meinem Mund. Ich wischte ihn mit einer Serviette ab und schob den Teller von mir.
»Mein Name ist Erika Wüllenkämper«, klärte sie mich auf, nachdem sie Platz genommen hatte. »Wir kennen uns nicht, aber ich habe von Ihnen gelesen und auch einiges gehört.«
Von wem?, schoss es mir durch den Kopf. Ich kam aber nicht dazu, diesen Gedanken in eine Frage zu kleiden, denn die Bedienung war an unseren Tisch gekommen. Frau Wüllenkämper bestellte einen Cappuccino.
»Darf ich Ihnen meine Geschichte erzählen?«, fragte die Fremde und schaute mich erwartungsvoll an.
Ich zuckte kurz zusammen. Sie wollte mir ihre Geschichte erzählen? Dazu hatte ich eigentlich weder die Lust noch die Zeit.
»Wenn Sie es bitte kurz machen würden.«
»Sie sind Journalistin und haben im letzten Jahr einen Mordfall und einen Skandal im Pharmabereich aufgedeckt. Haben Sie Interesse daran, eine neue Story geliefert zu bekommen?«
Ich starrte Frau Wüllenkämper an, die mich mit einem süffisanten Zug um den Mund betrachtete. Sie hatte etwas, das war mir in diesem Moment klar. Was wäre ich für eine Journalistin, wenn ich ihre Frage verneinte?
»Erzählen Sie.«
Sie wühlte in ihrem Mantel und legte kurz darauf ein Foto auf den Tisch, das sie mir zuschob und so drehte, dass ich in das strahlende Gesicht einer jungen Frau blickte.
»Wer ist das?«
»Das ist meine Tochter Svenja. Sie ist mittlerweile dreiundzwanzig Jahre alt. Als dieses Foto entstanden ist, war sie zwanzig. Seitdem ist sie verschwunden.«
»Wie verschwunden?«
»Verschwunden eben«, erwiderte Frau Wüllenkämper und zuckte mit den Schultern. »Sie hat mich und meinen Mann an einem Tag Mitte Februar 2015 besucht. Dann ist sie gegangen und nicht bei sich zu Hause angekommen. Seitdem fehlt jede Spur von ihr.«
»Sie haben natürlich die Polizei eingeschaltet, die gründlich ermittelt und mangels Spuren letztlich die Suche eingestellt hat.«
Erika Wüllenkämper versuchte sich an dem Kunststück, gleichzeitig zu nicken und mit dem Kopf zu schütteln.
»Ja und nein. Nachdem wir drei Tage lang nichts von unserer Tochter gehört hatten, sind wir zur Polizei gegangen. Man hat uns auch aufmerksam zugehört, dann aber festgestellt, dass Svenja bereits volljährig ist und es keinen Hinweis auf ein Verbrechen gibt.«
Na ja, dachte ich, sie wäre nicht die erste Tochter, die aus ihrem Leben ausbricht.
»Und? Das stimmte doch auch, oder?«
»Kennen Sie das Gefühl zu wissen, dass etwas Schreckliches geschehen ist, und niemand glaubt Ihnen?«
»Sie meinen das Gefühl einer Mutter?«
»Genau das. Svenja hatte Pläne. Als sie bei uns war an diesem Nachmittag im Februar, haben wir darüber gesprochen. Sie wollte studieren. Wir wollten sie finanziell unterstützen. Alles war in bester Ordnung, und das sage ich nicht, weil ich mir eine heile Welt zusammenreime, wie das Mütter manchmal tun. Es gab überhaupt keinen Hinweis darauf, dass sie etwas anderes im Sinn hatte.«
Ich blickte auf die Zeitanzeige meines Smartphones. Es war Viertel nach zwei. Tobias wartete.
»Frau Wüllenkämper«, begann ich und leerte meine Kaffeetasse, »mir tut das für Sie und Ihren Mann sehr leid. Aber ich kann darin noch keine Story erkennen, die ...«
»Für meinen Mann braucht Ihnen das nicht leidzutun«, unterbrach mich mein Gegenüber. »Er ist im letzten Jahr gestorben, ohne zu wissen, was mit seiner Tochter ist.«
Das saß. Und es tat mir leid, wie einem so etwas eben leidtut. Das sagte ich Frau Wüllenkämper. Die Frau spürte wohl, dass ich drauf und dran war, aufzustehen und zu gehen. Erneut fingerte sie an ihrem Mantel herum. Schließlich entfaltete sie vor mir einen Zeitungsausschnitt mit einem nicht übermäßig scharfen Foto. Es zeigte einen schwarzen BMW, neben dem zwei Männer standen und rauchten.
Verständnislos sah ich die Mutter an.
»Schauen Sie genau hin!«, brach es aus ihr heraus, und sie tippte mit einem Finger wie wild auf dem Foto herum. »Da hinten. In der rechten hinteren Scheibe. Das ist Svenja!«
Ich schob mein Gesicht näher an das Bild heran und erkannte tatsächlich mit Wohlwollen ein Frauengesicht, das aus dem hinteren Autofenster guckte. Mit noch mehr gutem Willen hätte ich vielleicht sogar Svenja darin erkennen können.
»Woher wissen Sie, dass das ihre Tochter ist?«
Frau Wüllenkämper wirkte ungehalten.
»Es ist Svenja, glauben Sie mir! Ich weiß es.«
»Ich erkenne sie nicht.«
»Sie kennen sie ja auch nicht! Zugegeben, besonders klar ist das Bild nicht, aber sie ist es!«
Ich richtete mich wieder auf.
»Woher haben Sie das Foto?«
»Es stammt aus einer Zeitung aus Baden-Württemberg, dem ›Schwäbischen Boten‹. Dort ist es vor knapp zwei Jahren abgedruckt worden.«
Das Ganze verwirrte mich immer mehr.
»Okay, Frau Wüllenkämper. Ich fasse mal zusammen: Ihre Tochter Svenja ist seit drei Jahren verschwunden. Und jetzt erscheinen Sie mit diesem Foto und behaupten, auf dem Bild Ihre Tochter zu erkennen. Ich dagegen sehe nur, dass hinten im Wagen jemand sitzt und aus dem Fenster sieht. Das könnte auch Micky Maus sein. Erklären Sie mir bitte kurz und knapp, wo hier die ›Story‹ versteckt sein soll, die mich interessieren könnte! Was soll dieses Bild eigentlich darstellen? In welchem Zusammenhang steht es?«
Die Frau schien wildentschlossen, mich überzeugen zu wollen. Wieder tippte sie mit dem Zeigefinger auf das Foto.
»Wir haben den Ausschnitt damals anonym zugeschickt bekommen. Warum, frage ich mich. Wer könnte ein Interesse daran haben, uns dieses Bild zukommen zu lassen? Mein Mann und ich haben bis zu seinem Tod selbstständig ermittelt. Wir haben auch bei der Zeitung angerufen. Man sagte uns, das Foto sei irrtümlich in die Ausgabe gerutscht. Eigentlich sollte dort ein Foto zum Thema ›illegale Autorennen‹ erscheinen, von denen man immer wieder hört.«
Ich hatte zugehört. Wirklich. Sehr aufmerksam sogar. Aber jetzt reichte es mir. Ich stand auf und winkte die Bedienung heran.
»Ich muss gehen«, klärte ich Frau Wüllenkämper auf und schob hinterher: »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
Ich reichte der Bedienung einen Zehner. Sie bedankte sich und räumte das Geschirr ab. Kaum war sie gegangen, griff Erika Wüllenkämper nach meinem Unterarm, als wollte sie mich zurückhalten.
»Ich habe mit ihr telefoniert«, sagte sie unvermittelt und sah mich an wie die Schlange das Kaninchen.
»Wie bitte?«
»Ich habe mit Svenja telefoniert.«
Ich ließ mich langsam wieder auf dem Stuhl nieder.
»Wann?«
»Kurz nach dem Tod meines Mannes.«
»Wo war sie?«
»Das weiß ich nicht. Aber sie hat geweint, und das Gespräch dauerte vielleicht gerade mal zwei Minuten.«
»Was hat sie gesagt?«
»Das Telefon bei uns zu Hause hat eines Abends geklingelt. Ich bin rangegangen und habe mich gemeldet. Aber niemand hat gesprochen. Also habe ich gefragt, wer denn da sei. Dann hörte ich ein Schluchzen. Ich habe gefragt: ›Svenja?‹ ›Ja‹, kam als Antwort, aber ganz leise. Ich habe sie gefragt, wo sie ist, und sie hat geantwortet: ›Das tut mir so leid, Mutti.‹ Sie meinte den Tod ihres Vaters. Ich habe wieder gefragt, wo sie ist und ob sie Hilfe braucht. Sie antwortete: ›Du kannst mir nicht helfen.‹ Ständig war da so ein Schluchzen in ihrer Stimme. Ich wollte noch einmal wissen, wo sie ist, und dann habe ich laute Geräusche im Hintergrund gehört, und die Verbindung wurde unterbrochen. Woher wusste sie, dass ihr Vater gestorben war?«
»Haben Sie das der Polizei erzählt?«
Mich traf ein spöttischer Blick aus den traurigen Augen von Erika Wüllenkämper.
»Was denken Sie? Natürlich. Direkt am nächsten Tag war ich auf dem Präsidium. Der Kommissar hat mir gratuliert. Er sagte, ich könne froh sein, jetzt zu wissen, dass meine Tochter lebt, aber er habe immer noch keinen Hinweis auf eine Straftat. Meine Tochter sei volljährig und habe sich wohl entschieden, ihr Leben anders zu leben – ohne ihre Eltern.«
»Und was sagte er zu diesem Bild mit dem BMW und den beiden Männern?«
»Er hat sich bereit erklärt, sich darum zu kümmern, ob über die Identität dieser Personen etwas bekannt sei. Er wollte sich bei mir melden. Das hat er aber nie getan.«
Mein Blick war wieder auf das Bild gefallen, das noch immer in der Mitte des Tisches lag. Die Frage war doch, warum ausgerechnet dieses nicht gerade spektakuläre und irrtümlich in die Zeitung gelangte Foto an die Wüllenkämpers geschickt worden war. Und dann auch noch anonym. Offensichtlich wusste jemand – vorausgesetzt es handelte sich bei der Person hinten im Wagen tatsächlich um Svenja – dass in Mülheim an der Ruhr Eltern nach ihrer Tochter suchten. Und dieser Jemand hatte auch noch Zugriff auf den »Schwäbischen Boten« und musste gewusst haben, dass es sich bei dem schemenhaften Gesicht im Auto um Svenjas handelte, denn erkennen konnte man sie nicht ohne weiteres. Ich sah mir noch einmal das Gesicht im hinteren Fenster des Wagens an. Doch, das konnte Svenja sein, aber auch – wie gesagt – irgendjemand anderes. Es musste noch nicht einmal das Gesicht einer Frau sein.
»Hat Svenja noch einmal angerufen?«
Frau Wüllenkämper schüttelte nur den Kopf. Ich lehnte mich zurück und schaute die Frau schon viel milder an, als ich es zu Beginn unserer Unterhaltung getan hatte.
»Sie sprachen von weiteren Fotos und Dokumenten. Die müsste ich sehen, bevor ich mich auf diese Sache einlasse.«
Die Frau straffte sich und nickte energisch.
»Das können Sie jederzeit. Ich habe sie bei mir zu Hause. Wollen Sie mich begleiten?«
Wir wollen doch nichts überstürzen, dachte ich. Schließlich hatte ich zu tun. Ich musste endlich meinen Südafrika-Artikel fertigstellen und mit Tobias die Fotos auswählen. Svenja war seit drei Jahren verschwunden, und so war ich überzeugt davon, dass Frau Wüllenkämper noch bis morgen warten konnte.
»Das geht leider nicht«, sagte ich also. »Aber ich bin gerne bereit, morgen Vormittag zu Ihnen zu kommen, wenn Ihnen das recht ist.«
»Gerne. Sagen wir halb zehn? Oder ist Ihnen das zu früh oder zu spät?«
»Das passt«, stimmte ich zu und trug den Termin in den Kalender meines Smartphones ein. »Wenn Sie mir noch sagen, wo ich hinkommen muss ...«
»Ich wohne auf der Duisburger Straße neben dem Laden Ihrer Mutter.«
Sie lächelte mich freundlich an, als ich sie verwundert ansah.
»Ich habe den Tipp, mich an Sie zu wenden, von ihr bekommen.«
Ja ja, die Doris, dachte ich und grinste in mich hinein. Auch da musste meine Mutter wieder ihre Finger im Spiel haben.
Frau Wüllenkämper machte einen erleichterten Eindruck, als wir uns voneinander verabschiedeten. Wir verließen gemeinsam das Café, winkten uns vor der Tür noch einmal kurz zu und gingen unserer Wege.
*
Am Abend saß ich mit Tobias in meinem Wohnzimmer auf der Beethovenstraße. Ich hatte geschafft, was ich mir vorgenommen hatte. Der Artikel war fertig, die Bilder ausgesucht. Wir tranken jeder ein Glas Wein, und ich hatte ihm eben von Frau Wüllenkämper erzählt.
»Merkwürdige Geschichte«, kommentierte Tobias das Ganze, als ich fertig war. »Ich meine in erster Linie, dass die Polizei auf alles, was die Frau zusammengetragen hat – und auch auf den Anruf – so gleichgültig reagiert hat, oder meinst du nicht?«
»Ich weiß es nicht. Aus dem Bauch raus würde ich sagen, du hast recht. Andererseits ist es nun mal definitiv so, dass Svenja dreiundzwanzig Jahre alt ist. Ich kann schon verstehen, dass die Polizei zumindest einen Anhaltspunkt für ein Verbrechen haben muss, um zu ermitteln. Du musst einfach mal überlegen, was für ein Apparat da angeworfen werden muss und wie viele Ressourcen das kostet.«
War das ein spöttischer Blick, der mich da von Tobias traf? Ich funkelte sofort zurück.
»Was willst du? Zurzeit sind in Deutschland an die fünfzehntausend Menschen als vermisst gemeldet, elftausend davon sind Minderjährige.«
»Ist ja gut!«, wehrte Tobias ab. »Ich meine ja bloß, dass der Anruf von Svenja doch ein Hinweis darauf sein könnte, dass es ihr nicht gut geht und sie nicht ganz freiwillig da ist, wo sie ist. Offensichtlich hat doch jemand den Anruf fast gewaltsam beendet.«
»Woher willst du das wissen? Svenja hat vom Tod ihres Vaters erfahren und schweren Herzens ihre Mutter angerufen. Als die sie dann mit Fragen bombardiert hat, ist Svenja aufgesprungen, hat vielleicht einen Stuhl umgeworfen und dann aufgelegt.«
Tobias wirkte zerknirscht.
»So kann es natürlich auch gewesen sein«, murmelte er. Dann richtete er sich auf, stützte seine Unterarme auf die Oberschenkel und sah mich durchdringend an.
»Trotzdem hast du doch angebissen, oder? Warum solltest du sonst morgen zu der Frau gehen wollen?«
Ich zuckte möglichst gleichgültig mit den Schultern.
»Sie sprach von Dokumenten und weiteren Fotos. Die will ich mir angucken.«
»Was hoffst du zu finden?«
Ich griff nach meinem Glas und leerte es in einem Zug. Dann füllte ich mir nach.
»Weißt du, Tobias, die Frau machte keinen durchgeknallten Eindruck. Sie ist Mutter, okay. Sie macht sich Sorgen wegen ihrer Tochter, auch okay. Aber sie hat – zusammen mit ihrem Mann – in Eigenregie ermittelt. Sie wirkte sehr abgeklärt und sachlich. Ich möchte sehen, was sie hat, und dann entscheide ich, ob ich mir ihre Geschichte zu eigen mache. Ich habe nicht ›angebissen‹. Ich bin ja schließlich kein Fisch, den man ködern kann!«
Da lachte er, der Tobias, und griff nach einer Weintraube aus einer Glasschüssel auf dem Sofatisch und hielt sie mir vor die Nase. Ich schnappte zwei Mal erfolglos danach. Dann warf ich mich auf ihn und rang sie ihm ab. Ich kaute sie triumphierend und gab ihm einen Kuss.
»Fische essen keine Weintrauben«, sagte ich und zog ihm sein T-Shirt aus.
Am nächsten Morgen – es war Mittwoch und wettermäßig ein Tag, von dem nicht viel erwartet werden konnte – stattete ich zuallererst meiner Mutter in ihrem Laden für Modeschmuck einen Besuch ab. Es war kurz nach neun. Das Geschäft war noch nicht geöffnet, aber meine Mutter und Frau Lenau, ihre langjährige Freundin, die ihr im Laden aushalf, saßen bei ihrem ersten Kaffee und ließen mich gnädigst ein. Sicher war das auch dem Radau geschuldet, den Frau Lenaus kleiner Hund veranstaltete, als ich an der geschlossenen Tür rüttelte. Der Hund hieß »Fleckchen«, und der Name passte, denn viel mehr würde von ihm nicht übrigbleiben, wenn man nicht aufpasste und auf ihn trat, während er einem vor lauter Aufregung und Freude um die Beine wuselte.
»Oh, meine Tochter beehrt mich mit ihrer Aufwartung!«, begrüßte mich meine Mutter zwischen zwei Schlucken aus ihrer Tasse. »Womit habe ich das verdient?«
Ich verdrehte schuldbewusst die Augen. Vor drei Wochen hatte ich ihr und meinem Vater versprochen, sie mit Tobias zu besuchen, und immer wieder hatten wir es aufgeschoben. Wie gesagt, Südafrika hat seine Spuren hinterlassen. Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Ich bekenne mich schuldig, mein liebes Mütterchen«, sagte ich. »Ich habe nicht viel Zeit, aber wenn ich bei Frau Wüllenkämper war, komme ich noch mal rein, und dann machen wir einen neuen Termin aus, und der ist dann fest.«
»Ach, du besuchst Erika? Hat sie dich endlich angesprochen?«
»Na ja, sie hat mich in einem Café förmlich überfallen.«
»Gut so. Anders bist du ja offenbar nicht zu kriegen«, schleuderte sie mir hin. »Ich habe mehr Kontakt zu dir gehabt, als du in Afrika warst.«
»Jetzt übertreib mal nicht so maßlos«, wehrte ich mich und versuchte gleichzeitig, meine Mutter von diesem Anklagemodus abzubringen. »Was hältst du von der Svenja-Geschichte?«
»Ach, die Svenja!«, seufzte meine Mutter und sandte Frau Lenau einen vielsagenden Blick. »Das ist eine schlimme Geschichte. Erinnerst du dich denn nicht an sie?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Als das Mädchen zwölf war, sind die Wüllenkämpers nebenan eingezogen. Sie kamen ursprünglich irgendwo aus Süddeutschland. Die Kleine war ganz traurig, dass sie jetzt im Ruhrgebiet wohnen musste. Ich habe sie damals ein wenig unter meine Fittiche genommen, und sie hat sich gerne hier im Laden aufgehalten.«
»Das muss zu der Zeit gewesen sein, als ich ausgezogen bin und mit dem Studium in Dortmund angefangen habe.«
»Genau.«
»Eine Tochter ist aus dem Haus gegangen, und dann hast du dir schon eine Neue geangelt?«
»Möglicherweise war das so«, lachte meine Mutter. »Sie war ein nettes Mädchen. Auch die Eltern sind sehr nett, aber leider lebt der Mann ja nicht mehr.«
»Woran ist er gestorben?«
»Er hatte über Jahre hinweg Herzprobleme. Irgendwann sind die Sorge und der Ärger um das Verschwinden von Svenja wohl zu viel für ihn gewesen. Er hat eines Nachts einen Herzinfarkt bekommen und konnte nicht mehr gerettet werden.«
»Was ist von Frau Wüllenkämper zu halten? Ist sie glaubwürdig? Sie hat mir eine wirklich krude Geschichte erzählt.«
Meine Mutter bedachte mich mit einem tadelnden Blick, wie ihn nur Mütter beherrschen.
»Auf jeden Fall ist diese Frau vertrauenswürdig! Was denkst du denn? Sie ist überzeugt davon, dass ihre Tochter lebt und irgendwo gegen ihren Willen festgehalten wird. Wer weiß, was diese junge Frau alles erleiden muss?«
»Hat sie dir das Foto mit dem Auto und den beiden Männern gezeigt?«
Meine Mutter und Frau Lenau nickten fast synchron.
»Ja doch! Das Bild hat sie zugeschickt bekommen. Anonym. Erst hat sie gar nicht begriffen, was das sollte, aber dann hat sie im hinteren Fenster Svenja erkannt. Komisch, oder?«
Das war allerdings komisch, nicht im Sinne von zum Lachen komisch, aber komisch eben.
»Ich finde es komisch, dass sie meint, Svenja zu erkennen. Ich meine, das Bild ist absolut verschwommen und ich sehe nur, dass da hinten vielleicht jemand aus dem Fenster guckt.«
»Harald war sehr fit am Computer«, begann meine Mutter und unterbrach sich, als sie meinen Blick sah. »Harald Wüllenkämper, Erikas Mann, Svenjas Vater – du verstehst?«
»Ich bin ja nicht blöd«, behauptete ich.
»Also: Harald hatte ein Computerprogramm, mit dem er Fotos bearbeiten konnte. Hat sie dir diese Bearbeitungen gezeigt?«
»Nein, hat sie nicht. Aber vielleicht kriege ich die ja jetzt zu sehen. Du meinst auf jeden Fall, dass sie sich nichts irgendwie zusammenspinnt?«
»Das tut sie mit Sicherheit nicht. Ich habe ihr nicht ohne Grund vorgeschlagen, dich um Hilfe zu bitten.«
Ich nickte und stand auf, was Fleckchen zu Anlass nahm, schier auszurasten. Er hüpfte in einem fort kläffend an mir hoch, und wieder einmal fragte ich mich, wie ein solch unscheinbares Wesen zu solchen sportlichen Leistungen in der Lage sein konnte.
»Aus!«, sagte ich und hob meine Brauen, woraufhin Fleckchen sein Werben um mich tatsächlich schlagartig einstellte. »Ich muss jetzt los. Nachher komme ich noch einmal rein – wie versprochen.«
»Na, schauen wir mal«, gab mir meine Mutter noch einen mit, lächelte mich aber durchaus mütterlich an.
*
Auf mein Schellen wurde dermaßen schnell der Türöffner betätigt, dass ich sicher war, Frau Wüllenkämper habe direkt neben der Tür mit dem Finger über dem Knopf auf mich gewartet. Ich stieg die beiden Treppenabsätze hinauf und stand schließlich vor ihr. Sie strahlte mir entgegen.
»Schön, dass Sie Wort gehalten haben«, begrüßte sie mich und streckte mir die Hand entgegen.
Ich verspürte einen leichten Anflug von Pikiertsein, traute sie mir doch wohl tatsächlich zu, dass ich Verabredungen nicht einhielt. Andererseits konnten alle meine Bekannten, meine Freundinnen, Tobias und nicht zuletzt meine Eltern ein Klagelied genau davon singen. Ich ergriff die ausgestreckte Hand und wünschte Frau Wüllenkämper einen guten Morgen.
»Treten Sie ein. Ich habe schon alles vorbereitet«, sagte sie und schloss hinter mir die Wohnungstür.
Sie führte mich in ihr Wohnzimmer, das von einer Sitzgarnitur beherrscht wurde, die aus völlig aus der Zeit gefallenen Polstermöbeln bestand: ein zweisitziges Sofa mit wulstigen Armlehnen und zwei dazu passenden Sesseln. An den Wänden hingen in ungleichmäßigen Abständen und Höhen Drucke mehr oder weniger berühmter Maler. Eine Wand jedoch wurde durch ein Regal verdeckt, in dem kleinere Ziergegenstände und diverse Bücher standen. Aus seinem Zentrum stach ein alter Fernseher heraus. Er war nicht flach und groß, wie eigentlich alle heutzutage sind, sondern erinnerte mich an das Gerät, das ich als Kind bei meinen Eltern erlebt hatte. Links von dieser Sitzgarnitur, unmittelbar am Durchgang zur Küche, stand ein Esstisch mit vier Stühlen, auf deren Sitzflächen vier verschiedenfarbige Kissen lagen. Auf dem Esstisch sah ich einen Ordner. In der Mitte standen eine Schale mit Keksen, ein Milchkännchen, zwei Kaffeebecher und eine Thermoskanne.
»Möchten Sie einen Kaffee? Setzen Sie sich doch bitte, und greifen Sie zu! Brauchen Sie Zucker für den Kaffee?«
Es war deutlich zu spüren. Erika Wüllenkämper war aufgeregt und befürchtete wohl, dass ich es mir anders überlegen und wieder gehen könnte. Ich zog meine Jacke aus, was mein quietschbuntes Hemd, das ich in Südafrika gekauft hatte, freilegte. Ich trug es halboffen über einem weißen T-Shirt und hatte meine Jeans an.
»Was für ein wunderschönes Hemd!«, entfuhr es Frau Wüllenkämper. »Es ist so bunt und so ... na ja ... besonders!«
»Danke«, erwiderte ich, »und: Nein, ich brauche keinen Zucker. Aber einen Kaffee nehme ich gerne.«
Erika Wüllenkämper rieb nervös ihre Hände und setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber. Sie griff nach der Kanne und schenkte ein.
»Frau Wüllenkämper«, sprach ich sie an, »Sie brauchen nicht nervös zu sein. Ich habe genug Zeit mitgebracht. Ich werde mir alles anhören und ansehen.«
Sie lächelte mich an.
»Danke, aber es ist wirklich viel.«
»Das ist in Ordnung! Einen umso besseren Überblick werde ich bekommen. Sollen wir anfangen?«
»Gerne«, erwiderte sie und trank, ebenso wie ich, von dem Kaffee. »Wo wollen wir beginnen?«
»Ich war gerade bei meiner Mutter im Laden. Sie erzählte mir, dass Ihr Mann das Foto bearbeitet hat, das Sie mir gestern gezeigt haben. Kann ich es sehen? Und haben Sie auch den Text, der zu dem Zeitungsfoto gehört?«
Frau Wüllenkämper nickte eifrig, griff zu dem Ordner und öffnete ihn.
»Hier!«, sagte sie und schob ihn mir hin. »Wenn das nicht Svenja ist, dann hat sie eine Doppelgängerin!«
Ich blickte auf zwei Klarsichthüllen. In der linken erkannte ich das Bild aus der Zeitung wieder, das ich gestern bereits gesehen hatte. In der rechten steckten zwei Fotos. Eines war offensichtlich eine Ausschnittsvergrößerung, in der das rechte Heckfenster des BMW zu sehen war. Aus dem Fenster blickte, deutlich erkennbar, eine junge Frau mit halblangen blonden Haaren. Unter diesem Bild steckte das Vergleichsfoto, das ich ebenfalls gestern bereits gesehen hatte. Es war das Bild, das mir Erika Wüllenkämper zuerst vorgelegt hatte.
Tobias ist Fotograf. Auch er arbeitet an seinem Rechner oft mit Bildbearbeitungssoftware. Im März, anlässlich meines Geburtstages, hatte er mir ein Foto geschenkt, das mich auf der Bühne zusammen mit Robbie Williams zeigte. Ich stehe neben ihm, er hat eine Hand um meine Hüfte gelegt, und ich singe mit ihm zusammen in ein Mikrofon hinein, das er mir vor den Mund hält. Mein Mund ist höchstens zehn Zentimeter von seinem entfernt. Ich weiß also, was mit dieser Software möglich ist.
»Mmmh«, sagte ich, und Erika Wüllenkämper spürte meine Skepsis.
Ich blickte sie an und zuckte mit den Schultern.
»Frau Wüllenkämper«, setzte ich an, wurde aber durch eine entschiedene Geste der Frau unterbrochen.
»Hören Sie endlich mit diesem ›Frau Wüllenkämper‹ auf. Ich heiße Erika, wenn dir das recht ist, und ich weiß, was du sagen willst. Am Computer kann man jedes Foto manipulieren. Harald, also mein Mann, hat das mit einer wirklich hochwertigen Software gemacht. Dieses Programm zeichnet jeden einzelnen Schritt der Bearbeitung auf. Er hat kein anderes Bild eingefügt. Ich kann dir das zeigen, wenn du willst.«
Okay, sie kannte sich also aus. Demzufolge musste ich meine Skepsis zur Seite schieben. Ich atmete tief durch.
»In Ordnung. Was ist mit dem Text?«
»Blättere zwei oder drei Seiten zurück.«
Das tat ich. Der Artikel aus dem »Schwäbischen Boten« trug die Überschrift »Raser verursachen erneut schweren Unfall«. Ich begann zu lesen.
Heilbronn, 18.07.2016
In der Nacht von Samstag auf Sonntag kam es auf der Südstraße erneut zu einem schweren Verkehrsunfall, bei dem ein junger Mann ums Leben kam und eine weitere männliche Person und eine junge Frau schwere Verletzungen davontrugen. Wie ein Polizeisprecher mitteilte, war der Unfall vermutlich Folge eines illegalen Autorennens. Nach Zeugenaussagen seien die beiden darin verwickelten Fahrzeuge mit stark überhöhter Geschwindigkeit von der Silcherstraße kommend auf der Südstraße ins Schleudern geraten, wobei einer der Fahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor und gegen die Bäume auf dem Mittelstreifen prallte. Das zweite Fahrzeug konnte nicht rechtzeitig ausweichen und fuhr in die Unfallstelle.
Immer wieder wurden in der Vergangenheit die Silcher- und die Südstraße Schauplatz illegaler Autorennen. Bisher sind sieben Todesopfer und eine zweistellige Zahl von Verletzten zu beklagen. Wiederholt forderte die Opposition im Heilbronner Rat, die beiden Straßen durch verkehrsberuhigende Maßnahmen zu entschärfen. Der Oberbürgermeister stand am Wochenende für eine Stellungnahme nicht zur Verfügung.
»Okay«, sagte ich und lehnte mich zurück. »Ein nüchterner Artikel zu einem dramatischen Sachverhalt. Obwohl das Bild irrtümlich dem Artikel zugeordnet wurde, frage ich mich, aus welchem Anlass es von wem geschossen worden ist und warum es sich im Fotoarchiv der Zeitung befand.«
Erika nickte, blätterte in dem Ordner hin und her und blieb schließlich irgendwo hängen.
»Der Fotograf heißt Tim Borchert. Er hat das Foto im April 2016 aus Recherchegründen gemacht. Zu welchem Sachverhalt haben wir leider nicht erfahren.«
Ich ließ Erika nicht aus den Augen.
»Und das wissen Sie, weil ...«
Ich hatte das Satzende bewusst offengelassen.
»Weil unter dem Foto als Quellenangabe steht ›Foto: TiBo, Archiv‹. Es ist wohl irrtümlich ins Archiv hochgeladen worden. Wie gesagt, wir haben bei der Zeitung angerufen.«
»Schon wieder ein Irrtum?«, wunderte ich mich. »Haben Sie auch mit diesem Borchert gesprochen?«
Erika schüttelte den Kopf.
»Wir haben in der Redaktion darum gebeten, seine Telefonnummer zu bekommen. Man wollte sie uns nicht geben, hat aber versprochen, Herrn Borchert auszurichten, er möge uns zurückrufen. Das hat er leider nicht getan.«
Ich deutete mit meinem Kopf auf den Ordner vor mir.
»Sagen Sie, was ist das eigentlich alles?«
»Das ist die komplette Geschichte unserer Suche nach Svenja, vom Monat ihres Verschwindens an. Von unserem ersten Besuch bei der Polizei bis hin zu unserem Zusammentreffen im Café Einhorn. Vermutlich werde ich auch nachher, wenn du gegangen bist, eine Notiz über unser Gespräch verfassen.«
Ich lächelte Erika etwas unsicher an.
»Entschuldige, Erika, aber das klingt ... etwas ... wahnhaft.«
Schließlich hatte ich es doch geschafft, zum »Du« überzugehen.
»Mila«, erwiderte sie und beugte sich nach vorne, um ihre Hand auf meine zu legen, »das alles haben Harald und ich getan, weil wir uns so sicher waren, dass es sich eines Tages auszahlen wird. Es mag auf dich oder andere wahnsinnig wirken, aber das ist mir egal. Svenja ist irgendwo da draußen, und sie ist verzweifelt und traurig. Ich will sie finden, und wenn es so ist, dass sie diesen Weg freiwillig gegangen ist, was ich bezweifle, dann soll sie es mir ins Gesicht sagen!«
Ich saß da, mit offenem Mund und vor Staunen gehobenen Augenbrauen. Eine solch leidenschaftliche Antwort hatte ich nicht erwartet. Das, was ich bis jetzt gesehen und gehört hatte, entbehrte nicht einer gewissen Schlüssigkeit. Ich würde Erika helfen, und wenn es nur dazu führte, dass ich am Ende einen Artikel über die fünfzehntausend verschwundenen Menschen in Deutschland schreiben und verkaufen konnte.
Erika hatte meine Hand bereits wieder freigegeben, so dass ich meine Kaffeetasse greifen und umklammern konnte.
»Ich kann mir das Ganze jetzt unmöglich anschauen. Willst du mir erzählen, was dein aktueller Recherchestand ist?«
»Das ist schnell erzählt«, erwiderte Erika. »Am 16. Februar 2015 war Svenja hier und hat mit Harald und mir geredet. Davon habe ich dir bereits gestern erzählt. Gegen achtzehn Uhr ging sie. Am Mittwoch darauf wollte sie mit uns ein neues Bett für sich kaufen gehen. Sie erschien nicht zum verabredeten Termin. Wir haben angerufen, auch auf ihrem Handy, haben sie aber nicht erreicht. Wir haben bis zum Donnerstag gewartet und sind dann zu ihrer Wohnung gegangen. Wir haben einen Schlüssel. Ich vermute, dass sie am Montag gar nicht zu Hause angelangt ist. Das Bett war nämlich unberührt, und auch ihre Nachbarn haben sie seitdem nicht mehr gesehen.«
»Wo hat sie gewohnt?«
»Ihre Wohnung ist auf dem Haydnweg.«
Ich stutzte.
»Ist?«
»Ja«, bestätigte Erika. »Sie hat die Wohnung noch. Ich zahle die Miete.«
»Die Wohnung ist noch da? So, wie sie sie verlassen hat?«
»Ja. Harald und ich haben sie umgekrempelt und natürlich ihre wichtigen Unterlagen rausgeholt. Sie sind auch alle in diesem Ordner.«
»Wie ging es weiter?«
»Am Freitag sind wir zur Polizei gegangen, mit mäßigem Erfolg, wie ich dir gestern schon sagte. Und dann haben wir angefangen, Harald und ich. Svenja hatte von uns ein Smartphone mit Vertrag geschenkt bekommen. Wir luden uns alle Einzelverbindungsnachweise herunter und klapperten alle Kontakte ab. Etwa ein halbes Jahr später kamen wir nicht mehr an ihre Daten ran. Offensichtlich hatte jemand ihren Zugang geändert oder den Vertrag sogar gekündigt ...«
»Das geht mir jetzt zu sehr ins Detail«, unterbrach ich Erika. »Hatte Svenja einen Computer?«
»Natürlich!«, erwiderte sie. »Der steht jetzt in Haralds Arbeitszimmer.«
»Hat er ihn durchsucht?«
Erika nickte.
»Wir haben festgestellt, dass sie Kontakte in Kreise hatte, von denen wir nichts ahnten. Etwas muss dann geschehen sein, worauf sie unter Druck gesetzt wurde.«
»Was soll das gewesen sein?«
Erika zuckte mit den Schultern.
»Geld, Schulden, eine Beziehung ... Wir haben es nicht genau feststellen können. Auf jeden Fall erzählte uns eine ihrer Freundinnen, Svenja habe mal von einem Mann gesprochen, den sie kennen gelernt hatte – ein Russe.«
»Wann war das?«
»Irgendwann im Januar 2015. Sie konnte uns das nicht auf den Tag genau sagen.«
Mir brummte der Kopf. Aber ich musste mir eingestehen, dass ich Erika längst nicht mehr so skeptisch zuhörte wie zu Beginn. Irgendetwas reizte mich an dieser Geschichte, und ich war bereit, in sie einzutauchen. Bei einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass die Zeit schon weit fortgeschritten war.
»Ich habe jetzt ein Problem, Erika«, begann ich, aber die Angesprochene hob eine Hand zum Zeichen, dass sie mich verstand.
»Du musst weg«, kam sie mir zuvor und stand auf. »Wenn du willst, kannst du den Ordner mitnehmen und ihn dir in aller Ruhe ansehen. Ich kenne ihn mittlerweile auswendig. Ich habe auch überlegt, ob es Sinn macht, dir Svenjas Computer zu überlassen, aber Harald hat ihn wirklich bis in die hintersten Ecken durchsucht. Alles Wichtige ist im Ordner.«
Nun, das war ein nettes Angebot, aber ich war zu Fuß und nicht bereit, diesen Ordner durch Speldorf zu schleppen.
»Ich nehme ihn gerne mit, danke. Vielleicht kann ich ihn erst einmal bei meiner Mutter im Laden hinterlegen und ihn mir später abholen, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin.«
»Tu das«, sagte Erika und strahlte mich an. »Danke, dass du mir hilfst«, schob sie hinterher und machte Anstalten, mich zu umarmen. Ich ließ es zu.
»Aber ich kann dir nichts versprechen«, meinte ich, sie warnen zu müssen.
»Schon klar, aber wenigstens bin ich nicht mehr alleine.«
Ich klemmte mir den Ordner unter den Arm. Erika lief vor mir her, um die Türen zu öffnen.
»Ich melde mich bei dir«, sagte ich, kurz bevor sie die Haustür hinter mir schloss.
Sie nickte mir lächelnd zu. Sekunden später stand ich mit dem schweren Ordner vor der geschlossenen Ladentür meiner Mutter. Es war Mittagszeit. Der Laden war verwaist. Also machte ich mich doch zu Fuß und mit Ordner auf den Weg in die Beethovenstraße.
*
Als ich, nachdem ich alle meine Termine abgearbeitet hatte, gegen halb sieben nach Hause zurückkehrte, blinkte mein Anrufbeantworter wie ein Ufo kurz vor dem Start in den Hyperraum. Ich warf meine Jacke auf das Sofa, streifte die Schuhe ab und drückte den Knopf am AB, um ihn abzuhören.
Der erste Anrufer war Tobias, der mir mitteilte, dass er etwas später am Abend zu mir kommen würde, da er bis zum Ladenschluss in seinem Geschäft bleiben müsse. Gegen halb zehn würde es schon werden.
Der Redaktionsleiter der WAZ war der zweite. Er fragte nach, wieso er den ersten Artikel und die Fotos aus Südafrika noch nicht habe. Ich hätte versprochen, ihm das Ganze heute zu übermitteln. Er hatte recht und ich sofort ein schlechtes Gewissen. Ich würde das gleich tun.
Das Küchenstudio, bei dem ich vor vier Wochen einen neuen Backofen bestellt hatte, teilte mir mit, das Gerät sei eingetroffen. Ich möge mich bitte mit ihnen in Verbindung setzen, um einen Liefer- und Einbautermin zu verabreden.
Es folgten drei Anrufe ohne Sprachnachricht. Zum Schluss lauschte ich noch Tina, die meinte, es sei mal wieder Zeit für einen Filmabend mit Franzi, Seher und mir.
»Gerne, aber nicht heute«, murmelte ich vor mich hin und löschte die Nachrichten.
Dann machte ich mich bereit für mein Abendprogramm. Ich zog mir meine Freizeitkluft an und belegte zwei Scheiben Brot mit Käse. Das warme Essen für den heutigen Tag hatte ich mir bereits geleistet, als ich noch unterwegs war. Ich legte den Ordner auf meinem Sofatisch ab, goss mir ein großes Glas Cola ein und machte mich an die Arbeit. Zuerst warf ich meinen Laptop an und lud meinen Südafrika-Text und die Fotos auf den WAZ-Server hoch. Dann war der Ordner an der Reihe.
Ich war so tief in den Inhalt des Ordners eingetaucht, dass ich um zwanzig vor zehn regelrecht aufschreckte, als die Türglocke ertönte. Es war Tobias. Er begrüßte mich zärtlich, sagte mir, wie sehr er mich vermisst und sich auf mich gefreut hatte, trat ins Wohnzimmer und zuckte zusammen, als er die ausgebreiteten Seiten des Ordners auf dem Sofatisch sah.
»Du arbeitest noch?«, fragte er und setzte sich in einen Sessel.
»Ja ... nein ... doch, irgendwie ja«, versuchte ich mich an einer Erklärung. »Das sind die gesammelten Werke der Wüllenkämpers. Erika hat sie mir überlassen, und ich arbeite sie gerade durch.«
Ich nahm meinen Sofaplatz wieder in Beschlag.
»Wüllenkämpers ... Erika ... hilf mir mal.«
»Gestern habe ich dir von der Frau erzählt, die mich im Café Einhorn angesprochen hat ...«
Tobias winkte ab und beugte sich nach vorne.
»Alles klar! Die mit der Tochter, die seit drei Jahren verschwunden ist.«
»Genau. Sie haben über die gesamte Zeit akribisch Protokoll geführt. Dabei ist dieser Ordner entstanden. Ich muss sagen: Ich bin beeindruckt.«
»Ist denn etwas dran an der Geschichte?«
Ich nickte und sah Tobias an, der sich eben eine Haarsträhne aus dem Gesicht pustete.
»Jedenfalls genug, um dranzubleiben«, erwiderte ich. »Es ist mir mittlerweile rätselhaft, warum die Polizei darauf nicht reagiert hat.«
»Kannst du mir eine Kurzfassung geben?«
»Klar. Am 16. Februar verlässt Svenja das elterliche Haus und ist seitdem verschwunden. Drei Tage später gehen die Eltern zur Polizei und melden Svenja als vermisst. Sie holen aus Svenjas Wohnung alle wichtigen Unterlagen und ihren Computer heraus. Eine Freundin von Svenja erzählt den Eltern, Svenja habe davon geredet, dass sie im Januar einen Mann kennen gelernt hat. Einen Namen konnte sie nicht nennen, aber sie meinte, es sei wohl ein Russe gewesen. Die Wüllenkämpers laden sich die Einzelverbindungsnachweise von Svenjas Mobilfunkvertrag herunter und stoßen auf Kontakte, von denen sie – die Eltern – nichts ahnten. Im September 2015 kommen sie an den Account nicht mehr heran. Im Juli 2016 erscheint dieser Zeitungsartikel mit dem Foto, den die Eltern anonym zugeschickt bekommen. Herr Wüllenkämper bearbeitet das Foto mit folgendem Ergebnis ...« Ich wühlte in den Unterlagen und schob den aufgeklappten Ordner in Richtung Tobias. »Die Eltern gehen wieder zur Polizei, wo man sie abwimmelt. Sie forschen eigenständig nach und stoßen auf den Namen des Fotografen, der das Foto aus der Zeitung gemacht hat. Man erzählt ihnen, das Bild sei ›irrtümlich‹ in die Zeitung gelangt und von dem Fotografen – Borchert heißt er – im Rahmen einer Recherche gemacht worden. Außerdem wurde es ›irrtümlich‹ ins Archiv der Zeitung aufgenommen. Ende August 2017 stirbt Erikas Mann an einem Herzinfarkt. Ein paar Wochen später ruft Svenja ihre Mutter an. Davon habe ich dir gestern schon erzählt.«
»Ein bisschen viele Irrtümer, findest du nicht?«, kommentierte Tobias.
»Ganz genau«, erwiderte ich.
»Also willst du daran arbeiten«, sagte Tobias nach einem Moment des Schweigens.
»Ja«, bestätigte ich, »das hat doch was, oder? Und wenn am Ende für Erika nur herauskommt, dass Svenja lebt und es ihr gut geht – auch wenn sie vielleicht nicht das macht, was sich die Wüllenkämpers für ihre Tochter erträumt haben.«
»Aber du weißt wieder einmal nicht, worauf du dich da einlässt.«
Ja. Auch das stimmte. Aber Tobias kennt das. Wir haben zusammen schon Projekte durchgezogen, wo wir uns beide anschließend gefragt haben, warum wir so blöd waren, das zu tun. Erst im letzten Jahr hatten wir in dubiosen Bank- und Pharmageschäften recherchiert und waren mit viel Glück relativ heil davongekommen, nachdem einer unserer Freunde in seiner Wohnung erschossen worden war. Wir wissen beide, was Gefahr bedeutet. Zumindest ich bin nicht bereit, vor solchen Unwägbarkeiten den Schwanz einzuklemmen. Ich bin immerhin Journalistin, und wenn meine Arbeit mir einen gut verkäuflichen Artikel beschert und vielleicht zum Ergebnis hat, dass eine Schweinerei auffliegt, dann ist mir das nur recht.
»So etwas nennt man ›Recherche‹«, klärte ich ihn also auf. »Das sollte dir doch nicht neu sein.«
Ein listiges Funkeln schlich sich in die Augen von Tobias, wodurch sein unwiderstehliches Grinsen perfektioniert wurde.
»Danke für die Aufklärung«, erwiderte er. »Wie sieht dein Plan aus?«
Ich konnte nicht anders. Es war wieder einmal um mich geschehen.
»Ich muss erst einmal etwas anderes recherchieren«, säuselte ich, stand auf und baute mich vor ihm auf. Dann schob ich seinen Oberkörper ins Polster, setzte mich quer über seinen Schoß und küsste ihn stürmisch.
*
Am nächsten Vormittag – Tobias war bereits in seinem Fotostudio auf der Schloßstraße – saß ich in Shorts und T-Shirt an meinem Küchentisch und trank die zweite Tasse Tee. Vor mir lag ein Block auf dem Tisch, in der Hand hielt ich einen gelb-schwarzen BVB-Kugelschreiber. Ich war dabei, mir eine Liste von Personen zu erstellen, die ich demnächst kontaktieren würde. Ich hatte mir die Namen aus dem Ordner herausgeschrieben. An erster und zweiter Stelle prangten aber die Namen der Leute, die uns auch im letzten Jahr bei dieser Banken- und Pharma-Geschichte unterstützt hatten: Dr. Alexander Janssen, ein Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt »Wirtschaft« aus Düsseldorf und Beatrix von Bergen, Erste Hauptkommissarin beim KK 23 in Essen. Danach folgte Kriminalhauptkommissar Klaus-Peter Weber vom KK 43. Er war derjenige, der die Wüllenkämpers ‒ und zuletzt Erika – auch bei ihrem vierten Versuch, die Polizei mit ins Boot zu holen, abgewiesen und vertröstet hatte. Auch mit der Freundin, sie hieß Jenniffer Blank, wollte ich reden. Sie hatte Svenjas Eltern von dieser vermeintlichen Männerbekanntschaft erzählt. Außerdem waren da noch ein paar Menschen, mit denen Svenja vor ihrem Verschwinden mehr oder weniger viel Kontakt gehabt hatte – ehemalige Schulfreundinnen und -freunde, aber auch eine Handvoll Namen, die Erika und Harald aus den Einzelverbindungsnachweisen von Svenjas Handy gefiltert hatten und die sie nicht einordnen konnten, die ihnen schlichtweg unbekannt waren. Ich war fertig und zählte nach. Zehn Personen standen auf meiner Liste, kein Pappenstiel. Also ging ich ans Werk und rief Alexander, den Anwalt, an. Der meldete sich umgehend.
»Mila! Was für eine Überraschung! Wie geht es dir?«
»Danke, großartig. Ich kämpfe noch ein bisschen damit, mich von Südafrika abzunabeln, aber es gelingt von Tag zu Tag besser.«
»Eigentlich ist es eine Schande, dass wir uns seit eurer Rückkehr noch nicht gesehen haben. Wollen wir nicht mal einen Termin ausmachen?«
»Gerne, Alexander. Aber erst habe ich noch ein anderes Anliegen.«
Der Anwalt schien ein wenig überrascht. Jedenfalls herrschte am anderen Ende der Leitung Stille. Vielleicht wartete er aber auch nur darauf, dass ich fortfuhr.
»Klar. Was kann ich für dich tun?«, ermutigte er mich.
Ich erzählte ihm von den Wüllenkämpers.
»Aha. Und du fühlst dich jetzt verpflichtet ...«
»Nein, nein«, unterbrach ich ihn im Ansatz, »verpflichtet fühle ich mich zu gar nichts! Ich will dem nachgehen. Ich habe der Frau nichts versprochen, aber ich finde das Ganze schon merkwürdig. Du musst dir mal vorstellen, was die beiden Eltern alles recherchiert haben. Das gibt einem schon zu denken.«
»Und warum weigert sich die Polizei, der Sache zu folgen?«
»Das wüsste ich auch gerne«, erwiderte ich. »Ich habe den Ordner vor mir liegen. Das müsste eigentlich ein gefundenes Fressen für die Polizei sein.«
»Gut, vielleicht kann ich ja mal bei Gelegenheit einen Blick hinein werfen. Wie kann ich dir jetzt helfen?«
»Auf einem Foto, das mir vorliegt, stehen zwei Männer an einem Auto, in dem die Wüllenkämpers glauben, ihre Tochter erkannt zu haben. Ich wüsste gerne, wer die beiden Männer sind. Außerdem habe ich den Namen des Fotografen, der dieses Foto gemacht hat. Er heißt Tim Borchert. Vielleicht könnt ihr ihn ausfindig machen.«
»Okay, das kann aber eine Weile dauern. Mein Team ist zurzeit ziemlich eingespannt. Schickst du mir das Foto?«
»Klar. Umgehend.«
»In Ordnung. Gerade kommt ein Anruf auf der anderen Leitung rein, Mila. Ich melde mich.«
Und ehe ich mich versah, war Alexander weg, die Leitung tot. Ich scannte das Bild ein und schickte es an Alexanders Mailadresse. Dann wählte ich die nächste Nummer aus dem Speicher, die von Beatrix von Bergen, die sich allerdings nur via Sprachbox meldete. Ich hinterließ ihr einen kurzen Gruß und bat sie, mich bei Gelegenheit zurückzurufen.
Jennifer Blank, Svenjas Freundin, erreichte ich aber. Sie war sehr reserviert. Das mag daran gelegen haben, dass ich mich sofort als Journalistin vorgestellt hatte.
»Was interessiert Sie an Svenjas Geschichte?«, fragte sie, und es klang so, als wolle sie wissen, was mich das alles denn anging.
Ich erzählte ihr, ich arbeitete an einer Reihe über in Deutschland vermisste Personen und sei während der Recherchen auf Svenjas Fall gestoßen.
»Sind Sie bereit, mit mir zu reden?«, fragte ich und stellte mich innerlich schon auf eine Abfuhr ein.
»Von mir aus.«
»Wann und wo?«
»Jetzt und hier?«, erwiderte Frau Blank und gluckste erheitert. »Ich bin zu Hause und hätte Zeit. Wenn Sie wollen, können Sie vorbeikommen.«
Ich wollte. Jennifer Blank wohnte im Dichterviertel auf der Uhlandstraße. Ich verabredete mich mit ihr für dreizehn Uhr. Vorher jedoch wollte ich mich erkundigen, ob es Sinn machte, nach meinem Besuch bei Frau Blank das Polizeipräsidium in Essen aufzusuchen. Kriminalhauptkommissar Weber meldete sich mit angenehmer Stimme. Ich erzählte ihm, wer ich bin und warum ich anrief. Dabei benutzte ich die gleiche Geschichte, die ich auch Jennifer Blank gegenüber ausgepackt hatte.
»Ich erinnere mich an den Fall«, sagte er. »Aber für uns war es kein Fall. Wir haben in der Angelegenheit nicht ermittelt.«
Ich bestätigte das.
»Trotzdem würde ich gerne kurz mit Ihnen reden, wenn das möglich ist. Passt es Ihnen, wenn ich gegen fünfzehn Uhr bei Ihnen reinschaue?«
»Versuchen Sie es«, stimmte er zu. »Ich werde unten bei der Anmeldung Bescheid sagen. Wie war noch gleich Ihr Name?«
Ich wiederholte meinen Namen und nannte ihm sogar meinen vollständigen Vornamen: Michaela. Damit hatte ich meine nächste Verabredung.
*
Es war ungewöhnlich früh ungewöhnlich warm in diesem Jahr. Gerade einmal hatte der meteorologische Sommer begonnen – bis zum kalendarischen waren es noch vierzehn Tage – und schon seit Ende April hatten mit kurzen Unterbrechungen Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad geherrscht. Mir war das durchaus recht, auch wenn sich nicht wenige Menschen – in irgendeiner trüben Ecke meines Bewusstseins auch ich – Gedanken darüber machten, wie das noch weitergehen sollte. Wie würde das im »echten« Sommer aussehen? Temperaturen von fünfunddreißig oder gar vierzig Grad? Das wäre selbst mir zu viel, die ich Wärme und Sommer über alles liebe. Egal. Ich jedenfalls gehöre nicht zu den Leuten, die im Winter darüber klagen, dass es zu kalt ist, und die sich im Sommer über zu viel Wärme beschweren. Wenn ich eines in meinem Leben gelernt hatte, so war das, dass wir nun mal auf das Wetter keinen Einfluss haben. Und das war gut so. Vor einigen Jahren hatte ich einmal einen Science-Fiction-Film gesehen, in dem die Menschen – jedenfalls die in hochentwickelten Staaten – das Wetter kontrollieren konnten. Und wozu haben sie das genutzt? Nicht etwa dazu, Wasser in über Jahrzehnte ausgetrocknete Gebiete der Welt zu bringen oder dafür zu sorgen, dass sich alle Völker über reichhaltige Ernten freuen konnten. Nein. Sie schickten ihren Feinden Serien von Hurrikanen und Tornados oder Unwetter ungeheuren Ausmaßes, machten ganze Ernten mit Hagelschlägen nieder, so dass Hunderttausende elend vor die Hunde gingen. Die Menschheit führte wie gewohnt Krieg. Und das nicht mehr mit Gewehren und Bomben, sondern mit Wettergeneratoren.
Nun gut. Worauf wollte ich hinaus? Richtig. Es war Sommer, und ich freute mich darüber. Nicht ein winziges Wölkchen war am Himmel über Mülheim auszumachen, und so fuhr ich mit meinem roten Käfer Richtung Stadtmitte, bog am Eppinghofer Kreisel rechts in die Heißener Straße ein und dann nach etwa zweihundertfünfzig Metern links in die Uhlandstraße. Ich parkte mein Auto, schaltete das Radio ab und kurbelte das Fenster hoch, bevor ich ausstieg. Zu meiner Freude musste ich nur noch die Straße überqueren. Ich lief auf einen dreistöckigen Altbau zu. Aus einem der geöffneten Fenster hörte ich lauten Kindergesang. In mich hineingrinsend studierte ich das Klingelbrett. Oben rechts prangte der Namen Jennifer Blank und in kleineren Buchstaben darunter stand: »und Sarah«. Ich drückte den Knopf. Der Gesang erstarb, und ich hörte die fröhliche Stimme eines Kindes, das der grammatischen Verzwicktheit der deutschen Sprache noch nicht in Gänze mächtig war.
»Ich auf!«
Es verging eine Weile, bis ich den Türöffner summen hörte. Ich stellte mir vor, dass die Zwergin mit Hilfe ihrer Zehen ihre Körpergröße erst auf die entsprechende Höhe hatte schrauben müssen. Relativ angestrengt erreichte ich den dritten Stock. Eine junge Frau stand in der Wohnungstür, an einem ihrer Beine klammerte so etwas wie Pippi Langstrumpf. Sarah, Jennifer Blanks Tochter, war blond. Zwei Zöpfe standen links und rechts von ihrem Kopf ab, jeder einzelne mit einem roten Schleifchen verziert, und sie schaute mir neugierig und mit wachem Blick entgegen.
»Hallo«, schnaufte ich. »Meine Güte, ist das hoch!«
»Wem sagen Sie das?«, entgegnete Jennifer mitleidlos.
Sie war eine äußerst angenehme Erscheinung. Ihre kurzen kastanienbraunen Haare umrahmten ein feingeschnittenes Gesicht mit lustig blitzenden Augen. Die Lippen waren ungeschminkt, aber dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – von einer Sinnlichkeit, um die ich sie beneidete. Jennifer trug ein weißes T-Shirt und kurz über dem Knie abgeschnittene Jeans. Sie war etwa so groß wie ich und schlank.
Wir begrüßten uns mit Handschlag.
»Das ist Sarah«, stellte Jennifer ihre Tochter vor.
Als ich dieser die Hand reichte, klammerte sie sich noch etwas fester an das Bein ihrer Mutter und drehte sich genant weg. Mädchen in dem Alter tun sowas. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich glaube, ich war erst mit fünf oder sechs Jahren in der Lage, fremden Menschen die Hand zu geben. Das behauptet jedenfalls meine Mutter.
Wir betraten gemeinsam die Wohnung, wobei sich Sarah immer in der Nähe ihrer Mutter hielt und mich misstrauisch beäugte. Im Wohnzimmer standen beide Fenster offen. Jennifer Blank musste meinen Blick gesehen haben.
»Wenn ich die für nur zehn Minuten schließe, wird es hier unerträglich heiß«, meinte sie, mir erklären zu müssen, und bot mir einen Platz an. »Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Tee, Wasser?«
Ich war mit einem Tee einverstanden. Während Jennifer ihn holte, stand Sarah hinter dem Türpfosten und beobachtete mich kritisch. Immer wenn sich unsere Blicke trafen, versteckte sie sich vollständig und tauchte nach ein paar Sekunden wieder auf. Schließlich saß auch Jennifer, ich trank einen Schluck von meinem Tee, und Sarah krabbelte auf Jennifers Schoß.
»Erzählen Sie mir zuerst, wieso Sie sich plötzlich für Svenjas Verschwinden interessieren?«, begann Jennifer Blank ohne großen Anlauf.
Ich beschloss, ehrlich zu sein. Schließlich war es durchaus möglich, dass ich Frau Blanks Hilfe noch einmal benötigte.
»Ich will ganz offen zu Ihnen sein«, sagte ich also. »Svenjas Mutter hat mich gebeten, in der Sache tätig zu werden. Sie glaubt, Hinweise darauf zu haben, dass Svenja nicht freiwillig verschwunden ist.«
»Ja«, nickte die junge Frau, »das war eine merkwürdige Geschichte damals.«
»Wann haben Sie Svenja zuletzt gesprochen?«
»An dem Wochenende vorher. Wir waren am Samstag zusammen in einem Club. Dann hat sie bei mir übernachtet und ist nach einem Sonntagsspaziergang zu sich nach Hause gegangen. Und am Montag, nach dem Besuch bei ihren Eltern, war sie dann verschwunden.«
»Wie war sie damals? War sie wie immer?«
»Ja. Wenn etwas anders war, dann höchstens, dass sie viel lockerer war als sonst. Sie litt ein wenig darunter, nicht so recht zu wissen, was sie nach dem Abi mit sich anstellen sollte. Das war häufig Thema zwischen uns. Sie hat anderthalb Jahre lang gejobbt, in erster Linie hat sie gekellnert. Sie komme sich so unnütz vor, sagte sie oft, aber an diesem Wochenende war sie richtig gut drauf.«
»Was war geschehen?«
»Sie hat schon Wochen vorher davon geredet, dass sie endlich klarer sehe. Sie wollte studieren und hatte wohl auch konkrete Vorstellungen, die sie mir aber erst sagen wollte, wenn alles in trockenen Tüchern sei. Deshalb hatte sie sich ja für den Montag mit ihren Eltern verabredet.«
»Hatte sie einen Freund?«
Sarah war auf dem Schoß ihrer Mutter eingeschlafen. Frau Blank hob sie hoch und stand auf.
»Ich bringe sie in ihr Bett«, erklärte sie. »Sie macht jetzt ihren Mittagsschlaf.«
Als sie wenige Minuten später zurückkehrte, schloss sie sofort an meine letzte Frage an.
»Wenn Sie einen festen Freund meinen, dann sicher nicht. Das hätte ich gewusst. Sie war eine sehr aufgeschlossene junge Frau und außerdem ausgesprochen hübsch. Wenn wir zusammen unterwegs waren, in Clubs oder auf Partys, dauerte es nie lange, bis sie einen Typen an ihrer Seite hatte. Sie fand das immer ›ganz nett‹, wie sie sagte. Aber dass sie sich so richtig auf diese Männer eingelassen hätte, kann man nicht sagen.«
»Was ist mit dem Russen, von dem Sie den Wüllenkämpers erzählt haben?«
Jennifer schaute mich verwundert an.
»Welcher Russe?«
»Erika sagte, sie hätten ihr erzählt, dass Svenja im Januar 2015 einen Mann kennen gelernt hat. Sie hätten den Namen nicht gewusst, meinten aber, er sei ein Russe gewesen.«
Frau Blank schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ich habe nicht gesagt, er sei Russe. Ich sagte, der Name sei russisch, weil er mir nicht sofort eingefallen ist. Er hieß Boris, aber ich habe ihn nie gesehen, und er war auch nie wieder Thema zwischen uns.«
»Fanden Sie das nicht merkwürdig?«
»Ja, doch, eigentlich schon. Sie hat mir Mitte Januar von ihm erzählt. Irgendwann habe ich mal näher nachgefragt, aber sie hat sehr abweisend reagiert.«
»Was hat sie über ihn erzählt?«
»Dass es ihn gibt und dass er Boris heißt.«
»War sie verliebt? Ich meine, sie war zu diesem Zeitpunkt zwanzig Jahre alt. Da ist man doch irgendwie anders drauf, wenn man verliebt ist. Ich habe damals immer die neuesten Geschichten mit meinen Freundinnen geteilt und konnte das gar nicht lange für mich behalten.«
Das war unglaublich untertrieben. Ich erinnere mich genau, dass ich mal ein Date mit einem Mann abgebrochen habe, weil ich dringend Franzi von ihm erzählen wollte.
Jennifer Blank zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß, was Sie meinen. Aber Svenja war da anders. Ich hatte manchmal den Eindruck, dass sie mit den Männern spielte.«
»Inwiefern?«
»Na ja, sie hat sich nie so richtig emotional engagiert, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es ist schon übertrieben, wenn ich sage ›Sie hat von ihm erzählt‹. Sie hat ihn erwähnt, ist wohl korrekter. Wir saßen zusammen in einem Café, als sie plötzlich auf die Uhr schaute und sagte: ›Oh, ich muss weg. Boris wartet.‹ Ich fragte: ›Welcher Boris? Ein Mann? Verschweigst du mir etwas?‹ Ihre Antwort war typisch Svenja. ›Klar ist er ein Mann. Ich melde mich.‹ Sie gab mir einen Kuss und verabschiedete sich. ›Ist das was Ernstes?‹, fragte ich noch, doch Svenja zuckte nur mit den Schultern. Und dann war sie weg.«
»Was glauben Sie, was mit Svenja passiert ist?«
Jennifer Blanks Gesichtsausdruck veränderte sich, ihr Blick wurde dunkel und sie schüttelte leicht ihren Kopf.
»Sie ahnen nicht, welche Gedanken ich mir schon dazu gemacht habe. Ich habe schlicht keine Ahnung, aber ich kann voll und ganz nachvollziehen, dass ihre Eltern nicht an ein freiwilliges Verschwinden glaubten. Dazu war sie vorher viel zu energiegeladen und zielstrebig. Sie hatte etwas vor und freute sich darauf.«
Was immer das gewesen sein mochte, dachte ich, während ich einen Zettel aus der Tasche zog. Ich entfaltete ihn und gab ihn an Frau Blank weiter.
»Schauen Sie einmal«, sagte ich, »die Wüllenkämpers hatten einige Monate nach dem Verschwinden ihrer Tochter noch Zugriff auf ihr E-Mail-Konto. Dieser Ausdruck stammt aus dem Adressbuch. Können Sie mit einem der Namen etwas anfangen?«
Jennifer betrachtete das Blatt hochkonzentriert. Schließlich schüttelte sie den Kopf.
»Was sind das für Adressen und Namen?«
»Das wissen wir nicht«, erwiderte ich. »Merkwürdig finde ich aber, dass Sie von diesem Boris erzählen und sich gleichzeitig im Adressbuch von Svenjas Mailkonto diese Namen finden. Sie kennen keinen von ihnen?«
»Nein. Sicher nicht. Haben Sie denn nicht mal versucht, Kontakt mit ihnen aufzunehmen? Ich meine, das sind Mailadressen und auch komplette Namen! Es muss doch herauszufinden sein, wer diese Leute sind!«
Jennifer Blank hatte recht. Ich würde Erika fragen müssen, ob sie und ihr Mann das vielleicht versucht hatten. In dem Aktenordner war dazu auf jeden Fall nichts zu finden gewesen.
»Wissen Sie von dem Foto und von Svenjas Anruf bei der Mutter im letzten Jahr?«
»Nein! Welches Foto? Welcher Anruf?«
Frau Blank war ehrlich konsterniert. Ich erzählte es ihr.
»Nein! Ich hatte keine Ahnung! Aber das ist ja ... das ist doch ... Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll! Was sagt denn die Polizei dazu?«
Ich zuckte mit den Schultern. Im selben Moment quäkte es aus der Tiefe der Wohnung. Sarah meldete sich zurück. Ich stand auf.
»Sie haben keinen Hinweis auf eine Straftat«, antwortete ich. »Frau Blank, ich danke Ihnen für dieses Gespräch. Darf ich mich noch einmal melden, wenn mir noch etwas einfällt?«
»Aber sicher«, erwiderte Jennifer, die sich ebenfalls erhoben hatte. »Aber sag doch bitte Jennifer zu mir. So weit sind wir altersmäßig nicht auseinander.«
»Einverstanden. Ich heiße Mila.«
Ich übergab ihr noch meine Karte und trat kurz darauf ins gleißende Sonnenlicht dieses Junitages.
*
Auf der Fahrt zum Polizeipräsidium nach Essen stellte ich mir die Frage, was ich denn jetzt Neues erfahren hatte. Ich hatte Jennifer, Svenjas Freundin, kennen gelernt. Sie hatte mir bestätigt, dass es im Leben von Svenja einen »Boris« gab. Welche Rolle er für sie gespielt hatte, war völlig ungewiss. Ich hatte ein wenig mehr darüber gehört, wie Svenja tickte, dass sie es mit Männerbekanntschaften nicht ganz so ernst nahm. Das kannte ich von jungen Frauen. Ich war in dem Alter genau so. Jetzt, seit ich mit Tobias zusammen bin, verhält es sich damit natürlich anders. Auch Jennifer hatte mit den Namen aus Svenjas Adressbuch nichts anfangen können, mir aber letztlich den Tipp gegeben, es doch einfach mal mit einer Kontaktaufnahme per Mail zu versuchen. Dass mir dieser Gedanke noch nicht selbst gekommen war, ärgerte mich etwas. Ich würde mir zu einem späteren Zeitpunkt überlegen, wie genau ich das anstellen wollte.
Meinen Käfer auf dem Parkplatz vor dem Präsidium abzustellen, erwies sich als zu anspruchsvolles Unterfangen. Also fuhr ich ein paar Straßen weiter und wurde in der Moorenstraße fündig. Dem Wachhabenden bei der Anmeldung im Präsidium nannte ich meinen Namen und verriet ihm, dass ich zu Hauptkommissar Weber wollte, der mich erwartete.
»Ich hörte davon«, kommentierte der Beamte meine Worte und griff zum Telefonhörer.
Als er aufgelegt hatte, sprach er mich wieder an.
»Sie können sich gerne in den Warteraum gegenüber setzen. Herr Weber wird Sie abholen. Er lässt Ihnen ausrichten, dass es noch eine Viertelstunde dauern kann.«
Ich setzte mich also in den schmucklosen Warteraum für Besucher und beschloss, die Zeit mit einem Anruf bei Erika zu überbrücken. Ich konfrontierte sie mit dem Namen »Boris«, den sie noch nie gehört hatte, und fragte, ob ihr Mann oder sie versucht hatten, mit einer der fremden Adressen in Kontakt zu treten. Auch das verneinte sie. Der Gedanke sei ihrem Harald zwar auch mal gekommen, man habe das aber schließlich nicht weiter verfolgt. Sie freute sich darüber, dass ich mit Jennifer gesprochen hatte und so eifrig bei der Sache war.
Und dann stand plötzlich Klaus-Peter Weber vor mir und lächelte mich an. Ich drückte das Gespräch weg und erhob mich langsam. Selbst als ich aufrecht vor ihm stand, musste ich noch
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Kurt Jahn-Nottebohm
Cover: Ulrike Nottebohm
Lektorat: Gabriele Bäcker, Ulrike Nottebohm
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2020
ISBN: 978-3-7487-4214-2
Alle Rechte vorbehalten