Das Wetter passte. Meine Schuhe dagegen nicht. Ich stakste entsprechend storchig, untergehakt bei meiner Freundin Franzi, durch den Morast, den der Dauerregen auf den Friedhofswegen hinterlassen hatte. Wasser von oben und von unten hatte meine durchaus angemessene Garderobe durchweicht. Meine Haare klebten am Kopf und im Gesicht. Vor ein paar Minuten hatte ein älterer Mann sein Mitleid mit mir entdeckt und ritterlich seinen Schirm über mein Haupt gehalten. Zu spät, denn der Regen hatte unmittelbar danach nachgelassen und schließlich ganz aufgehört. An meiner Erscheinung war nichts mehr zu retten. Trotzdem bedankte ich mich freundlich bei dem Schirmträger, der lächelnd nickte und seinen Schirm schloss.
Die Beerdigung war vorüber, und ich verspürte keine Lust, mit der Trauergemeinde, zu der ich sowieso nur aus Freundschaft zu Tina gestoßen war, die obligatorische »Raue« zu begehen. Tina Stratenwerths Vater war in der letzten Woche plötzlich an einem Herzinfarkt verstorben. Tina ist meine zweitbeste, manchmal auch beste Freundin, je nachdem wie Seher Gülüc oder Franzi gerade drauf waren. Jedenfalls sind Tina, Seher und Franzi meine Freundinnen. Tina hatte mich gebeten, an der Beerdigung teilzunehmen. »Das hätte meinen Vater bestimmt gefreut«, hatte sie gesagt. Ich hatte in mich hineingegrinst und daran gedacht, wie oft dieser Mann zu unseren Teenagerzeiten seine Hände nicht hatte bei sich behalten können, bis ich ihm eines Tages eine schallende Ohrfeige versetzt hatte. Danach war Ruhe gewesen.
Ich wollte aus meinen nassen Klamotten raus, mir einen echten Kaffee brühen und mich mit einem Buch aufs Sofa legen.
»Ich will nach Hause«, sagte ich zu Franzi, die schweigend neben mir herging und weiß der Teufel womit beschäftigt war.
»Ich auch«, antwortete Franzi fast erleichtert. »Ich meine, es tut mir zwar leid für Tina, aber der Mann war einfach ein Arschloch, und ich muss ihn nicht noch nach seiner Beerdigung feiern.«
Das war Franzi, wie sie leibte und lebte. Ohne Rücksicht auf Verluste bringt sie die Dinge auf den Punkt. Diplomatie oder Kompromisse sind nicht ihre Sache. Auch ich ticke so, und so strebten wir in trauter Eintracht dem Ausgang des Waldfriedhofs zu. Auf dem Parkplatz angelangt, steuerten wir auf meinen Käfer zu, der nicht einfach nur rot ist, sondern knallrot. In einem Anflug von Selbstüberschätzung hatte ich ihn vor zwei Jahren eigenhändig lackiert, mit mäßigem Erfolg aber höchst individueller Note. Ich schloss den Wagen auf und begann, mich, kaum dass wir eingestiegen waren, aus den nassen Sachen zu schälen. Ich griff auf die Rückbank, fischte mir von dort ein Handtuch und trocknete mich so weit wie möglich ab. Meine Jeans und einen Kapuzenpulli hatte ich in weiser Voraussicht ebenfalls im Wagen liegen. Ich zog die verschlammten Schuhe aus, warf sie hinter den Fahrersitz, schlüpfte in die Jeans und zog mir den Pulli über den Kopf. Dann atmete ich erst einmal auf und wandte mich Franzi zu, die mich vom Beifahrersitz aus kopfschüttelnd beobachtet hatte.
»Was ist? Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
»Nee, nee, ich frage mich nur gerade, ob diese Strip-Show auf dem Friedhofsparkplatz sein muss.«
»Ach was«, tat ich Franzis Kritik ab. »Es sieht ja niemand außer dir.«
»Ach! Nicht? Schau mal nach links, auf elf Uhr.«
Ich blickte auf und sah drei Jugendliche, die in etwa fünfzig Metern Entfernung standen und stieläugig in unsere Richtung schauten.
»Sollen sie!«, winkte ich ab. »Der Spaß ist vorbei und sie haben nicht viel sehen können. Kommst du mit zu mir, oder soll ich dich bei dir absetzen?«
Mit einem lauten Rums schlug ich die Fahrertür zu.
»Ich würde gerne zu mir nach Hause. Mein Körper schreit nach einem Bad. Ich bin völlig durchgefroren.«
Nun konnte man nicht wirklich davon sprechen, dass es kalt war. Der späte Frühling oder frühe Sommer, je nach Blickwinkel, hatte es trotz Dauerregens auf zweiundzwanzig Grad gebracht. Für meine Freundin beginnt die Zeit des Nicht-Frierens aber erst bei beständigen Temperaturen jenseits der fünfundzwanzig Grad, und selbst dann sieht man sie ab und an noch mit einer zumindest dünnen Jacke um die schmalen Schultern.
Ich startete meinen Käfer, setzte flott aus der Parkbucht und schlug den Weg zu Franzis Wohnung ein.
»Sollen wir heute Abend zusammen was unternehmen?«, fragte Franzi zähneklappernd.
»Weiß ich noch nicht. Möglich, dass Tobias kommt. Falls er sich von seiner Grit losreißen kann.«
»Ach, du und dieser Tobias! Wann gibst du dieses Spiel endlich auf? Das wird nichts mehr, glaub mir!«
Ich haute den dritten Gang rein und sandte meiner Freundin einen strafenden Blick.
»Wie, daraus wird nichts mehr! Wir wollen über unser nächstes Projekt sprechen, sonst nichts«, erwiderte ich übellaunig und widmete meine Aufmerksamkeit demonstrativ dem Straßenverlauf.
»Natürlich!«, schnappte Franzi. »Ihr arbeitet ja zusammen, hatte ich kurz vergessen …«
Ich bog in die Holzstraße ein, fuhr nach ein paar Metern an den rechten Straßenrand und hielt an.
»Es geht wirklich nur um Arbeit«, schob ich nach, beugte mich zu Franzi hinüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Mach dir nicht so viele Gedanken darum.«
»In Ordnung«, erwiderte Franzi und stieg aus. »Meldest du dich?«, fragte sie und beugte sich in Erwartung einer Antwort noch einmal in den Wagen.
»Das werde ich, ganz bestimmt.«
Franzi schlug die Tür zu und rannte zu ihrer Haustür. Sie drehte sich noch einmal um, winkte mir kurz zu und war verschwunden.
Auf dem Weg zur Beethovenstraße, wo ich wohne, geriet ich ins Grübeln.
Um es mal gesagt zu haben: Ich heiße Mila Freese und bin siebenundzwanzig Jahre alt. Mag sein, dass ich auf andere Menschen ein wenig unkonventionell wirke. Ich habe lange rote und gelockte Haare, die die für mich charakteristische Löwenmähne bilden. Ich bin mit knapp einsachzig relativ groß und – wie mir immer wieder versichert wird – wohl auch ganz gut gebaut. Gerne kombiniere ich meine Haarfarbe mit bunter Kleidung, in der auf jeden Fall Grün zu finden sein muss. Meine Mutter sagte mir einmal, dass sich im Kleidungsstil eines Menschen seine Persönlichkeit widerspiegelt. Nun gut, ich bin sicher kein Kind von Traurigkeit. Ich nehme das Leben, wie es sich mir bietet. Aber manchmal lassen sich bestimmte Türen auf meinem Weg nicht so einfach öffnen. Damit spiele ich auf Tobias Mahler an. Er ist ein Fotograf, mit dem ich als freie Journalistin häufig zusammenarbeite, und er betreibt auf der Schloßstraße in der Mülheimer Stadtmitte ein Fotostudio. Bei diesem Tobias bekomme ich keinen Fuß in die Tür – um mal bei diesem Türenbild zu bleiben. Eigentlich ist er ein Mann wie für mich gemacht. Gutaussehend. Klug. Feinfühlig. Er ist Fotograf, ich Journalistin. Er macht die Fotos, ich schreibe die Texte. Wir passen in diesen Dingen zusammen wie Deckel und Topf.
Ich bin wählerisch, was meine Männerbekanntschaften angeht. Und Tobias wäre nicht so ganz falsch. Jedenfalls habe ich im Laufe der Zeit durchaus die entsprechenden Gefühle für Tobias entwickelt. Vielleicht bin ich »verknallt«, vielleicht fühle ich mich auch nur körperlich zu ihm hingezogen. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, auf jeden Fall haben wir beide auf irgendeiner Fete mal über Beziehungen im Allgemeinen geredet. »Ich kann mir nicht vorstellen, mit einer Frau wie dir zusammen zu sein«, hatte er im Laufe des Gesprächs gesagt. »Du bist zweifellos attraktiv, keine Frage. Wenn ich jemand wäre, der mal für zwei oder drei Nächte jemanden sucht, wäre das völlig in Ordnung. Aber eine feste Beziehung? Dafür bist du doch gar nicht der Typ.« Ich war »not amused«, aber letztlich hatte er schon recht. Ich bin ihm zu »flippig«, zu unberechenbar. In gewisser Weise bin ich in diesen Dingen unstet und unzuverlässig. Aber was soll ich tun? Mich eingrenzen und beschränken, mich womöglich umkrempeln lassen? Trotz alledem sehne ich mich nach einem sicheren Hafen, in den ich immer wieder zurückkehren kann. Und trotz alledem kribbelt es in mir, wenn ich mit Tobias zusammen bin. Und obwohl ich normalerweise nicht dafür bekannt bin, zurückhaltend zu sein, traue ich mich nicht, offensiv zu werden, so wie in anderen Fällen, wenn ich Männer kennen lerne. Diese haben sich dann aber auch schnell erledigt – nach zwei oder drei Nächten.
Ich parkte den Wagen auf dem für mich reservierten Parkplatz, raffte meine nassen Sachen und die Schuhe zusammen und stieg aus. Die Wolkendecke war aufgerissen und erste Sonnenstrahlen erreichten die nasse Erde. Ich achtete darauf, mit den bloßen Füßen nicht in die schlammigen Pfützen auf dem Parkplatz zu treten, als ich mich auf meine Haustür zu bewegte. Frau Heckmann, meine Nachbarin, war aus dem Haus getreten, um das Wetter einer eingehenden Prüfung zu unterziehen.
»Wollten Sie nicht zu einer Beerdigung?«, rief sie mir entgegen.
Ihre Frage legte den Schluss nahe, dass sie weniger die Wettersituation als mich kontrollieren wollte.
»War ich«, entgegnete ich, während ich den Hausschlüssel ins Schlüsselloch einführte. »Ich bin klätschnass geworden und habe mich im Wagen umgezogen.«
»Ja, das war ein grässlicher Regen vorhin, aber es scheint ja besser zu werden ...«
»Hoffen wir es. Bis dann mal, Frau Heckmann«, sagte ich und verschwand hinter meinen schützenden vier Wänden.
Ich warf die Schuhe in den Flur und öffnete die Wohnzimmertür. In diesem Augenblick schellte das Telefon.
Im Gegensatz zu meinen Freundinnen und Bekannten besitze ich noch einen Festnetzanschluss. Ich habe mir im Laufe der Jahre zur Gewohnheit gemacht, zu Hause das Festnetz zu benutzen, unterwegs jedoch über das Smartphone zu kommunizieren. Das klingt banal, ist aber längst nicht mehr selbstverständlich, denn viele Menschen nutzen die mobile Kommunikation mittlerweile ausschließlich.
Ich hielt Ausschau nach dem Telefon, das jedenfalls nicht auf seiner Basisstation steckte. Also folgte ich dem akustischen Signal bis in die Küche, wo ich das Gerät im Brötchenkorb entdeckte. Ich meldete mich.
»Na? Hast du wieder suchen müssen?«, fragte Tobias zur Begrüßung.
»Nein«, log ich. »Ich bin nur gerade erst zur Tür rein. Was willst du? Absagen?«
»Aber nein!«, empörte sich Tobias. »Im Gegenteil. Ich wollte fragen, ob ich jetzt schon kommen kann. Ich hätte knapp zwei Stunden Zeit.«
Ich dachte kurz nach. Warum wollte er heute Abend nicht kommen?
»Ich habe mich für den Abend mit Grit verabredet.«
Ich zuckte zusammen.
»Habe ich das eben gefragt?«
»Nicht laut, aber ich kenne dich mittlerweile ganz gut, glaube ich.«
»Quatsch!«, wehrte ich mich gegen die in seinen Worten mitschwingende Unterstellung. »Ich habe nur gezögert, weil ich eigentlich duschen wollte.«
»Tu das doch«, erwiderte Tobias. »Ich denke, du kannst innerhalb einer halben Stunde mit deiner Körperpflege fertig sein, oder? Ich bringe Kuchen mit.«
Ich verdrehte die Augen.
»Wenn du mich wirklich kennen und respektieren würdest, wüsstest du, dass ich Kuchen hasse.«
»Der Kuchen ist ja auch nicht für dich, sondern für mich«, tönte es aus dem Telefon. Das breite Grinsen dieses Mannes war deutlich zu hören. »Für dich habe ich zwei Rosinenschnecken besorgt.«
»Das ist natürlich etwas anderes. Damit sei dir Einlass gewährt.«
»Okay. Bis in einer halben Stunde. Mach dich schön für mich.«
Damit war Tobias aus der Leitung. Ich spürte wieder dieses Kribbeln im Bauch. Das überfällt mich immer, wenn sich Tobias ankündigt. Ich lief Richtung Badezimmer und begann, meine Sachen von mir zu werfen. Eine Viertelstunde später war ich geduscht, hatte die Kleidungsstücke eingesammelt und in dem Wäschekorb im Schlafzimmer verstaut. Nun stand ich vor dem Kleiderschrank und fragte mich, was ich anziehen sollte. Die Sonne schien, es war warm und ich dachte nicht daran, den Nachmittag mit Tobias im Dunkel der Wohnung zu verbringen. Die Terrasse lockte. Wenige Minuten später stand ich vor dem Spiegel und betrachtete mich. Die kurzen roten Pants standen mir gut, und das grüne T-Shirt mit dem rotäugigen Wolfskopf auf der Brust war nicht zu weit und nicht zu knapp. Meine Haare würde ich an der Luft trocknen lassen, entschloss ich mich nach einem Blick auf die Uhr. Ich ging in die Küche und befüllte den Wasserkocher. Dem Geschirrschrank entnahm ich zwei Becher und zwei Kuchenteller. Im Hinausgehen griff ich nach zwei Kuchengabeln aus der Besteckschublade. Im Wohnzimmer öffnete ich die Tür zur Terrasse. Natürlich hatte der Regen den Tisch in Mitleidenschaft gezogen. Aus dem Gartenhaus holte ich zwei Stühle und einen Lappen, mit dem ich den Tisch trocknete. Ich deckte ihn und rauschte zurück in die Küche, um den Kaffee zuzubereiten. Gerade hatte ich Kaffeepulver in den Filter gefüllt, als es schellte. Ich ließ alles stehen und liegen, öffnete die Wohnungstür und strahlte Tobias Mahler an.
»Hallo«, sagte ich. »Pünktlich auf die Minute.«
Tobias betrachtete mich von oben bis unten. Dann schob er sich an mir vorbei.
»Deshalb treffen wir uns bei dir. Ich bin immer pünktlich. Gut siehst du aus.«
»Danke«, murmelte ich und gab ihm zwei flüchtige Wangenküsse.
»Kann ich dieses Zeug loswerden?«, fragte er und deutete mit dem Kinn auf das verpackte Kuchentablett, das er auf seiner rechten Hand balancierte. Unter dem rechten Arm klemmte eine Dokumentenmappe.
»Klar«, antwortete ich. »Wir gehen nach draußen. Stell es einfach auf den Tisch. Geh schon mal vor. Ich mache noch den Kaffee fertig und bin gleich bei dir.«
Als ich schließlich auch auf die Terrasse trat, hatte sich Tobias bereits auf einen Stuhl gesetzt und blätterte in seinen mitgebrachten Dokumenten. Er klappte die Mappe zu, als er mich kommen sah.
»Wie war es auf der Beerdigung?«, fragte er, während ich die Tassen füllte.
»Nass«, war meine knappe Antwort, doch nachdem der tadelnde Blick von Tobias mich getroffen hatte, wurde ich ausführlicher. »Du weißt, dass ich mit solchen Veranstaltungen nichts anfangen kann. Es war halt eine Beerdigung. Wie soll die schon gewesen sein? Wenn man als gänzlich Unbeteiligter daran teilgenommen hätte, hätte man meinen können, ein Engel, ein Wohltäter der Menschheit würde zu Grabe getragen. Aber es war eben nur Herr Stratenwerth, ein unvollkommener Familienvater und Grabscher.«
Tobias schob sich die erste Gabel Kuchen in seinen Mund.
»Er war für Tina sicher mehr als das«, erwiderte er. »Es ist halt so, dass man auf Verstorbene milde zurückblickt.«
Ich hatte mich zwischenzeitlich hingesetzt und die Beine übereinandergeschlagen. Ich nippte mit spitzen Lippen an dem heißen Kaffee.
»Ich möchte jedenfalls, wenn es bei mir mal so weit ist, nicht in warme Worte gehüllt in die Grube gesenkt werden. Entweder meine Leute sagen, was Sache ist, oder sie lassen es bleiben und sagen gar nichts.«
»Natürlich«, sagte Tobias. »Nichts anderes hätte ich von dir erwartet.« Er strich sich eine Strähne seiner langen, lockigen Haare aus der Stirn. »Was stellst du dir denn vor, was man über dich sagen könnte, ohne sich deinen postmortalen Zorn zuzuziehen?«
Ich zuckte mit den Schultern und biss von einer Rosinenschnecke ab.
»Wir gehen immer davon aus, dass die Hinterbliebenen dem oder der Verstorbenen noch etwas hinterherrufen wollen, etwas, was sie dem Menschen noch gerne gesagt hätten, wenn es möglich gewesen wäre. Wenn ich eines Tages mein Testament mache und dabei den Ablauf meiner Beerdigung festlege, werde ich einen Brief schreiben, den jemand für mich vorlesen soll. Wir vergessen immer, dass der oder die Verstorbene vielleicht noch etwas zu sagen gehabt hätte.«
»Bescheidenheit ist eine Zier, doch es geht auch ohne ihr«, murmelte Tobias, der sich beinahe am nächsten Kuchenbissen verschluckt hätte.
»Was hat das denn mit mangelnder Bescheidenheit zu tun?«, wunderte ich mich. »Bei meiner Beerdigung geht es doch um mich, oder?«
»Ich glaube, dass eine Trauerfeier eher für die Hinterbliebenen gedacht ist. Bei deiner Beerdigung wollen sich deine Leute von dir verabschieden.«
»Ja. Okay. Aber ich will mich auch verabschieden! Ich bin doch dann tot, und wahrscheinlich werde ich genau so wenig wie die Hinterbliebenen vor meinem Ableben die Gelegenheit gehabt haben, allen ordentlich Tschüss zu sagen.«
»Gut«, erwiderte Tobias, »eigentlich wollte ich nur wissen, wie es auf der Beerdigung war. Wir können jetzt das Thema wechseln.«
»Feigling«, warf ich ihm entgegen.
»Feigling? Wie meinst du das?«
»Du sprichst nicht gerne über sowas. Du weichst dem aus, wie die meisten Menschen.«
»Und du nicht.«
»Nein, ich nicht.«
»Ich auch nicht, Mila. Ich habe nur keine Lust, jetzt mit dir über deine Beerdigung zu reden. Wir wollten über unser Projekt sprechen. Hast du schon etwas?«
Ich musste ehrlicherweise den Kopf schütteln.
»Ich wollte unser Gespräch abwarten. Für morgen habe ich einen ganzen Arbeitstag eingeplant. Was ist mit dir?«
Tobias schob den Teller von sich, zog die Dokumentenmappe zu sich heran und klappte sie auf.
»Schau es dir an«, sagte er.
Ich stand auf und stellte mich hinter Tobias. Sofort war das Kribbeln wieder da. Ich musste mich etwas hinunterbeugen, so dass ich seinen Geruch wahrnehmen konnte. Tobias roch einfach unverschämt gut. Ich zwang mich, mich auf die vor ihm liegenden Fotos zu konzentrieren.
»Sagst du mir etwas dazu?«
»Das sind Fotos aus Mülheim, Essen und Oberhausen. Als ich da war, wurde ich das Gefühl nicht los, dass man mich äußerst misstrauisch beobachtete. In Oberhausen bin ich auch ziemlich rüde angesprochen worden. Ich glaube, dass du es in den Gegenden nicht leicht haben wirst. Man wird die Presse dort nicht mit Kaffee und Kuchen willkommen heißen. Die Leute sind verunsichert oder verärgert. – Äh, ist alles klar mit dir?«
Ohne mir dessen bewusst zu sein, hatte ich mich mit beiden Händen auf die Armlehnen seines Stuhls gestützt. Mein Kinn ruhte auf seinem Lockenkopf. Blitzschnell zog ich mich zurück.
Ich nahm wieder auf meinem Stuhl Platz.
»Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.«
»Schon gut. Was sagst du zu den Bildern?«
Schon seit mehr als einem Jahr habe ich die Absicht, eine Reportage-Serie über türkische Einwandererfamilien zu machen. Alle Welt redet über Integration. Es wird darüber diskutiert, ob die Ursachen für deutschen und europäischen Islamismus in mangelhafter Integration von Muslimen, also auch von türkischstämmigen Einwanderern liegt. Im Juli 2016 war ein Putschversuch in der Türkei abgewehrt worden und Präsident Erdoğan hatte die Gelegenheit genutzt, um mit den Widersachern seiner Politik aufzuräumen. Das alles hat auch im Ruhrgebiet zu Verunsicherung in der türkischen Bevölkerung beigetragen. Entsprechend brisant ist mein Vorhaben. Dennoch bin ich der Meinung, dass genau jetzt der richtige Zeitpunkt für die Reportagereihe gekommen ist. Seit Mitte April ist klar, dass eine knappe Mehrheit der Türken im Rahmen eines Referendums für eine Verfassungsänderung gestimmt hat, die dem Präsidenten nahezu uneingeschränkte Macht verleihen soll. Sechzig Prozent der in Deutschland zur Wahl gegangenen Menschen haben »Ja« zu diesem Referendum gesagt, ein weit höherer Prozentsatz als in der Türkei. Auch dieser Aspekt hat in der Öffentlichkeit Zweifel am Integrationswillen der Türken laut werden lassen. Der »Spiegel« hatte bereits Interesse signalisiert, ebenso wie die im Ruhrgebiet vertretenen Tageszeitungen, und schließlich muss ich mal wieder Geld verdienen. Es wird Zeit.
»Die sind natürlich gut«, antwortete ich auf Tobias’ Frage, »aber die reichen längst nicht aus.«
Der Fotograf nickte und klappte die Mappe mit den Fotos zu.
»Klar. Wenn du dein Konzept fertig hast, können wir uns darüber unterhalten, was für Fotos du noch gerne hättest.«
»Frauen. Mädchen. Junge Frauen und alte Frauen«, sagte ich. »Ich denke, wenn Integration gelungen oder misslungen ist, kann man das am ehesten bei den Mädchen und Frauen feststellen.«
»Da hast du sicher recht.«
Tobias straffte sich, griff zur Tasse und trank sie aus.
»Du willst doch nicht etwa schon gehen?«, fragte ich und hätte mich kurz darauf am liebsten selbst in den Hintern getreten.
»Was gibt es sonst noch?«, wunderte sich Tobias, der, bereit aufzustehen, schon beide Hände auf die Armlehne seines Stuhles gestützt hatte.
»Für die zwanzig Minuten hätte ich die Terrasse nicht herrichten müssen. Du hast gesagt, du hättest zwei Stunden Zeit.«
Tobias lehnte sich zurück und lachte mich an.
»Wir können doch noch ein wenig plaudern«, schlug ich vor.
»Und worüber möchtest du plaudern?«
*
Gegen halb elf in der Nacht lag ich in meinem Bett und starrte die Schlafzimmerdecke an. Ich dachte über den Besuch von Tobias nach. Er hatte tatsächlich schon Fotos und war damit weiter als ich, denn ich hatte noch gar nichts. Das sollte sich morgen ändern, beschloss ich. Das Gespräch mit ihm war nett, bis er plötzlich anfing, über Grit und sich zu sprechen.
Grit Allmann ist in meinem Alter, blond, ziemlich gutaussehend, aber nervig wie ein Schwarm Stechmücken. Verantwortlich dafür ist ihre Stimme – immer etwas zu hoch, immer an der Grenze zur Hysterie und immer zu laut. Grit arbeitet in dem Fotostudio, das Tobias auf der Schloßstraße in Mülheims City betreibt. Sie vergöttert ihn, er mag sie, und offensichtlich reicht das für Tobias aus, mit Grit eine Beziehung zu unterhalten.
Ich hörte zu und machte auf cool. Schließlich hatte er tief durchgeatmet, mich an seinen »Termin« mit Grit erinnert und sich verabschiedet. Nachdem ich alleine war, verdrückte ich zwei Schnitten mit Nutella und öffnete eine Flasche Wein, die ich im Laufe des Nachmittags bis in den Abend hinein leerte. Zwischenzeitlich hatte ich an meinem Rechner gesessen und versucht, meinen Projektideen Struktur zu verleihen. Das war mehr schlecht als recht gelungen, und schließlich war ich vor dem Fernseher gelandet, wo ich ausgerechnet auf den Film »Harry und Sally« mit Meg Ryan und Billy Crystal gestoßen war. Fünf Mal ignorierte ich das nach mir rufende Telefon, hatte aber dem Anrufbeantworter gelauscht, auf dem sich zuerst meine Mutter, dann Tina, etwas später Franzi, dann wieder meine Mutter und zuletzt Seher verewigt hatten.
Und nun lag ich hier im Bett und fragte mich, wie ich morgen mit meiner Arbeit weitermachen, oder besser: beginnen sollte. Mitten in diesen Überlegungen schlief ich ein.
Als ich wach wurde, saß ich kerzengerade im Bett. Mir war kalt, denn die Decke war von meinem Oberkörper gerutscht. Ich stand auf, griff den Bademantel, der an der Schlafzimmertür hing, und zog ihn über. Was hatte mich geweckt? Ich spulte meine Erinnerung zurück und stellte missmutig fest, dass ich meine Bewusstlosigkeit während des Schlafes nicht auf der Festplatte hatte. Ich betrat das Wohnzimmer, griff nach dem Weinglas, das zu zwei Dritteln geleert auf dem Sofatisch stand und stellte mich ans Fenster. Fast wäre mir das Glas vor Schreck aus der Hand gefallen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, kurz vor den Parkplätzen, wo auch mein Käfer stand, lag eine Person reglos auf dem Bürgersteig. Hektisch blickte ich von links nach rechts und wieder zurück, bis ich verstand, dass niemand sonst auf der Straße war. Ich stellte das Glas ab, griff nach dem Telefon und verließ die Wohnung. Als ich die Straße betrat und in der Nähe der Person den merkwürdigen Geruch wahrnahm, kehrte meine Erinnerung zurück. Es war ein Knall gewesen, der mich geweckt hatte – womöglich ein Schuss. Ich hockte mich neben den Körper und sprach ihn an.
»Hallo? Hören Sie mich?«
Das war offensichtlich nicht der Fall, denn ich erhielt weder ein Wort noch eine Bewegung als Antwort. Ich fasste das Kinn der Person und drehte ihren Kopf zu mir hin. Es war ein junger Mann mit Schnäuzer, aber ohne eine Spur von Leben. Ich legte meine Finger auf seinen Hals an die Stelle, wo ich die Halsschlagader vermutete. Nichts. Mir dämmerte, dass ich einen Toten vor mir liegen hatte. Ich stand auf und schaute auf das Display des Telefons. Es war drei Uhr und siebzehn Minuten, als ich den Notruf wählte. Während ich mit der Beamtin sprach, öffnete sich eine weitere Haustür. Frau Heckmann trat nach kurzem Zögern auf die Straße und kam auf mich zu.
»Mein Gott, Kindchen«, sprach sie mich an. »Was ist denn hier passiert?«
»Keine Ahnung«, erwiderte ich, nachdem ich das Telefon in die Tasche des Bademantels gesteckt hatte. »Ich glaube, ich bin durch einen lauten Knall aufgewacht und habe dann durch das Fenster diesen Mann auf der Straße liegen sehen. Haben Sie etwas gesehen oder gehört?«
Frau Heckmann, der der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand, schüttelte den Kopf.
»Gar nichts. Ich hatte Durst und wollte mir aus der Küche Wasser holen. Und dann sah ich Sie hier knien. Ist er tot?«
»Ich befürchte es. Jedenfalls kann ich keinen Puls spüren.«
In diesem Moment wurden wir von zuckendem Blaulicht getroffen. Ein Polizeiwagen und ein Rettungswagen bogen um die Ecke.
*
»Darf ich mir schnell etwas anziehen?«, fragte ich.
Zwei Kriminalbeamte saßen bei mir in der Küche. Mir war eben eingefallen, dass ich nur den Bademantel trug.
»Natürlich«, antwortete der Beamte, der sich als Hauptkommissar Frenzen vorgestellt hatte. Neben ihm saß sein Kollege Heine.
Im Schlafzimmer schlüpfte ich in meine Jeans und zog den Kapuzenpulli über den Kopf. Dann lief ich ins angrenzende Badezimmer, warf mir etwas Wasser ins Gesicht und trocknete mich ab. Kurz darauf kehrte ich in die Küche zurück.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Tee? Wasser?«, fragte ich.
»Nein danke. Wir haben nur ein paar Fragen, und dann sind wir schon wieder weg«, lehnte Herr Frenzen das Angebot ab.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich trotzdem die Kaffeemaschine arbeiten lassen.«
»Bitte sehr.«
»Aber fangen Sie ruhig schon an mit Ihren Fragen.«
»Ich habe richtig verstanden, dass Ihr Name Mila Freese ist?«, fragte der zweite Beamte.
»Korrekt. Na ja, eigentlich Michaela Freese, aber ich höre nichts anderes als ›Mila‹ seit ich denken kann«, korrigierte ich und löffelte Kaffeepulver in den Filter.
»Erzählen Sie uns bitte, was Sie heute Nacht wahrgenommen haben und wie Sie den Toten gefunden haben«, forderte Herr Frenzen mich auf.
Ich schaltete die Kaffeemaschine ein und setzte mich zu den beiden an den Küchentisch.
»Ich weiß nicht, ob Sie so etwas kennen«, begann ich. »Ich bin plötzlich wachgeworden und wusste nicht, wodurch. Wissen Sie, so richtig schreckhaft, so dass ich kerzengerade im Bett saß.«
»Wann war das? Die ungefähre Uhrzeit bitte.«
»Das muss so etwa Viertel nach drei gewesen sein. Jedenfalls bin ich aufgestanden und habe nicht weiter darüber nachgedacht. Ich habe mich mit meinem Weinglas ans Wohnzimmerfenster gestellt und habe den Mann dort liegen sehen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich erschrocken bin ...«
»Mit einem Weinglas ans Fenster? Um diese Zeit?«
»Ja, Herr Hauptkommissar. Es stand noch von gestern Abend dort. Lässt mich das in Ihrer Achtung sinken?«
»Nein, natürlich nicht. Erzählen Sie weiter.«
»Ich habe dann das Glas wieder abgestellt«, fuhr ich fort und machte eine kunstvolle Pause, »habe das Telefon geschnappt und bin nach draußen. Erst habe ich versucht, den Mann anzusprechen, das heißt, eigentlich wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es sich um einen Mann handelte. Ich habe seinen Kopf mit dem Gesicht zu mir gedreht und sah den Schnäuzer. Dann habe ich den Puls überprüft, keinen festgestellt und den Notruf gewählt. In diesem Moment kam Frau Heckmann, meine Nachbarin dazu.«
»Kennen Sie den Mann? Oder haben Sie ihn schon einmal gesehen?«
»Nein.«
Ein letztes Röcheln der Kaffeemaschine verriet, dass sie mit ihrer Arbeit fertig war. Ich stand auf.
»Bleiben Sie dabei? Kein Kaffee?«, vergewisserte ich mich, während ich mir einen Becher aus dem Küchenschrank nahm.
»Danke, nein«, bestätigte Hauptkommissar Frenzen. »Was machen Sie beruflich?«
Ich goss Kaffee ein und setzte mich wieder.
»Ich bin Journalistin«, klärte ich ihn auf.
»Aha.«
»Freie Journalistin.«
»Aha. Eben wollte ich fragen, für wen Sie arbeiten. Leben Sie alleine hier?«
»Ja.«
»Waren Sie heute Nacht alleine?«
»Leider«, seufzte ich, während ich an dem Becher nippte.
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Herr Heine nach.
»Ach, das brauchen Sie nicht zu verstehen. Es war niemand außer mir hier.«
»Wir wollen Ihre Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen«, sagte der ältere Polizist und überreichte mir eine Karte. »Bitte melden Sie sich bei mir, wenn Ihnen noch etwas zu dem Vorfall einfällt, irgendetwas, was Ihnen vielleicht vorher aufgefallen ist ...«
»Ich weiß«, unterbrach ich ihn und nahm die Karte entgegen. »Wenn es mir auch noch so unbedeutend erscheint, es kann trotzdem wichtig sein.«
Herr Frenzen musste lachen.
»Sie schauen sich öfter Krimis an.«
»Wer tut das nicht? Dieser Satz gehört auf jeden Fall dazu.«
»Sind Sie in Ordnung?«, fragte Herr Heine. »Brauchen Sie jemanden, der sich um Sie kümmert? Ich meine, man findet ja nicht jeden Tag eine Leiche.«
»Nein, es ist alles in Ordnung, danke«, wehrte ich ab. »Ich habe schon weit Schlimmeres gesehen.«
»Wirklich?«, wunderte sich der Hauptkommissar.
»Na ja, auch als Journalistin sieht man manchmal unschöne Dinge.«
»Bestimmt. Danke noch einmal für Ihre Geduld. Auf Wiedersehen, Frau Freese.«
Kurz darauf waren die beiden Männer verschwunden.
Ich warf mich aufs Sofa und schloss die Augen. Was, verdammt nochmal, war da heute Nacht geschehen? Diese Gegend gilt als friedlich, wenn nicht sogar als »verschlafen«. Bis auf ein paar Einbruchsversuche war meines Wissens nie etwas geschehen, das die Bewohner hätte aufschrecken können. Seit letzter Nacht ist das anders. Vor meinem Haus in der lauschigen Beethovenstraße war ein junger Mann erschossen worden. Und eigentlich wüsste ich gerne, wer er war und warum er hatte sterben müssen.
Ich stand auf und schaute auf mein Smartphone. Es war kurz nach sechs. Ich blickte aus dem Wohnzimmerfenster und sah in diesem Augenblick die vier Kriminalbeamten Herrn Frenzen, Herrn Heine und die beiden Frauen, die zu meinen Nachbarn, den Heckmanns, gegangen waren, an der Stelle stehen, an der bis vor kurzem noch die Leiche des jungen Mannes gelegen hatte. Zwei uniformierte Beamte bauten die Tatortabsperrung ab. Der Leichenwagen, der vor einer halben Stunde eingetroffen war, war bereits weggefahren. Eben fuhr der schwarze Van der Spurensicherung an, um sich ebenfalls zu entfernen. Als dann schließlich die vier Beamten in ihre Wagen gestiegen waren und losfuhren, glänzte die Beethovenstraße in der Morgensonne, als sei nie etwas geschehen. Einzig die Stelle, wo der Leichnam gelegen hatte, schimmerte noch feucht, da sie von der Spurensicherung gereinigt worden war.
Ich wandte mich ab und trank den Becher Kaffee aus, griff nach dem Weinglas und spülte es kurz durch. Im Badezimmer putzte ich mir die Zähne. Anschließend verließ ich das Haus, wandte mich nach rechts und stand kurz darauf vor der Haustür der Heckmanns. Sekunden, nachdem ich die Türglocke betätigt hatte, öffnete Herr Heckmann die Tür. Er trug eine Jogginghose und ein Unterhemd, das seinen massigen Bauch kaum verdecken konnte. Seine Füße steckten in Filzpantoffeln und seine spärlichen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab. Aber seine Knopfaugen leuchteten, als er mich sah.
»Junge Frau«, begrüßte er mich. »Welch eine Freude zu früher Stunde!«
»Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen, Herr Heckmann«, konterte ich. »Ich möchte zu Ihrer Frau. Kann ich sie sprechen?«
»Klar doch. Kommen Sie rein. Wir frühstücken gerade.«
»Das trifft sich gut«, erwiderte ich, während ich mich an ihm vorbeidrückte.
Herr Heckmann, ein pensionierter städtischer Bediensteter, führte mich in die Küche, wo seine Frau saß. Sie hielt ein Glas Orangensaft in ihren Händen und blickte mir entgegen, immer noch blass, als hätte sie ein Gespenst gesehen.
»Ist das nicht schrecklich?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Setzen Sie sich, Mila, und greifen Sie zu, wenn Sie etwas hinunterbekommen. Ich jedenfalls kann nichts essen.«
»Frauen!«, murmelte Herr Heckmann, während er auf seinem Stuhl Platz nahm. Vor ihm stand ein Teller mit Rührei und Schinken. Daneben lag eine angebissene gebutterte Brötchenhälfte.
Ich fischte mir ein Brötchen aus dem Korb und biss hinein.
»Ja, das war wirklich schrecklich«, nahm ich Frau Heckmanns Worte auf. »So etwas in unserer Straße!«
»Warum sollte das Böse vor unserem schnuckeligen Viertel haltmachen?«, gab Herr Heckmann zurück. »Mich wundert, dass hier nicht mehr geschieht, so verrückt wie die Welt geworden ist.«
Mir lag eine Bemerkung auf der Zunge, die ich gerade noch hinunterschlucken konnte.
»Ich weiß, Herr Heckmann, früher wäre das bestimmt nicht passiert«, kommentierte ich stattdessen wesentlich harmloser.
»Da brauchen Sie gar nicht so ironisch zu werden, Fräulein Freese«, wehrte Heckmann sich. »Es gab eine Zeit, in der Recht und Ordnung noch zählten. Da wäre niemand so auf offener Straße erschossen worden.«
Werner Heckmann weiß einfach, womit er mich auf die Palme bringen kann. Ich holte tief Luft.
»Nein, das hat man damals anders erledigt. Und hören Sie mit dem ›Fräulein‹ auf! Ich habe Ihnen das schon so oft gesagt ...«
»Wieso?«, echauffierte sich der Pensionär. »Sie sind doch nicht verheiratet, oder?«
»Werner!«, fuhr Frau Heckmann dazwischen. »Lass endlich die junge Frau in Ruhe! Sie ist sicher nicht gekommen, um sich mit dir zu streiten.«
»Richtig, Frau Heckmann. Ich wollte mich eigentlich nur erkundigen, wie es Ihnen geht.«
»Dann erledigt euer Getratsche bitte woanders«, grätschte der Mann wieder in meine Worte. »Ich will in Ruhe frühstücken. Ich habe für heute genug Hysterie ertragen müssen.«
Ich kochte innerlich, vermochte mich aber zu zügeln. Trotzdem stelle ich mir bei diesen Gelegenheiten immer wieder die Frage, wie Männer eigentlich zu solchen Wesen mutieren können. Ich meine, Frau Heckmann ist mit ihrem Mann – so viel ich weiß – seit über vierzig Jahren verheiratet. Er kann damals, als Siebundzwanzigjähriger, unmöglich so ein Ekel gewesen sein.
Kopfschüttelnd stand Frau Heckmann auf und griff nach ihrem Saftglas.
»Kommen Sie mit ins Wohnzimmer, Mila«, sagte sie und lief voraus.
Ich folgte ihr, nachdem ich noch einmal in den Brötchenkorb gegriffen und ein Rosinenbrötchen erbeutet hatte. Wir nahmen im Wohnzimmer auf dem Ledersofa Platz, das ständig mit einer Decke überzogen war, damit »es nicht abgenutzt wird«, wie Herr Heckmann sagte.
»Sie sind ja noch länger draußen gewesen«, begann ich. »Haben Sie was mitbekommen?«
»Was meinen Sie?«, fragte die Nachbarin, die schon wieder mehr Farbe im Gesicht hatte.
»Hat die Polizei etwas bei ihm gefunden? Papiere, die Waffe ...«
»Keine Ahnung. Aber wer der Tote ist, ist Ihnen doch auch klar, oder?«
Ich hatte eben von dem Rosinenbrötchen abgebissen, schluckte und riss die Augen auf.
»Nein! Kennen Sie ihn?«
»Aber natürlich! Das ist der nette junge Mann, der in der Ruhrbank in Speldorf arbeitet! Ich glaube, der ist da sogar stellvertretender Filialleiter. Sie kennen ihn nicht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe oft mit ihm zu tun gehabt«, fuhr Frau Heckmann fort. »Wir haben ja unser Konto bei der Ruhrbank. Ach, und er war so ein netter Junge ...«
Frau Heckmann drohte die Stimme zu versagen. Sie schüttelte den Kopf und blickte mich an, als müsse ich doch wenigstens eine Träne angesichts des Todes »des Jungen« verdrücken. Sie fischte ein Taschentuch aus dem Morgenmantel und tupfte sich die Augenwinkel trocken.
»Die Welt ist so brutal geworden«, schob Frau Heckmann hinterher und trank von ihrem Orangensaft.
»So etwas passiert ständig auf dieser Welt, nur nicht immer vor unserer Haustür«, sagte ich. »Und Sie haben auch nichts gehört? Ich jedenfalls bin sicher, dass ich von dem Schuss wachgeworden bin.«
Frau Heckmann schüttelte den Kopf.
»Ich nicht. Wie gesagt, ich hatte Durst und bin aufgestanden. Als ich in der Küche am Kühlschrank war, habe ich aus dem Fenster geschaut und sah Sie neben dem Toten hocken. Dann bin ich rausgekommen.«
»Und ihr Mann?«
»Der hat den beiden Polizistinnen erzählt, er hätte gehört, dass sich auf der Straße jemand gestritten hat – so im Halbschlaf, wissen Sie? Einen Schuss hat auch er nicht gehört.«
»Worum ging der Streit? Waren es zwei Männer?«
»Das hat die eine Polizistin auch gefragt. Er hat gesagt, er wisse es nicht. Heute klängen ja auch manchmal Frauen wie Männer. Worum es ging, hat er nicht gehört.«
»Und er ist nicht aufgestanden, als er den Streit hörte?«
»Nein, ist er nicht«, vernahm ich die Stimme von Herrn Heckmann, der plötzlich in der Wohnzimmertür stand. »Mir war ja erst heute Morgen nach dem ganzen Affentheater klar, was ich gehört hatte. Wenn ich schlafe, schlafe ich.«
»Erinnern Sie sich an Worte, Satzfetzen ...?«
Heckmann grinste mich an.
»Sie stellen Fragen wie die Polizistin vorhin«, sagte er. »Nein, ich erinnere mich an nichts dergleichen. Eine Sekunde Tumult und Gebrüll, aber keine Worte. Zufrieden?«
Ich stand auf.
»Ich muss dann mal los«, sagte ich zu meiner Nachbarin. »Danke für die Brötchen. Wir bleiben im Austausch über diese Sache, ja?«
Frau Heckmann nickte und erhob sich ebenfalls.
»Oh, das trifft sich gut«, freute sich Herr Heckmann. »Dann kann ich ja meinen Platz einnehmen und Zeitung lesen.« Dann wandte er sich seiner Frau zu. »Ich bin übrigens fertig mit dem Frühstück. Du kannst abräumen.«
Als ich einsah, dass der Versuch, sich des Projektkonzepts anzunehmen, scheitern würde, entschloss ich mich am späten Vormittag, meine Mutter zu besuchen, die auf der Duisburger Straße, nicht weit von der Ruhrbankfiliale entfernt, ihren Laden für Modeschmuck unterhielt.
Als ich den Laden betrat, der den sinnigen Namen »art & craft« führte, war ich dort die einzige Person auf zwei Beinen. Weder Frau Lenau, die stundenweise im Geschäft aushilft, noch meine Mutter, noch irgendwelche Kunden waren zu sehen. Einzig Frau Lenaus »Fußhupe«, wie ich den zwergenhaften Hund bezeichne, der mir entgegen stürmte, war anwesend. Es sieht zum Brüllen komisch aus, wenn dieses nahezu schwanzlose Wesen versucht, mit etwas zu wedeln, das es nicht oder kaum besitzt. Dafür kann es kläffen, markerschütternd und schrill, so dass ich es bis in die Haarwurzeln spüre.
»Aus!«, hörte ich die Stimme von Frau Lenau aus dem hinteren Raum und noch einmal »Aus!«, als sie in den Laden stürmte. Die Stimmen von Hundchen und Frauchen überlagerten sich und bereiteten mir Kopfschmerzen. Ich verzog das Gesicht.
»Mila!«, freute sich Frau Lenau, während der Hund um meine Beine herumhüpfte und sich gar nicht mehr einkriegen wollte. Dementsprechend kläffte er unbeirrt weiter.
»Können Sie dieses Wesen zum Schweigen bringen?«, bat ich und drückte meine Fingerspitzen an beide Schläfen.
Frau Lenau beugte sich zu dem Hund hinunter.
»Fleckchen, aus! Aus, Fleckchen!«, kreischte sie, und endlich hörte das Gekläff auf.
Stattdessen wieselte »Fleckchen« in eine uneinsehbare Ecke des Ladens und kam mit einer Gummiente im Maul zurück, ließ das Spielzeug vor meine Füße fallen und starrte mich hechelnd an.
»Hallo, Frau Lenau«, begrüßte ich die Frau endlich. »Ist meine Mutter da?«
»Im Moment nicht. Sie ist zur Bank gegangen und bringt Überweisungen weg. Aber sie muss jeden Augenblick zurück sein. Willst du warten?«
»Ist Kaffee da?«, fragte ich und ging mit Frau Lenau in den Personalraum, wo ich mich auf einen Stuhl fallen ließ.
Ehe ich mich versah, stand ein dampfender Kaffeebecher vor mir. Fleckchen hatte sich schmollend in sein Körbchen zurückgezogen.
»Du siehst nicht gut aus«, wagte sich Frau Lenau auf unsicheres Terrain. »Hast du schlecht geschlafen?«
»Ich habe so gut wie gar nicht geschlafen«, erwiderte ich, was Frau Lenau zu einem wissenden Lächeln veranlasste.
»Ja, ja. Als ich so jung war wie du, habe ich mir auch die Nächte um die Ohren gehauen. War es wenigstens schön?«
Ich ahnte, worauf die Freundin meiner Mutter hinauswollte. Sie wollte Mitwisserin einer atemberaubenden Nacht mit meiner jüngsten Eroberung werden, doch ich musste sie enttäuschen.
»Vor meinem Wohnzimmerfenster ist heute Nacht ein Mann erschossen worden«, zog ich ihr den Zahn.
Frau Lenaus Gesichtszüge entgleisten und sie stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab.
»Was?«, stieß sie hervor. »Ein Mord? Vor deinem Haus?«
Ich nickte.
»Was ist passiert?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Mein Nachbar meint, im Halbschlaf einen Streit mitbekommen zu haben. Ich bin von einem lauten Knall wach geworden. Dann bin ich aufgestanden und habe den Körper auf dem Bürgersteig liegen sehen.«
Die Ladentür wurde aufgerissen, so dass die Glocke, deren Aufgabe es war, die Kunden anzukündigen, nur so schepperte. Sofort sprang Fleckchen aus seinem Körbchen und stürzte sich auf Doris Freese, meine Mutter, die dem Hund mit einem klaren »Halt das Maul!« Einhalt gebot. Es wirkte.
»Marianne!«, rief sie schon vom Laden aus. »Du ahnst nicht, was passiert ist ...«
Ihre Stimme verriet höchste Erregung. Sie betrat den Raum und sah mich am Tisch sitzen.
»Meine Tochter!«, rief sie. »Mila! Wie schön, dass du mich besuchen kommst! Wie siehst du denn aus?«
Ich verdrehte die Augen.
»Ich hatte eine kurze Nacht.«
»Schön! Eine kurze Nacht heißt langer und guter Sex.«
»Nicht immer«, erwiderte ich leicht genervt und fragte mich, ob Frauen in einem bestimmten Alter nur noch an »das Eine« denken. »In meinem Fall heißt das: Mord, Polizei und Spurensicherung.«
Das verschlug meiner Mutter die Sprache. Sie stand mitten im Raum, starr wie eine Schaufensterpuppe, und schnappte schließlich nach Luft.
»Wie bitte?«, würgte sie hervor.
Ich erzählte ihr, was geschehen war.
»Das gibt es doch nicht!«, reagierte meine Mutter und ließ sich langsam auf einem Stuhl am Tisch nieder. »Eben war ich bei der Bank und habe erfahren, dass der junge Mann, der mich immer bedient hat, gestorben ist.«
Ich nickte.
»Er ist vor deinem Haus erschossen worden?«
Ich nickte ein weiteres Mal.
Wieder bimmelte die Ladenglocke.
»Gehst du?«, wandte sich meine Mutter an Frau Lenau, die ein kurzes und enttäuschtes »Mmh« von sich gab und in den Verkaufsraum ging. Fleckchen blieb friedlich.
»Was war das für ein Typ, dieser Mann von der Ruhrbank?«, fragte ich.
»Er war unglaublich nett! Er war zuvorkommend, hilfsbereit, freundlich – niemals habe ich ihn griesgrämig oder schlechtgelaunt erlebt.« Meine Mutter hielt inne und blickte mich durchdringend an. »Erst vorgestern war ich wegen einer Fehlbuchung auf dem Geschäftskonto bei ihm. Da hat er mir noch erzählt, dass er in zwei Wochen heiraten will.«
»Ganz schlechtes Timing«, erwiderte ich etwas pietätlos. Mir machten halt immer noch meine Kopfschmerzen zu schaffen.
»Na hör mal!«, reagierte meine Mutter erwartungsgemäß. »Stell dir mal die arme Frau vor ...«
Ich wollte mir diese »arme Frau« nicht vorstellen.
»Weißt du, wer die Glückliche sein sollte?«
Meine Mutter gab ein missbilligendes Geräusch von sich.
»Du drückst dich wieder auf eine Art aus, die mir nicht gefällt, Mila. Was ist los mit dir?«
»Ach, ich habe einfach wegen dieser Geschichte kaum geschlafen, habe Kopfschmerzen, komme mit meiner Arbeit nicht weiter, fühle mich hundeelend – aber sonst ist alles okay.«
»Ja, natürlich«, wechselte Doris Freese in den Muttermodus und setze sich zu mir an den Tisch. Kurz darauf spürte ich, wie sie mir mit der Hand über den Kopf strich. »Das muss auch für dich schrecklich gewesen sein!«
»War es«, erwiderte ich, »aber wohl nicht so schlimm wie für den netten jungen Mann, der jetzt tot ist. Wie hieß er eigentlich?«
»Berger. Matthias Berger. Und seine ... ja, wie soll ich mich ausdrücken. ›Zukünftige‹ kann ich ja nicht mehr sagen ...«
»Sag doch einfach ›die Frau, die er heiraten wollte‹ und mach nicht so einen Wirbel darum«, fuhr ich sie etwas genervt an.
»Sie heißt auf jeden Fall Sabine Brück.«
»Arbeitet sie auch bei der Ruhrbank?«
»Nein. Herr Berger hat mir erzählt, dass er sie vor Jahren bei der Eröffnung einer Kunstausstellung kennen gelernt hat. Sie war eine der Ausstellenden.«
»Malerin?«
»Nicht nur.«
»Wohnt sie auch in Mülheim?«
»Ja, die beiden wohnten sogar schon zusammen.«
»Ist ja ein Ding!«, rutschte es mir heraus, worauf meine Mutter mir einen etwas sparsamen Blick zuwarf. »Was kann der Grund dafür sein, dass ein junger, aufstrebender Bankangestellter einem Mord zum Opfer fällt?«
Meine Mutter breitete die Arme aus und hob die Brauen.
»Ja, wenn wir das wüssten ...«
»Dann würden wir es wahrscheinlich trotzdem nicht verstehen«, vervollständigte ich ihren Satz und stand auf.
»Ich muss arbeiten«, erklärte ich ihr.
»Es war auf jeden Fall schön, dass du mal reingeschaut hast«, sagte meine Mutter. »Nimm eine Kopfschmerztablette.«
Ich nickte schwach, umarmte sie und verließ das Geschäft, ohne dass sich Fleckchen noch einmal gerührt hätte.
Am nächsten Morgen war ich ausgeschlafen. Meine Kopfschmerzen hatten sich verflüchtigt, und zwar ohne pharmazeutische Hilfsmittel. Meine Projektplanung stand. Am Abend waren noch Franzi und Seher bei mir gewesen. Das beherrschende Thema war natürlich der Mord, der sich unmittelbar vor meiner Haustür ereignet hatte.
Ich saß am Küchentisch und mümmelte an einem Brot mit Frischkäse. Die Teetasse stand in Griffweite, und ich dachte darüber nach, ob ich Tobias anrufen oder ihm eine SMS schicken sollte. Ich entschied mich für die SMS, denn ich verspürte keine große Lust, schon wieder jemandem erzählen zu müssen, was seit über vierundzwanzig Stunden mein Denken und Fühlen beherrschte: Dieser bemitleidenswerte Banktyp, der zwei Wochen vor seiner Hochzeit vor meinem Haus quasi hingerichtet worden war. Ich schickte die SMS an Tobias ab. »Es ist vollbracht. Melde dich, wenn du willst.« Mehr schrieb ich nicht, legte das Smartphone zur Seite und lenkte meine Gedanken wieder in Richtung Matthias Berger.
Mit ein wenig Glück würde ich diese Sabine Brück ausfindig machen können. Ich dachte natürlich auch daran, dass sie sich im Moment in einer Lage befand, in der man ihr besser nicht auf die Pelle rückte. Aber ich bin Journalistin, und dieser Teil von mir setzte sich schließlich bei den Überlegungen durch. Wo kämen wir hin, wenn wir in einem solchen Fall der Pietät den Vorrang geben würden? Außerdem schließen sich Einfühlsamkeit und journalistische Neugier nicht aus. Ich hatte meinen Entschluss gefasst und stand auf. Die zweite Hälfte der Frischkäseschnitte und meinen Tee nahm ich mit zum Rechner. Es war einfacher als erwartet. Matthias Berger und Sabine Brück wohnten zusammen in der Hermannstraße in Speldorf, nicht weit entfernt von meiner Behausung. Und diese Frau Brück hatte sogar eine eigene Website, auf der sie sich und ihre Kunst präsentierte. Sie war ganz hübsch, aber ihre Kunst erschien mir etwas gewöhnungsbedürftig. In einer Fotogalerie konnte ich mir ansehen, was sie schon so alles erschaffen hatte: Skulpturen und Bilder, von denen mir die meisten auf jeden Fall nicht ins Haus kämen.
Binnen weniger Minuten war ich angezogen. Das Wetter machte einen sehr unzuverlässigen Eindruck, also zog ich meine Regenjacke über. Ich steckte mein Smartphone ein und verließ das Haus. Ich überquerte die Straße genau an der Stelle, wo der junge Mann gelegen hatte, und ließ instinktiv meinen Blick schweifen. Ich kann im Nachhinein nicht erklären, warum ich das tat. Möglicherweise handelte es sich dabei tatsächlich um einen journalistischen Automatismus. Jedenfalls hielt ich meinen Blick auf das Pflaster gerichtet und scannte den Straßenbelag quadratmeterweise. Schließlich war ich bei meinem Wagen angekommen, den ich, seit ich von Herrn Stratenwerths Beerdigung gekommen war, nicht mehr bewegt hatte. Ich ging auf die Knie, hielt mich mit der linken Hand an der hinteren
Verlag: Elaria
Texte: Kurt Jahn-Nottebohm
Cover: Ulrike Nottebohm
Lektorat: Christine Klingbeil, Ulrike Nottebohm
Tag der Veröffentlichung: 10.07.2018
ISBN: 978-3-96465-005-4
Alle Rechte vorbehalten