Cover

1

Anfang 2015, Rakka (Syrien)

 

Rakka, in meiner Heimatsprache Ar-Raqqa, ist meine Heimatstadt am Ufer des Euphrat in Syrien. Hier bin ich aufgewachsen und zur Schule gegangen. Hier habe ich mit meinen Freunden und Geschwistern gespielt, bin erwachsen geworden, habe erlebt, wie mein Vater starb, und dass meine Mutter danach wochenlang nicht mehr aus dem Bett aufstehen wollte. Ich habe geliebt und getrauert, kann mich noch heute an die Düfte der Straßen und des Bazars erinnern, den ersten Kuss, den Afra mir gab, ihre Haut, die wie Samt gewesen ist, warm und weich. Sie hat unsere Töchter und unseren Sohn geboren, vor Schmerzen schreiend und immer glücklich, bis die Welt aus den Fugen geraten ist.

Der Krieg kam über uns wie eine Naturgewalt. Natürlich hatten wir von den Vorkommnissen in Daraa gehört, von den Kindern, die Slogans des algerischen und ägyptischen Frühlings an Hauswände gemalt hatten und dafür von Assads Polizei verhaftet worden waren. Einige dieser Kinder blieben verschwunden, andere tauchten halbtot wieder auf, auf bestialische Weise zugerichtet. Die Eltern hatten für ihre Freilassung demonstriert, nicht nur in Daraa, auch in anderen Städten des Landes. Schließlich erwuchs daraus ein gewaltiger Zorn gegen unseren Präsidenten Baschar Al-Assad, der darauf mit militärischer Gewalt gegen seine eigenen Bürger reagierte. Ehe man sich versah, tobte in meinem Heimatland ein Krieg, in dem jeder gegen jeden zu kämpfen schien, und in dessen Staubwolken Mächte mitwirkten, für die Syrien alles, die Menschen in diesem Land aber nichts bedeuteten. Anfangs war es in Rakka ruhig geblieben, wo ich mit meiner Frau und den drei Kindern wohnte, aber nach und nach wurde unsere Stadt von Flüchtlingsströmen überschwemmt. Menschen aus allen Teilen des Landes versuchten, sich und ihre Familien vor den Geschützen und Angriffen der Kriegsparteien in Sicherheit zu bringen – und das in einer Stadt, deren Einwohnerzahl durch die Fliehenden um das Vierfache übertroffen wurde. Gleichzeitig rückten Rebellenverbände ein, was uns zu einer Zielscheibe für die syrische Armee und für islamistische Kämpfer machte. Im August 2013 kämpfte sich der »Islamische Staat« bis in die Stadt vor und löste die »Freie Syrische Armee« ab.

Ich erkannte meine Welt nicht wieder. Zerstörung und Tod wüteten um uns herum, und das kleine Glück, das wir uns geschaffen hatten, lag in Scherben. Wir verloren meine Mutter und Afras Vater. Mein Bruder wurde bei einem Angriff der syrischen Luftwaffe getötet, seine beiden Söhne waren verschwunden. Niemand wusste, ob sie tot oder auf der Flucht waren, oder ob sie sich gar einer der Kampfparteien angeschlossen hatten. Jeden Tag begannen wir mit der Angst, dass dieser Tag unser letzter sein könnte.

 

Eines Tages im Januar, es war kalt und regnete, stand ich früh auf. Ich hatte einen Hinweis erhalten, dass einer meiner Neffen am Stadtrand zusammen mit anderen Rebellen gesehen worden war. Ich wollte versuchen, ihn aufzuspüren und dazu zu bewegen, mit mir nach Hause zu kommen. Seine Mutter brauchte ihn und wir spielten mit dem Gedanken, die Stadt zu verlassen und – wenn es ein musste – auch das Land. Unser Haus lag im südlichen Teil der Stadt, einen Steinwurf vom Euphrat entfernt, so dass ich die ganze Stadt durchqueren musste, um in die Gegend zu gelangen, wo mein Neffe angeblich gesehen worden war. Das war gefährlich, aber ich hoffte darauf, dass bei diesem Wetter keine der Kriegsparteien Lust hatte, ihr mörderisches Tagwerk zu beginnen. Ich lief auf der »Straße des 23. Februar« Richtung Osten. Überall hatte ich bisher die schwarzgewandeten Milizionäre des »Islamischen Staates« sehen können. Sie saßen in ihren Pick-ups mit den todbringenden Geschützaufbauten oder standen in Hauseingängen. Andere kontrollierten Straßenkreuzungen und überprüften Fahrzeuge, die um diese Zeit noch spärlich unterwegs waren. Bisher hatten sie mich in Ruhe gelassen. Ich näherte mich dem ehemaligen Einkaufszentrum der Stadt, als ich von hinten gepackt und herumgerissen wurde. Ich erschrak und blickte in die schwarzbärtigen Gesichter zweier junger Männer. Ihre regennassen Haare klebten an ihren Köpfen und sie blickten nicht gerade freundlich drein. Beide hatten Maschinenpistolen um den Hals hängen.

»Was machst du hier?«, fragte mich der Größere der beiden barsch.

Instinktiv hob ich meine Hände auf halbe Höhe, bevor ich antwortete.

»Ich bin auf dem Weg nach Hause, Bruder«, erwiderte ich ruhig, was nicht mal im Ansatz meiner wahren Gefühlslage entsprach.

»Wo ist dein Zuhause?«

»Ein paar Straßen weiter«, log ich und ließ langsam meine Hände sinken. »Ich bin gleich da, wenn ihr mich denn gehen lasst.«

»Deine Papiere, Bruder!«

Ich bedachte den Kämpfer mit einem zerknirschten Blick.

»Meine Papiere sind verbrannt. Ich habe leider keine mehr, die ich dir zeigen könnte.«

»Und wo kommst du jetzt her?«, wollte der zweite Mann wissen.

»Ich war heute Nacht bei meiner Mutter. Wir haben gestern unseren Vater verloren. Ich habe ihr beigestanden.«

»Allah möge ihm Frieden schenken«, murmelte mein Gegenüber und wandte sich ab. »Geh nach Hause und pass auf, dass du nicht den Falschen in die Hände fällst.«

Ich bedankte mich und setzte meinen Weg erleichtert fort. Wen mochte er mit »die Falschen« gemeint haben? Bei den beiden Schwarzbärtigen schien es sich um Kämpfer des »IS« gehandelt zu haben. Aus Berichten von Bekannten wusste ich aber, dass ich mich einer Gegend näherte, in der ich auch auf versprengte Männer der »Freien Syrischen Armee« oder Rebellengruppen, ja sogar auf Soldaten der regulären syrischen Truppen stoßen konnte. Wer von ihnen waren die Richtigen? Wer die Falschen? Ich bog in eine Seitenstraße ein. Die Fassaden einiger Häuser wiesen große Einschusslöcher auf. Im hinteren Bereich der Straße fehlten den Häusern die Fassaden gänzlich. Ich musste über ein ausgedehntes Trümmerfeld steigen, bevor ich nach rechts abbiegen und parallel zur »Straße des 23. Februar« weiterlaufen konnte. Plötzlich bellte ein Maschinengewehr auf. Um mich herum pfiffen die Kugeln und spritzten Steinsplitter. Ich warf mich instinktiv auf den Boden, bevor ich getroffen wurde. Ich schrie in die plötzliche Stille hinein, denn das Feuer hatte aufgehört. Ich konnte mein rechtes Bein nicht mehr bewegen. Stattdessen hatte ich grässliche Schmerzen. Dann fühlte ich, wie ich von kräftigen Händen gepackt wurde. Mir drohten die Sinne zu schwinden, denn die Schmerzen steigerten sich ins Unermessliche. Dann wurde ich weggetragen.

 

*

 

Stunden später erwachte ich schweißgebadet. Mir war heiß und gleichzeitig kalt, und ich fragte mich, wo ich war. Um mich herum herrschte undurchdringliche Finsternis. War es schon wieder Nacht? Meine Hände waren hinter meinem Rücken gefesselt. Ich versuchte, meine Beine zu bewegen. Das hätte ich lassen sollen, denn sofort brandete in meinem rechten Bein ein Schmerz auf, der sich bis in den Unterleib fortsetzte. Ich stöhnte laut auf. Meine Zunge klebte am Gaumen fest, so trocken war mein Mund. Ich wollte trinken, aber wie sollte ich das anstellen? Auf mich war geschossen worden! Die Erinnerung daran kam mit Wucht. Man hatte mich von der Straße aufgehoben und davongetragen. Zwei Männer. Ein großer Kräftiger und ein etwas Kleinerer. Was wollten sie von mir? Wo hatten sie mich hingetragen? Auf jeden Fall saß ich, von Dunkelheit umhüllt, in einem Raum, unter mir steiniger Boden, in meinem Rücken eine kühle, feuchte Wand. So sehr ich meine Augen auch bemühte, ich konnte nichts erkennen. Ich vermutete, dass es sich um einen fensterlosen Raum handelte, denn normalerweise konnte man, wenn sich die Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, nach einer gewissen Zeit zumindest ein bisschen erkennen. Ich nahm nur Schwärze wahr. Gut, wenn es mit den Augen nicht funktionierte, dann mussten halt meine anderen Sinne versuchen zu erfühlen, wo ich war. In meine Nase kroch ein erdiger, schweißiger und blutiger Geruch, leicht metallisch. Wahrscheinlich nahm ich mein eigenes Blut wahr, schließlich war ich angeschossen worden. Ich versuchte, mit allen Sinnen meinen Körper abzutasten, ob ich womöglich noch weitere Wunden aufwies. Das schien nicht der Fall zu sein. Dann lauschte ich angestrengt in die Finsternis hinein. Ich nahm ein dumpfes Grollen wahr, als wenn sich in der Ferne ein Wintergewitter entlud. Natürlich konnten es auch Gefechte sein. Schließlich herrschte Krieg in diesem Land. Ich versuchte, in die liegende Position zu wechseln. Es gelang mir nicht, denn meine gefesselten Arme schienen an der Wand in einer Höhe angekettet zu sein, die mir dies unmöglich machte. Warum ging man so mit mir um? Ich stand auf niemandes Seite. Ich gehörte nicht zu den Kämpfern. Ich war nur ein Lehrer für arabische Literatur, hatte eine Frau und drei Kinder und noch nie in meinem Leben jemandem etwas zuleide getan. Plötzlich vernahm ich dumpfes Poltern außerhalb des Raumes, dann Schritte von mehreren Personen, und schließlich blendete mich gleißendes Licht. Reflexartig schloss ich die Augen, öffnete sie aber sofort wieder einen Spalt breit. Jemand stand vor mir und fummelte an meinen Ketten herum. In der Tür sah ich den Schatten eines weiteren Mannes. Ich wurde vom Boden auf die Beine gerissen, woraufhin mir ein Schrei entfuhr, denn sogleich drohte mir der Schmerz wieder die Besinnung zu rauben. Ich erhielt einen Schlag in den Nacken.

»Sei still, du Hurensohn!«, zischte mir eine Stimme ins Ohr.

Fauliger Geruch aus dem Mund des Mannes schlug mir entgegen. Er schob mich vor sich her, in die Richtung der Tür, wo der andere reglos gewartet hatte. Der packte mich am Hemdkragen und zog mich in einen Nebenraum, wo zwei weitere Männer saßen, die mir neugierig entgegenblickten. Alle vier Männer hatten ihr Gesicht so bedeckt, dass nur ihre Augen zu sehen waren. Ihre Masken erinnerten an Mützen mit Sehschlitzen, so wie man sie aus Filmen kannte. Der Tisch vor ihnen war übersäht mit Waffen. Der Mann, der mich am Schlafittchen hatte, stieß mich auf einen Stuhl, was mir erneut einen Schmerzensschrei entlockte. Die unmittelbare Reaktion darauf war ein weiterer Schlag, diesmal ins Gesicht.

»Ich habe dir gesagt, du sollst die Fresse halten!«, schrie mich der größere Mann an und zog mir eine Art Sack über den Kopf, der für meine Augen undurchdringbar war und bestialisch stank.

Ich ertrug die Schmerzen still, auch wenn sie mich fast umbrachten. Mein Bein schien in Flammen zu stehen. Ich atmete schwer, und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich beruhigt hatte und die Angst spüren konnte, die mich erfasst hatte.

»Wer bist du?«, hörte ich eine andere Stimme fragen, die wohl einem der beiden Männer am Tisch gehörte.

»Ich bin Aahlijah Massoud«, presste ich hervor.

»Weiter!«

»Was möchtest du wissen?«, fragte ich, denn ich wusste nicht, was er mit »Weiter« meinte.

Ich erhielt einen Schlag aufs rechte Ohr. Mein Kopf flog nach links und ich schrie auf. Offensichtlich hatten sich die beiden Männer, die mich eben aus meinem Gefängnis geholt hatten, hinter mir postiert, denn als Reaktion auf meinen Schrei erhielt ich den nächsten Schlag, diesmal von links. Ich unterdrückte die in mir aufwallende Wut und nahm die erneute Züchtigung scheinbar gelassen hin.

»Hört jetzt auf damit!«, sagte die Stimme vom Tisch. Sie klang ruhig und war tief. »Wer bist du?«, wiederholte der Mann, so als ob ich ihm noch nicht geantwortet hätte.

»Ich bin Aahlijah Massoud aus Ar-Raqqa, zweiundvierzig Jahre alt. Ich bin Lehrer für arabische Literatur an der Universität von Aleppo.«

»So, bist du das?«, ertönte die nach wie vor ruhige Stimme des Fragestellers. »Was suchst du um diese frühe Stunde in dieser Gegend?«

Ich machte einen weiteren Fehler und zuckte mit den Schultern. Diesmal erfolgte der Schlag von vorne, mit unglaublicher Wucht und in den Magen. Ich krümmte mich unter der Gewalt des Schlages und unterdrückte den Würgereiz, der in mir emporstieg.

»Du glaubst, mit uns spielen zu können?«, ertönte die Stimme wieder. Jetzt wirkte sie ungeduldig.

Ich hörte, wie ein Stuhl gerückt wurde. Offensichtlich war derjenige, der das Verhör mit mir führte, aufgestanden.

»Ich will es dir sagen«, sprach er weiter. »Du suchst deine Leute und hast dich leider etwas dumm dabei angestellt. Habe ich recht?«

Was sollte ich darauf antworten? Von welchen »Leuten« sprach er, die ich angeblich suchen sollte? Mir dämmerte langsam, dass ich in eine schier ausweglose Situation geraten war. Wenn ich ihm erzählte, dass ich meinen Neffen Ridvan suchte, um ihn nach Hause zu holen, brächte ich womöglich den Jungen ebenfalls in Schwierigkeiten. Ich hatte ja keine Ahnung, auf welcher Seite, mit welcher Gruppe er kämpfte. Ich erhielt einen Stoß in die Seite.

»Ob ich recht habe, will ich wissen!«, brüllte der Mann nun in unmittelbarer Nähe meines Gesichts. Ich zuckte zusammen. Seine Faust landete auf meiner Nase. Ich hörte es knacken und ein stechender Schmerz fuhr bis in meine Haarwurzeln. Mir wurde schwarz vor Augen. In Erwartung des nächsten Schlages versuchte ich, meinen Kopf von dem Mann wegzudrehen, während Blut von meiner Nase in den Mund lief und ich wieder diese metallische Süße schmeckte.

»Nein«, sagte ich, wohl wissend, dass ich mir jetzt aus dem Stegreif eine glaubwürdige Geschichte ausdenken musste. Ich versuchte es mit der Version, die ich vor ein paar Stunden den »IS«-Männern präsentiert hatte. »Mein Vater ist gestern gestorben. Ich war über Nacht bei meiner Mutter und will nach Hause.«

»Du lügst!«, kam die zwar zutreffende aber erschreckende Antwort. »Du bist vorhin mit unseren Feinden gesehen worden. Was ist dein Auftrag? Wer hat dich geschickt?«

»Niemand!«, wimmerte ich verzweifelt. »Ich habe keinen Auftrag! Ich bin ein völlig ...«

»... harmloser Mensch«, wollte ich sagen, wurde aber jäh von einem gewaltigen Schlag auf den Hinterkopf unterbrochen. Einer der beiden hinter mir stehenden Männer musste mit einem harten Gegenstand zugeschlagen haben – vermutlich mit dem Knauf seiner Waffe. Ich gab nur noch Gebrabbel von mir, und während ich langsam in Bewusstlosigkeit versank, hörte ich die Stimme wieder sprechen.

»Du wirst reden, das schwöre ich dir.«

 

*

 

Ich erwachte davon, dass mir jemand eine gehörige Ladung Wasser über den Kopf kippte. Als Nächstes war der Schmerz wieder da. Neben meiner Schussverletzung am Bein taten mir die Arme weh, die noch immer fest hinter meinem Rücken verschnürt waren, mein Gesicht war angeschwollen und brannte wie Feuer, aber all das war nichts im Vergleich zu den Kopfschmerzen, die der Schlag mit dem Pistolenknauf auf meinen Hinterkopf ausgelöst hatte. Mit großer Mühe öffnete ich die Augen, so weit es mir möglich war, und blickte zu meiner großen Verwunderung in ein Gesicht, das unmittelbar vor meinem schwebte. Der Sack, der vor meiner Bewusstlosigkeit meinen Kopf verhüllte, war entfernt worden. Ich saß nach wie vor auf dem Stuhl, war allerdings etwas zusammengerutscht. Es befanden sich außer mir nur noch zwei Männer in dem Raum. Links neben mir stand einer der Männer, die bei meinem Eintreten noch am Tisch gesessen hatten. In seinen Händen hielt er einen Eimer, aus dem wohl das Wasser stammte, das mich eben geweckt hatte. Der Mann schaute mich kühl an. Etwas Neugierde schwang in seinem Blick mit, als ob er darauf lauerte, was als Nächstes geschehen würde, aber ich hatte nichts zu bieten, das für seine Unterhaltung hätte sorgen können. Ich bemerkte, wie ich leise vor Schmerzen wimmerte und riss mich zusammen. Das Gesicht vor meinem begann zu lächeln. Das gruselte mich, denn es entbehrte jeder Freundlichkeit. Die Augen des Mannes waren schwarz wie seine kurzen Haare, buschige Brauen wölbten sich über seinen Augen und eine klobige Nase prangte in seinem harten Gesicht. Sein leicht geöffneter Mund wurde von breiten Lippen gebildet, zwischen denen gelbe, lückenhafte Zähne zu sehen waren. Sein Atem stank und bereitete mir neben meinen Schmerzen auch noch Übelkeit.

»Da ist er ja wieder«, sagte er und richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf. »Ich dachte schon, wir würden nichts mehr von dir erfahren und müssten dich zurück auf die Straße werfen.«

Er nickte seinem Kollegen zu, der daraufhin den Eimer abstellte und die Fesseln meiner Hände löste, um sie unmittelbar danach auf den Armlehnen des Stuhls zu fixieren. Der andere trat an den Tisch und zog einen Stuhl vor mich hin, auf dem er sich niederließ. Dann streckte er eine Hand in Richtung seines Kollegen aus. Der überreichte ihm mit süffisantem Grinsen eine Zange. Er hielt sie eine Weile vor mein Gesicht und beugte sich zu mir hin.

»Pass auf«, sagte er, »wir beginnen noch einmal. Niemand soll sagen können, wir würden unsere Gefangenen nicht ordentlich behandeln und ihnen keine zweite Chance geben. Ich stelle dir jetzt ein paar Fragen, und du wirst sie wahrheitsgemäß beantworten. Für die erste Lüge verlierst du einen Finger, für jede weitere noch einen. Ist dir das Prinzip klar?«

Er erwartete wohl allen Ernstes eine Antwort von mir, denn er blickte mich entsprechend an.

»Ja«, sagte ich und erschrak über das heisere Krächzen, das ich von mir gegeben hatte.

»Gut«, gab er sich zufrieden. »Du hast also zehn Lügen frei, bevor wir zu irgendwelchen anderen Körperteilen übergehen müssen.«

Sein Kollege brach in gehässiges Gelächter aus und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Mit breitem Grinsen verfolgte er das Geschehen.

»Können wir anfangen?«, fragte der Anführer. »Bist du so weit?«

Ich versuchte es mit einem Nicken, was ich umgehend bereute, denn mein Kopf drohte unter dem plötzlich wieder auftretenden pulsierenden Schmerz zu explodieren.

»Du hast Schmerzen, oder?«

»Ja.«

»Dann solltest du dich bemühen, dass keine weiteren Verletzungen dazukommen. Du siehst ohnehin schlimm genug aus. Ende mit der Plauderei. Meine erste Frage: Wie heißt du?«

Ich versuchte, mich aufrecht hinzusetzen, bevor ich antwortete. Es gelang mir nicht, denn mein rechtes Bein konnte ich nicht belasten.

»Mein Name ist Aahlijah Massoud.«

»Wo kommst du her?«

»Ich bin in Ar-Raqqa geboren und aufgewachsen. Hier wohne ich auch.«

»Auf welcher Seite kämpfst du?«

»Ich kämpfe gar nicht. Ich bin Lehrer und lebe mit meiner Familie in dieser Stadt.«

Ehe ich mich versah, war der kleine Finger meiner rechten Hand von den Schneiden der Kneifzange umschlossen.

»Hör auf!«, schrie ich. »Ich sage die Wahrheit! Ich schwöre es beim Leben meiner Frau und meiner Kinder!«

»Nimm dich in acht!«, zischte der Mann. »Du hast vorhin mit diesen Dschihadisten gesprochen. Wir haben dich gesehen. Du wohnst nicht in dieser Gegend, denn hier wohnt niemand mehr.«

»Das stimmt«, gab ich zu. »Ich wohne ganz unten im Süden, nahe bei dem Fluss. Die ›IS‹-Kämpfer haben mich kontrolliert und dann gehen lassen.«

»Und was hast du hier zu suchen?«

Ich wollte nicht mehr lügen. Was sollte schon geschehen, wenn ich diesem Mann, wer auch immer er war, die Wahrheit sagte?

»Ich bin auf der Suche nach meinem Neffen.«

Mein Gegenspieler stutze.

»Dein Neffe? Was hat plötzlich dein Neffe damit zu tun?«

»Mein Bruder kam vor einigen Monaten bei einem Luftangriff ums Leben. Seitdem sind seine beiden Söhne verschwunden. Gestern hörte ich, dass einer von ihnen am Ostrand der Stadt gesehen worden ist.«

»Und du willst mir jetzt weismachen, dass du unterwegs bist, um deinen Neffen zu finden?«

»Ja«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.

Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass mich ein höllischer Schmerz durchfuhr, als die Zange meinen Finger abtrennte. Gleichzeitig quälte sich ein Schrei aus meinem Körper, von dem ich nicht geahnt hatte, dass er in mir war. Langsam schwanden meine Sinne und ich versank in tiefster Dunkelheit.

 

*

 

Irgendwann wurde ich wach, nicht richtig, aber zumindest bekam ich mit, dass etwas passierte. Jemand fingerte an mir herum – an meinem Bein, an meiner Hand. Ich hörte, dass Menschen miteinander redeten, und schlief wieder ein. Als ich das nächste Mal zu mir kam, wischte mir eine Hand den Schweiß von der Stirn, und ich hatte für kurze Zeit den Eindruck, dass ich in einem Wagen lag und gefahren wurde. Die Hand war leicht, nicht grob wie die eines Mannes. Ich wollte die Augen öffnen, doch es gelang mir nicht und so gab ich mich wieder der schützenden Bewusstlosigkeit hin. Diese Hand war es auch, die irgendwann meinen Kopf stützte und mir etwas zu trinken einflößte. Ich genoss die Kühle des Wassers und wollte gierig so viel wie möglich davon haben, aber die Person, der die Hand gehörte, ließ das nicht zu.

»Sssssh«, hörte ich sie machen, »nicht so viel! Das verträgst du noch nicht.«

Die Nacht senkte sich wieder über mich. Das tat sie noch einige Male. Schließlich – wie ich später erfuhr, nach fast drei Wochen – wurde ich wach. Jemand hielt meine Hand. Ich wandte den Kopf und sah ein Mädchen neben mir sitzen, das mich anlächelte und leicht meine Hand drückte.

»Willkommen zurück im Leben«, sagte sie.

Ich deutete ein Nicken an und befreite meine Hand aus ihrem Griff. Dann blickte ich mich um. Dies war nicht der Raum, in dem ich gefoltert worden war. Das Mädchen musste die Verwunderung in meinem Gesicht gesehen haben.

»Du bist nicht mehr in Rakka«, sagte sie. »Wir haben dich nach Ain Al-Arab gebracht, wo wir das Sagen haben.«

»Wer bist du ... und wer seid ihr?«, fragte ich.

»Ich heiße Zohra und gehöre zu den Kämpfern der Yekîneyên Parastina Gel.«

»Du bist Kurdin?«

»Nein, ich bin eine Christin aus Homs, aber ich kämpfe mit der YPG. Lass uns das alles später besprechen. Wie fühlst du dich?«

Tatsächlich war das die Frage, die auch mich zurzeit am meisten beschäftigte. Ich fühlte mich schwach, aber lebendig. Meine rechte Hand war verbunden, und die Sauberkeit des Verbandes wies darauf hin, dass er erst vor kurzem erneuert worden war. Ich hob mit der anderen Hand die Decke an, unter der ich lag, und stellte zwei Dinge fest: Erstens war ich nackt, und zweitens war auch mein verletztes Bein verbunden. Ich spürte die Verletzungen, aber das war kein Vergleich zu den Schmerzen, die ich zu Beginn ertragen musste.

»Ich bin müde. Was ist mit meinem Bein?«

»Du hast Glück gehabt«, erwiderte Zohra. »Um ein Haar hättest du nicht nur den Finger, sondern auch dein Bein verloren. Es war schlimm entzündet, als wir dich fanden, und du warst dem Tod näher als dem Leben.«

»Danke«, murmelte ich und wandte mein Gesicht zur Seite. Mir kamen die Tränen so unvermittelt wie der Gedanke, der sie auslöste – der an meine Frau und meine Kinder.

»Du solltest noch etwas schlafen«, hörte ich Zohra sagen. »Wenn du das nächste Mal wach wirst, bekommst du etwas zu essen. Dann werde ich dir alles erklären.«

Sie strich mir mit der Hand über den Kopf und verschwand. Warum nur habe ich meine Familie an jenem Morgen verlassen, um meinen Neffen zu suchen? Statt ihn zu finden, bin ich angeschossen und gefoltert worden, habe einen Finger verloren und bin dem Tod offenbar nur knapp entkommen. Was war mit Afra und den Kindern? Lebten sie noch? Und wenn ja, was mochten sie glauben, warum ich so lange von zu Hause wegblieb? Eigentlich wollte ich am gleichen Tag zurück sein, und jetzt waren schon Wochen vergangen, ohne dass sie etwas von mir gehört hatten. Über diesen Gedanken schlief ich ein und erwachte einige Stunden später davon, dass ich Menschen miteinander sprechen hörte. Ich schlug die Augen auf und drehte mich um. An meinem Krankenlager standen Zohra und ein älterer Mann, den ich auf Mitte vierzig schätzte. Die junge Frau hielt eine dampfende Suppentasse in der Hand und lachte mich an, als sie bemerkte, dass ich wach war.

»Ich habe Verstärkung mitgebracht«, scherzte sie. »Das hier ist Qassem, mein Kommandeur. Ihm hast du zu verdanken, dass du noch lebst.«

Der Mann blickte voller Misstrauen auf mich herab, zog einen Stuhl an mein Bett und setzte sich.

»Du bist Aahlijah«, begann er mit angenehmer Stimme zu sprechen. »Was ist dir zugestoßen?«

»Warte einen Moment«, unterbrach Zohra. »Iss das – langsam und löffelweise. Ich bleibe hier, solange du isst. Kannst du dich aufrichten?«

Ich konnte, aber kaum saß ich aufrecht, überfiel mich ein Schwindelanfall und ich drohte, wieder umzusinken.

»Langsam, mein Freund«, sagte Zohra und griff beherzt zu. »Das musst du erst wieder lernen. Ich werde dir helfen.«

Sie setzte sich zu mir aufs Bett und stützte mich, indem sie ihren rechten Arm um meinen Oberkörper legte und mich festhielt. Mit der anderen Hand hielt sie die Suppentasse, so dass ich daraus löffeln konnte. Es fiel mir mit der verbundenen Hand schwer, aber mit der Zeit ging es immer besser. Ich hatte das Gefühl, noch niemals in meinem Leben etwas besseres gegessen zu haben. Die Suppe, bei der es sich eigentlich nur um eine Brühe mit Gemüsestücken handelte, schmeckte vorzüglich. Während ich die heiße Suppe schlürfte, betrachtete mich Qassem lauernd. Er wartete darauf, endlich mit mir sprechen zu können.

»Lässt du mir die Suppe hier? Ich möchte sie später aufessen«, wandte ich mich an Zohra.

»Aber sicher«, erwiderte sie und gab mir einen Klaps auf die Schulter. »Ich stelle sie auf den Tisch. Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst.«

Mit diesen Worten erhob sie sich und verließ den Raum, nachdem sie mir wieder in die liegende Position geholfen hatte.

»Ihr hast du viel zu verdanken«, begann Qassem. »Zohra hat dich Tag und Nacht gepflegt, obwohl ich keinen Pfifferling mehr auf dich gegeben hätte.«

»Ich habe euch allen zu danken«, gab ich zu. »Das werde ich zu gegebener Zeit auch tun.«

Der Mann neben meinem Bett lächelte mich an und ließ dabei zum ersten Mal, seit er mir vorgestellt worden war, so etwas wie Wärme erkennen.

»Das mit der Zeit ist so eine Sache«, sagte er. »Jede Stunde kann unsere Todesstunde sein. Du wolltest mir erzählen, was mit dir passiert ist.«

Ich begann zu berichten und musste zwischendurch immer wieder kurz pausieren, da sich meine Erinnerungen als lückenhaft erwiesen. Doch letztlich hatte ich den Eindruck, Qassem umfassend erzählt zu haben, was geschehen war, nachdem ich an jenem Morgen das Haus verlassen hatte. Der YPG-Kommandeur hatte schweigend, aber aufmerksam zugehört. Er hatte mich nicht ein einziges Mal unterbrochen, auch dann nicht, als meine Erzählung stockte.

»Du hast Ridvan gesucht?«, fragte er jetzt.

Ich nickte.

»Und du hast ihn nicht gefunden«, schob er hinterher.

Ich schüttelte den Kopf.

»Aber er hat dich gefunden.«

»Nein, leider nicht«, entgegnete ich. »Wie gesagt, auf mich wurde das Feuer eröffnet, als ich gerade ...«

»Das weiß ich«, unterbrach Qassem mich. »Aber Ridvan hat dich gefunden. Er gehörte zu der Gruppe, die dieses Folternest ausgehoben und dich befreit hat.«

Ungläubig starrte ich Qassem an, der gelassen und freundlich zurücklächelte.

»Du ... meinst ...«, stammelte ich.

»Ja, das meine ich. Er hat mit seiner Gruppe die Hausruine gefunden, in der dich die Assad-Schergen gefangen hielten. Leider haben wir sie nicht alle erwischt. Zwei von ihnen konnten fliehen, aber ich bezweifle, dass sie weit gekommen sind, denn diese Gegend wird von den IS-Truppen kontrolliert.«

»Kann ich Ridvan sehen?«, fragte ich, noch immer überrumpelt von der Neuigkeit.

»Später«, erwiderte Qassem. »Er ist mit drei weiteren Kämpfern unterwegs nach Ar-Raqqa, um deine Familie zu holen.«

Diese Worte gaben mir den Rest. Ich begann zu schluchzen, als ob sich alle Qual der letzten Wochen auf einmal Bahn brechen wollte, und zog meinen Kopf unter meine Decke. Kurz darauf spürte ich Qassems Hand, mit der er mir über den Kopf strich.

»Schlaf etwas«, versuchte er zu trösten. »Alles wird gut.«

Dann hörte ich, wie er aufstand und den Raum verließ. Tatsächlich gelang es mir wieder, über meinen Tränen in einen von wilden Träumen durchzogenen Schlaf zu gleiten.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Jedenfalls erwachte ich, als der Morgen anbrach und mein Krankenlager in blasses Licht tauchte. Meine Augen, die sich langsam öffneten, nahmen eine Gestalt wahr, die neben meinem Bett saß. Erst dachte ich, es handelte sich um Zohra. Beim zweiten Hinsehen aber erkannte ich Afra, meine geliebte Frau. »Alles wird gut«, erinnerte ich mich, von Qassem gehört zu haben. Ich glaubte ihm, und dieses morgendliche Erwachen gab mir auch allen Grund dazu, aber Irren ist menschlich, und Qassem hatte sich geirrt.

2

Tereza lag mehr auf dem Sofa, als dass sie saß, und starrte auf den Fernseher, den sie eingeschaltet hatte, um sich die Nachrichten anzusehen. Die siebzehnjährige Adoptivtochter von Frank Wallert und Maren Dieckmann war allein zu Hause. Adrian, ihr gleichaltriger »Adoptivbruder«, hatte sich mit Freunden verabredet und war unterwegs. Maren, seit ihrer Geiselnahme im Sommer durch Martin Scheidthauer schwer traumatisiert, war noch bei ihrer Therapeutin, und Frank war in seiner Eigenschaft als Privatdetektiv im Einsatz. Bald würde Thorben sie abholen kommen. Er hatte sie zum Essen eingeladen und wollte mit ihr reden. Worüber, wusste Tereza nicht, aber sie war gerne mit Thorben zusammen, den sie von der Schule her kannte, und in den sie sich ein wenig verliebt hatte. Bestimmt ging es um die nahenden Herbstferien. Sie wusste, dass er mit seinen Eltern einen Kurzurlaub in Frankreich geplant hatte. Wollte er sie vielleicht fragen, ob sie Lust hatte, mitzukommen? Mit Maren und Frank hatte Tereza darüber noch nicht geredet, und so sehr sie sich auch wünschte, die Ferien mit Thorben verbringen zu können: Sie zweifelte daran, dass die beiden ihr grünes Licht geben würden.

Im Juli war Tereza siebzehn Jahre alt geworden. Seit fast sieben Jahren lebte sie nun mit Frank Wallert, einem ehemaligen Kriminalhauptkommissar, und seiner Lebensgefährtin Maren Dieckmann zusammen, die nach wie vor bei der Kriminalpolizei arbeitete. Beide hatten sich Terezas und Adrians angenommen, nachdem diese, aus Rumänien kommend, im Ruhrgebiet gestrandet und in große Schwierigkeiten geraten waren. Manchmal konnte Tereza ihr Glück kaum fassen. Je älter sie wurde, umso klarer wurden ihre Erinnerungen an Cluj, wo sie wie Adrian auf einer Müllkippe gehaust hatte. Ihre Eltern waren tot, und niemand hatte sich um das Roma-Mädchen gekümmert, bis sie Adrian über den Weg gelaufen war, den sie von diesem Zeitpunkt an als eine Art Bruder angesehen hatte. Adrian war von seinem Vater an einen zwielichtigen Typen verkauft worden, der den Jungen und Tereza mit ins Ruhrgebiet genommen hatte. Frank und Maren hatten den beiden Kindern geholfen und sie sogar adoptiert. Seitdem führten die Vier ein Familienleben, wie es Tereza sich immer erträumt, aber nie gelebt hatte. Dafür war sie Frank und Maren unendlich dankbar. Niemals, das hatte sie sich geschworen, würde sie etwas tun, mit dem sie die beiden enttäuschen könnte.

Die »Tagesschau« hatte begonnen. Die Sprecherin übermittelte eben die zu erwartenden Flüchtlingszahlen für den September. 135.000 Menschen waren in dem zu Ende gehenden Monat über die sogenannte Balkanroute nach Deutschland gekommen. Auf dem Bildschirm erschien die Kanzlerin, und Tereza sah einen Ausschnitt aus einer Pressekonferenz vom 31. August, den sie in den letzten Wochen schon so häufig gesehen hatte.

»Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land, und die ... das Motiv, indem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft. Wir schaffen das!«

Das Bild wechselte zu einem Reporter, der vor dem Kanzleramt in Berlin stand. Der äußerte sich skeptisch, dass das Problem bei diesen Zahlen wirklich zu schaffen sei. Er berichtete, dass der CSU-Vorsitzende Seehofer ebenfalls Zweifel habe und von der Kanzlerin einen Plan zur Reduzierung der Flüchtlingszahlen forderte. Der Politiker behauptete, die Kanzlerin habe mit der Öffnung der Grenze ein falsches Signal gegeben.

Tereza schaltete den Fernseher aus. Seit ein paar Monaten wurde sie immer traurig, wenn sie sich die Nachrichten ansah. Irgendwie war sie ja selbst auch geflüchtet, und sie konnte es nicht ertragen, diese Menschen zu hören, die »Angst« vor den Flüchtlingen hatten, davor, dass sie nun angeblich kürzer treten mussten, weil so viele Flüchtlinge ins Land kamen. Sie hatte gesehen, wie ungarische Grenzpolizisten auf die Menschen eingeprügelt hatten und wie Hunderte von Männern, Frauen und Kindern tot aus dem Mittelmeer gefischt oder an Strände angeschwemmt worden waren. Wer hatte ein Recht darauf, Angst zu haben? Die Menschen, denen es in diesem Land vergleichsweise gut ging, oder diejenigen, die ihr Land verlassen mussten und sich über mehrere tausend Kilometer in Sicherheit zu bringen versuchten? In der Schule hatten sie auch darüber geredet. Ihr Lehrer für Gesellschaftslehre hatte das Thema aufgebracht und in dem Kurs eine heftige Debatte ausgelöst. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, von ihren Mitschülern und Mitschülerinnen solche Sätze zu hören.

»Die hat sie doch nicht alle!«, sagte jemand und meinte die Kanzlerin. »Als wenn wir nicht schon viel zu viele von denen mit durchfüttern müssten!« Auf die aufkommende Fremdenfeindlichkeit und die Brandanschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte angesprochen, fuhr er fort: »Na und? Die sind ja noch nicht bewohnt. Es kommt ja niemand zu Schaden. Vielleicht hat es Wirkung, und die Leute bleiben, wo sie hingehören.« Wo gehörte ein Mensch hin? War dieser Junge auch der Meinung, dass Tereza zurück nach Cluj auf die Müllkippe gehörte? Ein Mädchen aus ihrem Kurs hatte gemeint, die Aussage des Jungen relativieren zu müssen. »Na ja, Brandanschläge sind nicht in Ordnung«, sagte sie, »aber man muss diesen Menschen schon beibringen, dass dies nicht ihr Land ist. Sie sollen in ihren Ländern bleiben und dafür sorgen, dass ihr Heimatland besser wird.« Herr Wiechering, der Lehrer, hatte sich eingemischt. »Wenn das die Spanier, Portugiesen und Italiener nach dem Zweiten Weltkrieg so gesehen hätten, würde unser Land wahrscheinlich immer noch in Trümmern liegen«, hatte er gesagt und zur Antwort erhalten: »Das ist ja etwas ganz anderes. Die haben Deutschland mit aufgebaut. Aber die, die jetzt kommen, hocken sich in ein gemachtes Nest.« An diesem Punkt hatte Tereza ihre Sachen zusammengepackt und war gegangen, was erstaunte Blicke ausgelöst hatte. »Ich kann dich verstehen«, hatte ihr der Lehrer anschließend gesagt, »aber es wäre mir lieber gewesen, wenn gerade du dich stärker an der Diskussion beteiligt hättest.«

Er hatte recht damit. Sie hatte sich verändert. Noch vor ein paar Jahren war sie keiner Diskussion aus dem Wege gegangen, hatte ihren Standpunkt vertreten und dafür auch manches Lob von ihrem Lehrer eingeheimst. Seit dieses Thema mit den Flüchtlingen nach oben schwemmte, hinterfragte sie sich sehr oft. Ihre eigene Geschichte drängte sich in einem Maße in ihr Bewusstsein, wie es niemals vorher der Fall gewesen war. Natürlich wurde auch das in der Schule diskutiert. Schließlich kam sie ja aus Rumänien, einem Land der Europäischen Union. Es leuchtete vielen Menschen – natürlich auch ihren Mitschülerinnen und Mitschülern – nicht ein, wieso plötzlich so viele Bulgaren und Rumänen nach Westeuropa kamen. Damals schon witterte man die Gefahr, dass diese Leute den Einheimischen etwas wegnehmen könnten, worauf sie keinen Anspruch hatten. Tereza hatte verzweifelt dagegen gehalten, und nachdem sie in ihrer Klasse ein Referat gehalten hatte, in dem auch ihre eigenen Erfahrungen, ihr Alltag in Rumänien nicht zu kurz gekommen war, hatte sie viel Zuspruch erfahren. Das war wohl der Unterschied zwischen der Wahrnehmung persönlicher Schicksale und den Vorurteilen, die über eine unüberschaubare Menge von Menschen ausgekübelt wurden. In der Masse sind sie anonym, und die Einsicht in die Tatsache, dass hinter jedem einzelnen Migranten eine individuelle Geschichte steckte, war viel zu anstrengend, denn dann müsste man sich mit ihnen beschäftigen.

Die Türglocke ertönte, und Tereza sprang auf. Ein Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass es Punkt fünf Uhr war. Das musste Thorben sein. Sie lief zur Haustür und öffnete.

»Oh, du bist ja noch gar nicht fertig«, sagte Thorben, als er sich durch die Tür schob und Tereza einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab.

Das Mädchen schaute an sich herab und stellte fest, das sie immer noch die Shorts und das T-Shirt trug. Es war ein warmer Nachmittag gewesen, an dem sie ihre Hausaufgaben auf der Terrasse erledigt hatte. In Gedanken versunken hatte sie die Zeit aus den Augen verloren.

»Ich habe keine Lust, Essen zu gehen«, sagte sie. »Lass uns hier sprechen. Wir sind alleine.«

Sie lief voraus ins Wohnzimmer und ließ sich zurück auf das Sofa plumpsen. Sie schlug ein Bein unter und blickte Thorben abwartend an, der vor lauter Verblüffung in der Wohnzimmertür stehengeblieben war.

»Wieso hast du jetzt plötzlich keine Lust mehr?«, fragte er konsterniert. »Ich habe im Mezzomar einen Tisch für uns bestellt.«

»Komm, setz dich«, erwiderte Tereza. »Es tut mir leid, aber mir ist wirklich nicht danach, jetzt mit dir Essen zu gehen. Es geht mir nicht so gut.«

Sogleich veränderte sich Thorbens Gesichtsausdruck. Er war besorgt.

»Wieso? Was ist los?«, fragte er, während er sich neben sie setzte.

Sie erzählte ihm von den Gedanken, die sie während der letzten Stunde beschäftigt hatten.

»Aber wir können doch daran nichts ändern«, erwiderte er, als sie fertig war. »Das ist Politik und eine Nummer zu groß für uns.«

Tereza, die sich eben an ihn lehnen wollte, richtete sich auf und starrte ihn vorwurfsvoll an.

»Was redest du da? Das sind Menschen, die verzweifelt sind und alleine in diesem Land nicht klarkommen«, entgegnete sie. »Die Politik ist das eine, die Menschen etwas anderes.«

»Schon gut«, lenkte Thorben ein. »Und was willst du tun?«

»Ich möchte in den Ferien für die Flüchtlinge arbeiten. In den Unterkünften und Sammelstellen wird jede Hilfe gebraucht.«

Erwartungsvoll schaute sie Thorben an, bei dem sich Enttäuschung in den Blick schob.

»Ich hatte gehofft, dass du mit nach Frankreich kommst«, murmelte er, worauf Tereza seine Hand in ihre nahm und ihn anlächelte.

»Und meine Hoffnung war, dass du mitmachst. Wir rufen bei der Flüchtlingshilfe an und fragen, wo wir helfen können. Was sagst du dazu?«

Das Lächeln in Terezas Gesicht erstarb, als Thorben vom Sofa aufsprang.

»Vergiss das!«, schleuderte er ihr entgegen. »Seit Monaten freue ich mich schon auf Frankreich! Das lasse ich mir von dir nicht kaputtmachen!«

»Thorben!«, sprach sie eindringlich auf ihn ein und stand ebenfalls auf. »Frankreich läuft dir nicht davon. Diese Menschen brauchen jetzt Hilfe! Ich verspreche dir: Nächstes Jahr, nach unserem Abi, fahre ich mit dir nach Frankreich. Du und ich – wir beide. Und nicht nur für eine Woche.«

Sie schlang ihre Arme um ihn und schaute ihm in die Augen, hinter denen es sichtbar arbeitete.

»Nein«, sagte er schließlich. »Ich möchte Frankreich! Jetzt!«

Enttäuscht löste sie sich von ihm.

»Das tut mir leid«, sagte sie.

»Mir auch«, antwortete er, bevor er sich umdrehte und die Hand zum Abschied hob. Kurz darauf war Thorben verschwunden.

3

Im Polizeipräsidium brummte es wie in einem Bienenstock. Maren Dieckmann und Malte Frenzen hatten sich aus dem Alltagschaos ausgeklinkt und sich entschieden, endlich einmal alles das nachzuholen, was in den letzten Tagen wesentlich zu kurz gekommen war. Malte war ein langjähriger Kollege von Maren und als Kriminalhauptkommissar seit Franks Ausscheiden aus der Polizei auch ihr Chef beim KK 11 in der Kreispolizeibehörde Essen/Mülheim. Sie saßen einander gegenüber an ihren Schreibtischen und schrieben Berichte oder beantworteten Mails, die eingegangen und länger unbeantwortet geblieben waren. Eigentlich hatte Maren hier noch nichts zu suchen, denn sie sollte erst Anfang Oktober wieder in den Polizeidienst zurückkehren. Seit dem 22. Juni war sie krankgeschrieben und wollte – so wie seinerzeit ihr Lebensgefährte Frank Wallert – eine dreimonatige Wiedereingliederungszeit in Anspruch nehmen. Sie würde am 1. Oktober mit halber Stundenzahl beginnen und monatlich um zwei Stunden aufstocken. Für mindestens ein halbes Jahr würde sie zum Innendienst verdammt sein.

Wenn sie ganz ehrlich zu sich war, hatte sie gehörigen Respekt vor diesem Schritt. Es war etwas länger als drei Monate her, dass sie von einem ausgebrochenen Häftling, der glaubte, noch eine Rechnung mit ihr offen zu haben, gekidnappt, verschleppt und in einem alten vergessenen Bunker gefangengehalten worden war. Sie war gequält und geschlagen worden, und noch heute wachte sie nachts schweißgebadet und verängstigt auf. Die Entscheidung für ihre Wiedereingliederung in den Polizeidienst hatte sie zusammen mit ihrer Therapeutin Dr. Sylvia Steinkamp getroffen. Die Ärztin hatte versprochen, Maren in dieser Phase intensiv zu begleiten, und ihr Mut gemacht, nachdem sie eines Tages fast einen ganzen Nachmittag darüber geredet hatten, welchen Stellenwert die Arbeit bei der Kriminalpolizei für Maren hatte. Natürlich nagten Zweifel an ihr, ob das mit der Polizei alles so richtig lief. Nicht selten hatte sie den Eindruck gehabt, dass Politik, Justiz und Polizei besser zusammenarbeiten konnten, als sie es taten. Zu häufig ging es noch um Profilierung bei Politikern, die wiedergewählt werden wollten, bei Staatsanwälten und Richtern, die irgendwie zwischen den Stühlen der Legislative und Exekutive saßen, aber ebenfalls an ihren Posten hingen, und bei Polizeibeamten, die ihre Karriere im Blick hatten. Unmittelbar vor den Geschehnissen dieses Sommers hatte der Chef der Kriminalinspektion 1, Kriminaloberrat Hetkämper, ihr eine Stelle als Hauptkommissarin beim BKA angeboten. Sie sollte darüber nachdenken, und dann war die Entführung mit der folgenden Leidenszeit dazwischengekommen. Die Sache war im Sande verlaufen. Marens dreimonatige Arbeitsunfähigkeit hatte es auch unnötig werden lassen, dass jemand aus dem damals rechnerisch überbesetzten KK 11 versetzt werden musste.

In dem Gespräch mit Frau Dr. Steinkamp war sie schließlich in der Lage gewesen, deutlich auszusprechen, was ihr wichtig war. Sie wollte genau diesen Beruf weiter ausüben, an der Seite von Malte und ihren Kollegen Stefan Heine und Melissa Groß, unterstützt von ihrem Lebensgefährten Frank, der jetzt als Privatermittler arbeitete. René Polanski und Silke Heuberg, seine Partner in der Detektei, waren verlässliche Freunde geworden – und nicht zuletzt gab es da noch Adrian und Tereza, die Roma-Kinder, die vor Jahren zu ihnen gekommen waren und ihre Familie vervollständigten.

»Was machst du gerade?«, unterbrach plötzlich Malte ihre Gedanken.

Er hatte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurückgelehnt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Lächelnd wartete er auf eine Antwort.

»Gerade eben denke ich daran, was ich für ein Glück habe – und währenddessen schreibe ich eine Mail.«

»Glück«, wiederholte Malte.

»Ja. Mit euch. Mit dir. Mit meinem Beruf.«

Malte beugte sich nach vorne und schaute sie über den Schreibtisch hinweg an.

»Du bist hier zu Hause«, sagte er.

»Ja, das bin ich«, erwiderte sie und spürte, dass ihre Augen feucht wurden und sie schlucken musste.

»Auf jeden Fall freuen wir uns auf dich. Nächsten Donnerstag ist es so weit. Und jetzt mach Schluss und fahr nach Hause.«

»Das werde ich tun.«

Maren drückte den »Senden«-Button des Mail-Programms und ließ anschließend den Rechner herunterfahren. Sie schob ihren Stuhl unter den Schreibtisch und lief auf Malte zu, der sich erhoben hatte. Er nahm sie in die Arme.

»Schönen Feierabend. Und grüß deine Bagage von mir«, sagte er.

Maren drückte ihm einen Kuss auf die Wange und war wenige Minuten später auf dem Weg nach Hause.

4

Frank, René und Silke saßen am Ende des Arbeitstages im Pausenraum ihrer Detektei und besprachen sich über die Planung für den nächsten Tag. Im Moment waren sie vollständig ausgelastet. Das war gut fürs Geschäft, aber schlecht für die Nerven. In den acht Jahren, in denen die drei Freunde mittlerweile die Detektei führten, war das nicht immer der Fall gewesen. Aber zurzeit brummte es. Sie arbeiteten gemeinsam an fünf Aufträgen, die nahezu gleichzeitig vor etwa zwei Wochen erteilt worden waren. Zwei standen kurz vor dem Abschluss, die anderen drei brauchten wohl noch eine Weile. Hoffentlich, so dachte Frank, würden Folgeaufträge nicht lange auf sich warten lassen, denn Nichtstun macht mindestens genau so wenig Spaß wie Überarbeitetsein.

Frank Wallert war einundfünfzig Jahre alt und vor etwas mehr als acht Jahren aus dem Polizeidienst ausgeschieden. Bis dahin war er Hauptkommissar bei der Kripo gewesen, aber nachdem er im Sommer 2006 lebensbedrohlich angeschossen und ein Jahr später während seiner Wiedereingliederung von einem Verhafteten als Geisel genommen worden war, hatte es ihm gereicht. Er war nicht länger bereit gewesen, den Kopf hinzuhalten und sein Leben zu gefährden. Schließlich hatten Maren und er sich Kinder gewünscht, und wo hätte das enden sollen, wenn er morgens beim Verlassen des Hauses nicht wusste, ob er sie abends wiedersehen würde? Im Jahr darauf hatte er mit Silke Heuberg und ihrem Lebensgefährten René Polanski, der auch vor langer Zeit einmal Polizist gewesen war, das Detektivbüro eröffnet. Alle drei waren gleichberechtigte Partner, und es klappte hervorragend mit ihnen. Kein Wunder also, dass sie sich irgendwann entschlossen hatten, gemeinsam ein Doppelhaus in Mülheim-Saarn zu beziehen – Maren, er und die Adoptivkinder die eine Hälfte, Silke und René die andere. Franks Leben hatte also eine Wendung genommen, die es ohne seinen Abschied von der Polizei nicht gegeben hätte. Auf Tereza und Adrian war er stolz, auch wenn es nicht seine leiblichen Kinder waren, aber sie waren zu selbstbewussten und liebenswerten Jugendlichen herangewachsen, was nach der Geschichte, die sie verband, nicht selbstverständlich war. Und dass Maren am nächsten Donnerstag wieder in den Polizeidienst einstieg, freute ihn ebenfalls. Lange Zeit war sie sich nicht sicher gewesen, ob sie nicht auch aus ihrem Beruf aussteigen sollte. Sie hatte alles, was Frank zugestoßen war, hautnah erlebt, und war schließlich selbst im letzten Sommer Opfer einer Entführung geworden. Körperlich hatte sie alles gut überstanden, aber psychisch lange daran zu knacken gehabt. Sie war tief in Selbstzweifel versunken und nur mühsam, mit Hilfe ihrer Therapeutin, die vorher auch seine gewesen war, wieder aus ihnen aufgetaucht.

»Sind wir dann so weit?«, fragte Silke, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und streckte die Beine aus.

»Ja, sind wir«, erwiderte René. »Wir haben unsere Aufgaben für morgen verteilt und können loslegen, ohne uns vorher hier noch einmal zu treffen.«

»Okay«, bestätigte Frank. »Dennoch sollten wir uns gegen Mittag zusammensetzen, um uns auszutauschen. Treffen wir uns hier?«

»Einverstanden. Sagen wir halb zwölf?«

Dieser Vorschlag wurde zuerst allgemein akzeptiert, doch dann kam René eine andere Idee.

»Wir können doch auch zusammen essen gehen. Was haltet ihr davon?«

»Auch gut. Zwölf Uhr im Ratskeller«, nahm Frank den Vorschlag auf, und alle waren zufrieden.

Fünf Minuten später begaben sie sich auf den Heimweg.

5

Adrian schlenderte neben seinen beiden Schulfreunden her. Sie waren an der Ruhr unterwegs gewesen, einfach nur spazieren gegangen und hatten über Gott und die Welt geredet. Und jetzt waren sie thematisch wieder bei der Schule gelandet und auf dem Rückweg ins Stadtzentrum.

»Ich fahre nach Hause«, sagte er zu den anderen und klatschte sich mit ihnen ab, als er an der Bushaltestelle stehen blieb.

»Sehen wir uns morgen?«, fragte Marvin, der morgen Geburtstag und ihn für den Abend zu seiner Feier eingeladen hatte.

»Ich denke schon. Sieben Uhr?«

»Exakt«, rief ihm Marvin zu, der mit Emre schon weitergegangen war.

Adrian setzte sich auf die Bank an der Haltestelle und warf einen Blick auf das Display seines Smartphones. Es war halb sieben. In neun Minuten würde er den Bus besteigen und in etwa zwanzig Minuten zu Hause sein. Zu Hause. Was für eine schmucklose Bezeichnung für die Umstände, in denen er lebte. Manchmal konnte er sein Glück kaum fassen. Vor etwas mehr als sieben Jahren hatte er in einer Hütte am Rande seiner Heimatstadt Cluj auf einer Müllhalde gewohnt, sich von Essensresten aus dem Müll ernährt und hätte seinen kindlichen Körper um ein Haar an Touristen verkaufen müssen. Er war von seinem besoffenen Vater ein ums andere Mal verprügelt worden und von seinem vermeintlichen »Beschützer« Dorin – zusammen mit Tereza – ins Ruhrgebiet verschleppt worden, wo sie schließlich auf Frank und Maren gestoßen waren, die sie gerettet und letztlich adoptiert hatten. Als er zwölf war, hatte er zusammen mit Frank seine Eltern besuchen wollen. Sie waren nach Cluj gereist, und Adrian hatte gedacht, seine Eltern würden sich vielleicht freuen, ihn wiederzusehen und zu wissen, dass es ihm gut ging. Er hatte sich geirrt. Sein Vater war gar nicht zu Hause, seit Monaten nicht mehr aufgetaucht, wie seine Mutter erzählte. Sie hatte erschrocken gewirkt, als Adrian und Frank plötzlich in der Küche standen, und hatte gefragt, was er wolle. Er versuchte ihr zu erzählen, wie es ihm ging, aber sie hatte ihm eigentlich kaum zugehört. Zwischendurch hatte sie immer wieder gefragt, ob er Geld bei sich habe. Schließlich waren Frank und er zutiefst enttäuscht ins Hotel zurückgekehrt, wo Tereza und Maren auf sie gewartet hatten. Seitdem war es vorbei mit seinen Anflügen von Heimweh, die er – trotz der üblen Erlebnisse mit seiner Familie – zwischendurch immer wieder gehabt hatte. Zu seiner Schwester Gabriella hatte er regelmäßigen Kontakt. Erst am letzten Wochenende hatten sie sich gesehen. Sie lebte mittlerweile in Dortmund, war mit Béla verheiratet und arbeitete als Kinderkrankenschwester in einem Krankenhaus.

Der Bus fuhr vor und Adrian stieg ein. Er setzte sich auf einen freien Platz und zog sein Smartphone aus der Tasche. Mit flinken Fingern schrieb er eine SMS, mit der er seine Heimkehr ankündigte und schickte sie an Maren ab. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Würden sie heute Abend alle zu Hause sein? Außer Tereza natürlich, die mit Thorben verabredet war, soweit er sich erinnerte. Frank und Maren hatten heute Morgen davon gesprochen, dass sie am frühen Abend wieder zu Hause sein wollten. Sollte er heute ansprechen, was er sich vor einigen Tagen ausgedacht hatte? Wie würden sie reagieren? Würden sie es ihm erlauben? Immerhin war er sich ja selbst noch nicht wirklich sicher – schon gar nicht in der Frage, wie er sein Vorhaben umsetzen sollte. Vielleicht wäre es nicht so verkehrt, mit Frank und Maren zu sprechen. Sie waren bisher offen mit ihm umgegangen und würden sicher auch diesmal verstehen, was in ihm vorging.

Als er zuletzt bei seiner Schwester war, hatte es nicht lange gedauert, bis sie auf ihre Eltern und Brüder zu sprechen kamen. Im Frühjahr war Gabriella mit Béla bei ihrer Mutter in Cluj gewesen. Gabriella vermutete, ihr Vater sei tot oder zumindest endgültig untergetaucht – das glaubte auch ihre Mutter, die einerseits völlig verzweifelt wirkte, andererseits aber auch erleichtert war, dass sie diesen Mann nun nicht mehr zu Hause ertragen musste. Er war seit fast einem Jahr nicht mehr aufgetaucht. Seit dem Drogentod ihres ältesten Sohnes Radu im Jahr zuvor lebte sie nun allein in der Wohnung und musste sich täglich neu Gedanken darüber machen, wovon sie leben sollte. Die Besuche ihres zweitältesten Sohnes Nicolae wurden immer seltener. Ab und zu ließ er etwas Geld bei ihr, das er sich auf zweifelhafte Weise in Cluj und Umgebung verdient hatte. Adrian wusste, dass sich Nicolae damals an Touristen verkaufte. Wahrscheinlich tat er das noch immer. Gabriella hatte ihrer Mutter vor der Rückreise nach Deutschland einen stattlichen Geldbetrag geschenkt, was ihr über die gröbste Not hinweghelfen sollte. Aber Geld hatte die schlechte Angewohnheit, immer weniger zu werden, und so war es eine Frage der Zeit, wann die Mutter sich vor die gleiche Situation wie vorher gestellt sehen würde.

Adrian hatte das keine Ruhe gelassen, während Gabriella der Meinung war, dass sich ihre Mutter aufrappeln und ihr Leben in die Hand nehmen müsse. Aber wie sollte das eine Frau geregelt bekommen, die ihr Leben lang nichts anderes getan hatte, als ihrem Mann zu Diensten zu sein, wenn er sich denn einmal bequemt hatte, nach Hause zu kommen? Sie hatte ihm Suppe gekocht

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kurt Jahn-Nottebohm
Bildmaterialien: Ulrike Nottebohm (Cover-Gestaltung)
Lektorat: Christine Klingbeil, Ulrike Nottebohm
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2017
ISBN: 978-3-7438-1098-3

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /