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Der Teufel hinter der Wand

Frank Wallerts siebter Fall

 

 

 

Krimi

 

 

 

Kurt Jahn-Nottebohm

Sonntag 14. Juni 2015

Elvis stand am Zellenfenster. Er blickte in den zu Ende gehenden Frühsommertag und fragte sich, was da draußen vorgehen mochte. Bei seinem Hofgang vor etwa drei Stunden hatte er die Wärme der Luft auf seiner Haut gespürt und war gedanklich abgeschweift zu denen, die an diesem Tag mit freiem Oberkörper und Shorts in der Sonne liegen konnten, in irgendeinem Schwimmbad, neben sich möglicherweise eine junge Frau im Bikini, die mehr Haut als Stoff zeigte. Jetzt senkte sich der Abend über sie und sie machten sich auf den Weg nach Hause oder bewegten ihre erhitzten Körper in eine Kneipe und kühlten sich mit Getränken und leichten Speisen ab. Später würden sie vielleicht genau diese Körper in irgendeinem Club zu rhythmischen Klängen sich biegen und zucken lassen und am Ende zu Hause in zerwühlten Laken schweißtreibenden Sex haben. Und er läge dann auf der Pritsche in seiner Zelle und würde sich mit seinem Zellengenossen Hamid über all das unterhalten, was anderen möglich, ihnen aber verwehrt war.

 

Elvis, der seinen Spitznamen hier im Knast wegen seiner schwarzen Haartolle verpasst bekommen hatte, die ihn aber längst nicht mehr zierte, hieß eigentlich Martin Scheidthauer. Er war einunddreißig Jahre alt und saß seit acht Jahren in der Justizvollzugsanstalt in Bochum ein. Er haderte mit dieser Tatsache, und obwohl schon so viel Zeit ins Land gegangen war, spürte er immer noch täglich eine unbändige Wut gegen die Person, die das zu verantworten hatte. Scheidthauer hatte getötet. Und er hatte dies aus voller Überzeugung und – seiner Meinung nach – gutem Grund getan. Hamid, sein Zellengenosse, saß seit fünf Jahren ein und würde im nächsten Jahr entlassen werden.

 

Scheidthauer wandte sich vom Zellenfenster ab und setzte sich auf seine Pritsche. Er würde alles für eine Zigarette geben, aber sich jetzt hier eine anzustecken, würde nur Ärger bedeuten. Hamid spielte zurzeit im Gemeinschaftsraum mit ein paar anderen Häftlingen Karten. Scheidthauer aber wollte alleine sein. Er streckte sich auf der Pritsche aus, legte eine Hand unter seinen Nacken, die andere auf seinen Bauch und ließ seine Gedanken schweifen. Wieder kreisten sie um die Frau, die ihn damals bei der Festnahme angeschossen hatte. Er hasste sie. Ungebrochen. Trotz der vielen Jahre. Und sie würde eines Tages bereuen, was sie ihm angetan hatte. Der Tag würde kommen, an dem es ihm gelang, hier rauszukommen. Und dann sollte sie sich warm anziehen. Er würde sie zur Rede stellen und sie spüren lassen, wie er sie hasste.

 

Scheidthauer drehte sich auf die Seite und verschränkte seine Arme. Sein Blick fiel auf die fleckige Zellenwand. Hinter solchen Wänden saß der Teufel und beobachtete ihn. Das jedenfalls hatte seine Mutter behauptet, als er noch ein kleines Kind war. Deshalb hatte er jahrelang nicht mit dem Gesicht zur Wand einschlafen können.

 

*

 

»Warum hast du das getan?«, fragte Martins Vater. Erwin Scheidthauer saß auf der Bettkante seines fünfjährigen Sohnes und schüttelte verständnislos den Kopf. »Du weißt: Strafe muss sein. Es nützt also gar nichts, wenn du jetzt weinst. Tu so etwas einfach nie wieder, und dann wird alles gut. Dann haben dich Papa und Mama auch wieder lieb. Okay?«

 

Der kleine Junge nickte stumm und drehte sich von seinem Vater weg, der ihm eben mit der Hand über den Kopf streicheln wollte.

 

»Na gut. Schlaf erst mal. Morgen sieht alles schon ganz anders aus.«

 

Scheidthauer erhob sich und wollte das Kinderzimmer verlassen, als plötzlich seine Frau durch die Tür trat.

 

»Und? Hat er etwas gesagt?«, fragte sie mit schneidender Stimme.

 

Scheidthauer schüttelte den Kopf, fasste seine Frau am Arm und wollte sie wieder hinausbugsieren.

 

»Er soll erst einmal schlafen. Auch für ihn ist es nicht einfach. Ich glaube, er schämt sich. Ich rede morgen mit ihm«, flüsterte er ihr zu.

 

Elvira Scheidthauer war aber nach wie vor aufgebracht und noch nicht fertig mit ihrem Sohn. Sie befreite sich aus dem Griff ihres Mannes, schob sich an ihm vorbei und trat ans Bett ihres Kindes.

 

»Ja, schäm dich!«, keifte sie. »Und dreh dich nicht einfach von mir weg, wenn ich mit dir rede, hörst du?« Der Junge drehte sich um und schaute seine Mutter aus verweinten Augen an. »Weinen hilft jetzt auch nicht mehr«, fuhr sie mit ihrer Tirade fort. »Das hättest du dir alles vorher überlegen sollen. Du bist und bleibst einfach ein böses Kind.«

 

Sie wollte sich abwenden und ihrem Mann folgen, der bereits im Wohnzimmer war, als ihr noch etwas einfiel. Sie hob ihren Zeigefinger vors Gesicht, als wolle sie dem Jungen drohen.

 

»Hinter dieser Wand steckt der Teufel!«

 

Martin fuhr der Schreck in die Glieder.

 

»Ja, dort hockt er und beobachtet dich, wenn du dich zur Wand drehst. Und wenn du böse warst, holt er dich eines Tages!« Mit diesen Worten verließ sie das Kinderzimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

 

Der kleine Junge starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und traute sich nicht, sich zu bewegen. Steif lag er in seinem Bett und lauschte auf Geräusche in seinem Rücken. Hörte er da ein gehässiges Lachen, das direkt aus der Hölle kam? Hatte ihn der Teufel bereits gesehen und freute sich darüber, ein böses Kind gefunden zu haben, das er zum Abendbrot verspeisen konnte? Er zuckte zusammen, als aus dem Wohnzimmer ein Kreischen seiner Mutter und raues Lachen seines Vaters zu ihm drang. Woher wusste seine Mutter das mit dem Teufel? Das Kind drehte sich langsam um und hielt dabei die Augen fest geschlossen. Nach einigen Minuten des ängstlichen Stillliegens öffnete er vorsichtig ein Auge, dann das zweite. Durch die schmalen Schlitze hindurch konnte er nichts erkennen. Er zog seine Hand unter der Bettdecke hervor und presste die Handfläche gegen die kühle Wand.

 

»Bist du da drin?«, flüsterte der Junge. »Geh bitte weg. Ich bin kein böses Kind.«

 

*

 

Martin Scheidthauer drehte sich auf seiner Pritsche um und grinste in sich hinein. Die Sonne stand mittlerweile tiefer und erreichte ihn mit ihren Strahlen. Heute herrschte ein ähnliches Wetter wie an dem Tag, an dem Jens, sein erstes Opfer, seinen letzten Atemzug getan hatte. Dieser Tag hatte für Martin den Anfang vom Ende bedeutet.

 

»Na? Spielst du wieder an dir rum?«, fragte Hamid und grinste, als er die Zelle betrat.

 

Doch Scheidthauer antwortete ihm nicht. Er starrte die Wand an.

 

***

 

Was für ein Tag! Maren Dieckmann, 38-jährige Kriminaloberkommissarin beim KK 11 in Essen, war auf dem Weg nach Mülheim, wo sie mit ihrem ehemaligen Kollegen und jetzigen Privatermittler Frank Wallert sowie ihren beiden Adoptivkindern Tereza und Adrian lebte. Eine rote Ampel zwang sie zum Anhalten. Sie streckte sich und wischte sich mit einer Hand über die Augen. Ihre Müdigkeit war nicht zu leugnen. Seit heute Morgen gegen sieben – und das an einem Sonntag! – war sie bereits im Dienst und hatte nicht die Zeit gehabt, bedächtig in den Tag zu starten. Kaum war sie im Präsidium gewesen, war ein Notruf eingegangen. Im Mülheimer Ruhrhafen hatte ein Spaziergänger eine Leiche im Wasser treiben sehen. Es handelte sich um eine vierundzwanzigjährige Frau. Hauptkommissar Malte Frenzen, langjähriger Freund und Kollege von Maren, und sie hatten, nachdem an der Fundstelle alles erledigt war, den Ehemann aufgesucht, um ihm die Nachricht zu überbringen. Sie trafen ihn mit einem Kleinkind auf dem Arm an, das er gerade im Begriff war zu füttern. Auf seine Reaktion waren sie nicht gefasst gewesen. Kaum hatte Malte dem Mann mitgeteilt, dass man seine Frau tot aufgefunden hatte, drückte dieser Maren das kleine Mädchen in den Arm und begann, die Wohnung zu zerlegen. Dass jemand dermaßen aggressiv auf eine solche Nachricht reagierte, hatte Maren bisher noch nicht erlebt. Malte hatte schließlich einen Rettungswagen und Verstärkung angefordert. Mit vereinten Kräften war es den Männern letztlich gelungen, den Ehemann zu beruhigen. Die Rettungssanitäter gaben ihm eine Spritze, und er wurde in ein Krankenhaus eingeliefert, während Maren ein weinendes und verstörtes Kind auf dem Arm hatte, das sie erst gut zwei Stunden später in die Obhut des Jugendamtes geben konnte. Dort hatte man die Großeltern ermittelt, die sich von nun an um das Kind kümmern wollten.

 

Als Nächstes hatte eine Festnahme auf der Tagesordnung gestanden, doch selten waren die Zielpersonen bereit, sich in das Unvermeidliche zu fügen. Auch dieser Mann, ein siebenundzwanzigjähriger Schwarzafrikaner, wehrte sich nach Kräften, was für einen der Beamten einen Nasenbeinbruch und eine Gehirnerschütterung zur Folge hatte. Die anschließenden Verhöre gestalteten sich ebenfalls schwierig und zogen sich über Stunden bis in den Nachmittag, so dass es Maren und Malte nicht einmal vergönnt gewesen war, im Rahmen einer Mittagspause ein Essen zu sich zu nehmen.

 

Gegen sechzehn Uhr hatte Hetkämper sie zu sich bestellt. Der Kriminaloberrat, Leiter der Kriminalinspektion 1, schüttete kübelweise Lob über ihnen aus, was Maren schon beinahe unangenehm war. Schließlich wollte er von ihr wissen, wie es um ihre Karriereplanung bestellt sei.

 

»Erinnern Sie sich an eine gewisse Britta Friedrichs?«, fragte er, nachdem Maren seinem Empfinden nach etwas zu lange gezögert hatte.

 

Maren stutze. War das nicht die Frau vom BKA, die vor Jahren mit ihnen zusammen an dem Fall des toten Griechen gearbeitet hatte? Am Ende dieser Sache war Frank angeschossen und schwer verletzt worden, was seinen schrittweisen Abschied vom Polizeidienst ausgelöst hatte.

 

»Natürlich«, erwiderte sie. »Hauptkommissarin Friedrichs vom BKA.«

 

»Genau von der ist die Rede«, stimmte Hetkämper zu. »Sie hat angefragt, ob Sie noch im Dienst sind. In ihrer Abteilung wird die Stelle einer Hauptkommissarin frei, und sie möchte gerne mit Ihnen, Maren, zusammenarbeiten.«

 

Malte zuckte auf seinem Stuhl merklich zusammen, was Hetkämper dazu veranlasste, nun ihn anzusprechen.

 

»Herr Frenzen, ich verstehe, dass Sie das nicht wirklich begeistert. Aber ich wollte nicht hinter Ihrem Rücken mit Frau Dieckmann sprechen. Maren ist längst überfällig, was eine Beförderung angeht, und dass sie die Qualifikation aufweist, um zum BKA zu wechseln, werden Sie nicht bestreiten. Im Gegensatz zu anderen Kommissariaten ist das KK 11 zurzeit überbesetzt. Alles passt zusammen.«

 

Hetkämper hatte nichts Falsches gesagt. Trotzdem war Maren völlig entgeistert.

 

»Das klingt ja fast, als sei alles schon abgemacht«, warf sie ein, doch ihr Chef hob abwehrend die Hände.

 

»Nein, nein. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Vom KK 11 muss jemand gehen. Ihnen wird eine großartige Chance geboten, und es geschieht nicht alle Tage, dass vom BKA direkt eine Person angefragt wird.«

 

»Muss ich dann nach Wiesbaden?«, kam Maren plötzlich in den Sinn, denn sie dachte an Frank, Tereza und Adrian sowie an Sabine Teubert, ihre gemeinsame Freundin vom KK 43, die nach unendlich vielen Operationen und Chemos wegen ihrer Krebserkrankung nun scheinbar auf dem Wege der Besserung war.

 

Hetkämper schob ihr einen Zettel über den Tisch.

 

»Rufen Sie Frau Friedrichs an. Reden Sie mit ihr und natürlich mit Frank und Ihren Kindern. Die Stelle soll zum 1. September besetzt werden. Ihre Beförderung zur Kriminalhauptkommissarin habe ich schon in die Wege geleitet. Die ist aber unabhängig von Ihrer Entscheidung. Sollten Sie mit mir sprechen wollen: Ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

 

»Herr Kriminaloberrat«, ließ sich Malte zum ersten Mal vernehmen, »falls sich Maren entscheidet, das Angebot nicht anzunehmen: Wer muss dann das KK 11 verlassen? Haben Sie schon jemanden im Blick? Werde ich bei der Entscheidung mitreden dürfen?«

 

Hetkämper musterte Malte, als habe der ihm ein unmoralisches Angebot unterbreitet.

 

»Herr Frenzen, für wen halten Sie mich? Selbstverständlich habe ich mir schon Gedanken gemacht. Als die Anfrage von Frau Friedrichs einging, habe ich gedacht, dass das die beste Lösung sei. Aber gestehen wir Frau Dieckmann doch die Zeit zu, die sie braucht. Wenn sie ablehnt, werde ich natürlich rechtzeitig auf Sie zukommen.«

 

Danach war die Audienz beendet. Maren und Malte waren schweigend zurück zu ihrem Büro gegangen. Malte hatte gewirkt, als wolle er etwas sagen, aber ihren einzigen Versuch, es aus ihm herauszubekommen, blockte er ab. Er schien kräftig an dem, was er bei Hetkämper zu hören bekommen hatte, knabbern zu müssen. Ihr erging es im Moment nicht anders. Wie würde Frank reagieren? Sein Detektivbüro, das er seit 2007 mit seinen Partnern René Polanski und Silke Heuberg betrieb, lief großartig. Was war mit den Kindern, die ja mittlerweile keine wirklichen Kinder mehr waren? Beide waren siebzehn und hatten sich einen Freundeskreis innerhalb und außerhalb ihrer Schule aufgebaut. Wie sah es mit ihrem Freundeskreis aus? War sie bereit, ihre Freundinnen und Freunde in Mülheim zurückzulassen und nur noch sporadisch mit ihnen zu tun zu haben? All das musste sie in den kommenden Wochen ausloten und mit ihren Lieben besprechen – kein einfaches Unterfangen. Maren bog in den Nachbarsweg ein, parkte das Auto unmittelbar vor dem Doppelhaus, das sie sich mit Silke und René teilten, griff nach ihrer Jacke und stieg aus. Als sie die Wohnung betrat, fühlte sie sich von Einsamkeit umschlossen.

Montag 15. Juni 2015

Martin Scheidthauer hatte die Idee! Wie aus dem Nichts formte sie sich in dem Augenblick, als er nach dem Zähneputzen mit der Zunge über seine Zähne fuhr. Und dann ging es recht schnell. Er vergewisserte sich, dass er von niemandem beobachtet wurde, und öffnete den Mund weit. Dann ging er in die Knie und schlug seine untere linke Zahnleiste gegen das Waschbecken. Der Schmerz fuhr ihm bis unter die Haarwurzeln seines rasierten Schädels, als der Zahn brach. Er schrie auf, und wunderte sich nicht, dass binnen kürzester Zeit ein Vollzugsbeamter in den Waschraum geeilt kam.

 

Er sei ausgerutscht und im Fallen mit dem Mund auf das Waschbecken geschlagen, erzählte Scheidthauer ihm, und tatsächlich war auch seine Lippe geschwollen und aufgeplatzt. Ein Blutfaden zog sich über sein Kinn. Der Gefängnisarzt sah keine Möglichkeit, ihn zu behandeln. Zwar gab er ihm eine schmerzstillende Spritze in den Mund, aber mehr konnte er nicht tun, und bis zum turnusmäßigen Besuch des Zahnarztes in der JVA in der nächsten Woche wollte man nicht warten. In Absprache mit dem Direktor verfügte der Arzt einen Zahnarzttermin außerhalb der Gefängnismauern – heute noch. Ein Beamter sollte ihn begleiten, und natürlich würde Scheidthauer Handfesseln tragen müssen.

 

Genau die trug er jetzt. Der Beamte, der ihn begleitete, hieß Wagner und wurde von den Häftlingen »Siggi« genannt, seit mal jemand erzählt hatte, dass ein gewisser Wagner eine Oper mit dem Titel »Der Ring des Nibelungen« geschrieben hatte, deren Hauptperson Siegfried war. Scheidthauer hatte mit Opern nichts am Hut, aber Siggi war in Ordnung. Er behandelte die Gefangenen nicht von oben herab, aber er verbrüderte sich auch nicht mit ihnen. Was Wagner sagte, wurde getan. So kam man gut mit ihm aus und konnte sich auch schon mal leisten, eine Bitte vorzutragen. Das hatte Scheidthauer getan, und deshalb waren seine Hände nicht auf dem Rücken gefesselt, sondern vor seinem Körper. Das erleichterte einiges, so auch das Sitzen im Auto. Sie fuhren mit einem Passat aus dem Fahrzeugpark der JVA, einem alten Wagen, der noch immer das Grün früherer Polizeiautos trug. Scheidthauer saß hinten, durch ein Gitter von Fahrer- und Beifahrersitz getrennt, Wagner fuhr den Wagen. Die Praxis war informiert. Als sie vor der Hintertür der Praxis standen und Wagner den Klingelknopf betätigt hatte, standen sie nach wenigen Minuten einer netten kleinen Sprechstundenhilfe gegenüber, die ihnen geöffnet hatte. Sie lächelte die beiden Männer freundlich an und bat sie herein. Sie wurden durch einen Flur geführt, der Normalpatienten nicht offen stand, und landeten in einem Sprechzimmer. Der Behandlungsstuhl, den Scheidthauer als Kind gefürchtet hatte wie der Teufel das Weihwasser, stand in der Mitte des Raumes. Über ihm hing die große schwenkbare Lampe, in deren Licht die Behandlungsinstrumente strahlten, als seien sie aus poliertem Silber.

 

»Setzen Sie sich doch schon mal hin«, sagte die Sprechstundenhilfe und schenkte ihm ein süßes Lächeln. »Der Doktor kommt gleich.« Daraufhin wieselte sie mit wehendem Kittel in einen Nebenraum.

 

Scheidthauer blickte sich um. Der Arzt musste durch die Tür hereinkommen, durch die die Frau eben entschwunden war. Die andere führte in den Flur, durch den Wagner und er die Praxis betreten hatten. Von dort aus wäre der Weg bis zum Ausgang nicht weit. Er würde improvisieren müssen, was aber kein wirkliches Problem war, denn eigentlich dürften keine Patienten außer ihm mehr da sein. Der Termin, der zwischen Gefängnisleitung und Arzt abgesprochen worden war, lag deutlich innerhalb der zweistündigen Mittagspause, während der die Praxis normalerweise geschlossen war. Es sollte also keine unüberwindbaren Probleme geben, wenn er es klug und geschickt anstellte. Auch grob würde er sein müssen, aber das ließ sich nicht vermeiden.

 

Die Tür flog auf und ein Mann betrat die Bühne, der den Eindruck vermittelte, als habe er es sehr eilig. Er war nicht sehr groß, etwa einsfünfundsiebzig, und ein wenig füllig. Seine Augen blitzten fröhlich, und überhaupt machte er einen sehr agilen Eindruck.

 

»Mahlzeit!«, rief er, während er auf Scheidthauer zulief. Er streckte seine Hand aus, um ihn zu begrüßen. »Ich bin Dr. Hoffer.«

 

In der Zwischenzeit war die junge Sprechstundenhilfe an die andere Seite des Stuhls getreten, wo die Instrumente aufgereiht auf dem Schwenktisch lagen. Der Zahnarzt stutze, als Scheidthauer den schwachen Versuch unternahm, mit seinen gefesselten Händen den angebotenen Händedruck zu erwidern. Er drehte sich zu Wagner um.

 

»Das geht nicht«, wies er ihn zurecht. »Machen Sie das bitte los!«

 

Wagner schien nicht recht verstanden zu haben.

 

»Wie bitte?«, fragte er dümmlich zurück.

 

»Sie sollen dem Mann die Fesseln abnehmen«, wiederholte der Arzt seine Aufforderung mit anderen Worten.

 

»Das werde ich nicht tun«, war die prompte Antwort des Vollzugsbeamten, der auf einem weiter entfernten Stuhl platzgenommen hatte.

 

Dr. Hoffer zuckte mit den Schultern und blickte Scheidthauer taxierend an.

 

»Dann suchen Sie sich einen anderen Zahnarzt, der sowas mitmacht!«, brauste er auf. »Ich behandele keine Patienten, wenn sie gefesselt vor mir auf dem Stuhl liegen.«

 

»Sie werden das wohl tun müssen«, erwiderte Wagner kühl und erhob sich langsam. »Der Mann ist Häftling. Und das wissen Sie.«

 

Dr. Hoffer schaute Scheidthauer von oben bis unten an, bevor er sich erneut zu Wagner umdrehte.

 

»Wovor haben Sie Angst? Wir sind zu dritt, er ist alleine. Sie haben eine Waffe, und er hat Zahnschmerzen. Machen Sie ihn los, oder Frau Winkler und ich verschwinden in unsere Mittagspause.«

 

Das war mal eine Ansage! Scheidthauer grinste in sich hinein, obwohl die Wirkung der Spritze, die er vom Gefängnisarzt bekommen hatte, langsam nachließ. Ungläubig sah er Wagner mit gerunzelter Stirn auf sich zukommen. Er löste Scheidthauers Fesseln und bohrte seinen warnenden Blick in ihn. Dann ging er zurück zu seinem Stuhl.

 

»Na bitte! Es geht doch!«, triumphierte der Arzt und gab Scheidthauer mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sich richtig hinsetzen solle. Während er den Stuhl in die waagerechte Position brachte, sprach er seinen Patienten an.

 

»Sie müssen ja ein ganz Schlimmer sein. Was haben Sie angestellt?«, fragte er.

 

»Ich habe meine Mutter und den Sohn meines Stiefvaters umgebracht«, antwortete Scheidthauer ohne mit der Wimper zu zucken.

 

»Oha!«, entfuhr es dem Arzt, und damit war die kleine Plauderei zu Ende. Die Sprechstundenhilfe zu seiner Linken machte einen Schritt rückwärts und ging auf Distanz.

 

Die Behandlung erfolgte schweigend und dauerte nicht lange. Immer wieder gab der Arzt der jungen Frau kurze Anweisungen, die sie brav befolgte, aber keiner von beiden richtete mehr das Wort an Scheidthauer. Der Arzt vermied sogar den Blickkontakt. Selbst als die Behandlung beendet war, sprach er Scheidthauer nicht an. Er zog die Einweghandschuhe aus, drehte sich um und machte ein paar Schritte auf Wagner zu.

 

»Ich konnte nur provisorisch helfen«, gab er zu verstehen. »Aber es wird einige Wochen halten, bis Ihr Zahnarzt wieder in die Anstalt kommt.«

 

In diesem Augenblick ging die Zahnarzthelferin an Scheidthauer vorbei, der sich aus dem Stuhl erhoben hatte. Mit einer Hand schnappte er sich das erstbeste gefährlich aussehende Instrument, während er den anderen Arm um den Hals der jungen Frau legte und sie an sich presste. Der Schrei, den sie ausstieß, war schrill und nervtötend. Trotzdem blieb Scheidthauer innerlich völlig ruhig, als der Kopf des Arztes herumflog und Wagner von seinem Stuhl aufsprang.

 

»Ein Griff zur Pistole, und ich steche ihr die Augen aus!«, rief Scheidthauer, während die junge Frau hilflos in seiner Armbeuge zappelte.

 

Er schob seine Geisel in die Richtung ihres Arbeitgebers, ohne Wagner aus den Augen zu lassen. Als Scheidthauer auf der Höhe des Arztes war, stieß er die Assistentin mit voller Wucht gegen Dr. Hoffer, so dass beide in Wagner hineinpurzelten, der daraufhin gemeinsam mit ihnen zu Boden ging. Das konnte Scheidthauer aber schon nicht mehr sehen, denn zu diesem Zeitpunkt sprintete er bereits durch den Flur, an dessen Ende er die Tür aufriss. Augenblicke später war er im Verkehr der Bochumer Innenstadt untergetaucht.

 

*

 

Er konnte es kaum glauben. Er war frei!

 

Er war jetzt schon seit einigen Stunden unterwegs. Stunden, in denen die Erinnerungen mit Macht zurückkehrten. Er hatte sie vor Augen, die Frau, die während der Vernehmungen vor vielen Jahren dabei war und meist nur zugehört hatte. Nur selten hatte auch sie gesprochen und ihm Fragen gestellt. Er fand sie damals recht attraktiv. Und diese Polizistin hatte auf ihn geschossen. Zweimal. Erst in den Rücken und dann in den Kopf. Wieder wallte der Zorn in ihm auf, den sie zu spüren bekommen würde.

 

Er war in einem Park gelandet, den er nicht kannte. Es war warm und sonnig, also nahm er auf einer Bank Platz und beobachtete eine Handvoll Jungen, die auf einem Rasenstück Fußball spielten. Zweimal hatte sie geschossen, und er würde das nicht einfach so hinnehmen. Dazu hatte er viel zu lange leiden müssen. Er blickte sich um. Langsam ging die Sonne unter. Er hatte Hunger und musste sich einen Schlafplatz suchen. Morgen würde er nach Mülheim fahren und sie ausfindig machen. Die Jungen beendeten ihr Fußballspiel, rafften ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Heimweg. Sie waren frei – wie er.

Dienstag 16. Juni 2015

Frank Wallert stieß einen Fluch aus, als er binnen weniger hundert Meter zum dritten Mal an einer Ampel halten musste. Heute ging ihm alles gegen den Strich. Vor etwa einer Stunde hatte er sich mit einem Klienten getroffen, der ihn vor zwei Wochen beauftragt hatte, seine Frau zu beschatten und herauszufinden, ob sie fremdging. Nun wollte Frank ihm die Ergebnisse seiner Nachforschungen unterbreiten. Aufmerksam hatte der Mann Franks Ausführungen gelauscht, sich Dutzende von Fotos angeschaut, die eindeutig belegten, dass die etwa Fünfunddreißigjährige tatsächlich eine »Außenbeziehung« – wie er es nannte – unterhielt. Frank hasste diese Aufträge, die aber leider ebenfalls zu seinem Tagesgeschäft gehörten. Immer häufiger kam es vor, dass Ehemänner ihren Frauen oder Ehefrauen ihren Männern beweisen wollten, dass diese es mit der ehelichen Treue nicht allzu ernst nahmen. Der Mann war konsterniert und fluchte vor sich hin. Er bedachte seine Frau in deren Abwesenheit mit Ausdrücken, die selbst Frank, der mittlerweile einiges gewohnt war, zum Kopfschütteln veranlassten. Zum Eklat war es schließlich gekommen, als der Klient erneut über das Honorar verhandeln wollte.

 

»Sie sind viel eher fertig geworden, als wir angenommen haben«, hatte er Frank angefaucht. »Statt vier Wochen haben Sie nur etwas mehr als zwei gebraucht.«

 

Ruhig hatte Frank angesetzt, ihm die Honoraraufstellung zu erläutern, aber das brachte den Mann nur noch mehr auf. Offensichtlich wollte dieser die Wut, die er gegenüber seiner Frau verspürte, an Frank abreagieren. Letztlich hatte Frank die Rechnung mit Wucht auf den Tisch geknallt und seinen Klienten daran erinnert, dass er ihre Begleichung innerhalb der nächsten vierzehn Tage erwarte. Dann war er gegangen. »So ein Arschloch«, hatte Silke das Ganze im Büro kommentiert. »Kein Wunder, dass seine Frau sich einen Anderen sucht.«

 

Frank schaltete in den nächsten Gang und gab Gas. Er wollte um jeden Preis verhindern, an der nächsten Ampel schon wieder zum Stillstand verurteilt zu sein. Die Straße vollführte einen Rechtsbogen, und es sah aus, als sollte sein Plan gelingen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Frau, die einen Schritt von der Bordsteinkante zurückwich, als er mit verhältnismäßig hoher, aber nicht überhöhter Geschwindigkeit heran rauschte. Plötzlich verspürte Frank einen Schlag gegen den Wagen, der ihn aus der Bahn schob. Er versuchte gegenzulenken, konnte aber nicht verhindern, dass der Wagen nach links schleuderte. Die Frau, die er eben noch gesehen hatte, war plötzlich nicht mehr da. Er prallte mit seinem Wagen gegen einen Betonmast. Im rechten Teil von Franks Blickfeld entfernte sich ein Auto mit hoher Geschwindigkeit. Und dann wurde ihm übel. Ich muss hier raus, dachte er. Ich muss aussteigen. Er fegte die Reste des Airbags zur Seite und öffnete die Fahrertür, wobei er seine Schulter einsetzen musste. Offensichtlich fehlte ihm nichts. Er spürte keine Schmerzen. Eben wollte er sein linkes Bein aus dem demolierten Wagen schwingen, als sein Blick auf die starren Augen einer Frau traf, die halb unter dem Wagen lag.

 

»Um Gottes willen«, stieß er hervor. »Sind Sie verletzt?«

 

Er sah, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie sprechen, doch kein Ton drang an sein Ohr – nicht einmal ein Flüstern. Wo war sein Handy? Er fischte es aus seiner Brusttasche und stieg aus, kniete sich neben die Frau und wählte den Notruf.

 

*

 

Maren hatte sich etwas von dem Gulasch warmgemacht, der von gestern übriggeblieben war. Frank und sie hatten sich angewöhnt, immer größere Portionen zu kochen, damit es für zwei Tage reichte. Dieses ewige Einkaufen und das tägliche Kochen waren kaum zu gewährleisten. Adrian und Tereza waren in einem Alter, in dem sie schon einmal Wichtigeres zu tun hatten, als auf die Essenszeiten zu achten. Und so wärmte sich jeder bei Bedarf etwas von dem auf, was zur Verfügung stand.

 

Die Stille in der Wohnung tat gut. Sie hatte diese Ruhe dringend nötig, denn auch dieser Tag hatte sich in eine lange Abfolge von hektischen Tagen eingereiht. Maren saß am Küchentisch, gabelte ihre Spätzle mit dem Gulasch in sich hinein und blätterte unkonzentriert in der Zeitung. Schließlich beschränkte sie sich auf das Essen und legte die Zeitung zusammen. Hetkämper, Britta Friedrichs und das Angebot gingen ihr nicht aus dem Kopf. Wenn sie es tatsächlich annehmen würde, müsste sie in spätestens zwei Monaten eine Wohnung in Wiesbaden gefunden haben. Das hieß, sie sollte so schnell wie möglich mit ihrer Familie sprechen, und sie müssten entscheiden, ob sie zusammen umziehen oder eine Freizeitfamilie werden wollten. Eins war klar: Eine neue Herausforderung wäre nicht schlecht. Nach den Turbulenzen vor einigen Jahren, als Frank mehrfach dem Tod ins Auge geblickt hatte, hatte sie ihre Berufswahl gründlich hinterfragt. Sie war bei der Polizei geblieben, Frank hatte nach einem Rückfall während seiner Wiedereingliederungszeit die Segel gestrichen und mit Silke und René eine Detektei eröffnet. Während der letzten Jahre, in denen sie durch Adrian und Tereza eine Familie geworden waren, hatte Maren an sich festgestellt, dass ihr die Polizeiroutine zunehmend auf die Nerven ging. Sie hatte Frank, René und Silke darum beneidet, dass sie so eigenständig und eigenverantwortlich arbeiten konnten. Niemand – außer dem Gesetz natürlich – schrieb ihnen vor, was sie zu tun hatten. Wenn sie einen Auftrag nicht annehmen wollten, sagten sie halt »Nein«. Sie hatten die Möglichkeit, sich auf ihren Instinkt zu verlassen, auf ihr Gespür, auf den »gesunden Menschenverstand«. Maren musste Anweisungen befolgen. Wenn ihr Verstand und ihr Gefühl ihr beispielsweise sagten, dieser oder jener sei definitiv der Täter, dann bedeutete das nicht zwingend, dass sie alle Maßnahmen ergreifen durfte, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Immer hatte jemand über ihr das letzte Wort. Immer musste sie »Beweise« vorbringen. Wie oft war sie bereits in Situationen geraten, in denen sie ahnte, nein: wusste, dass etwas Schreckliches passieren würde, wenn sie nicht handelte? Für den Staatsanwalt reichte das nicht. Er forderte Beweise, aber wie sollte sie die haben, wenn noch nichts geschehen war? Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sich langsam aber sicher die Kräfteverhältnisse umkehrten, dass sie einen »Kampf gegen Windmühlen« führte. Es war vielleicht ein wenig naiv gewesen, aber damals, vor etwa fünfzehn Jahren, hatte sie diesen Beruf gewählt, weil sie die Welt etwas besser und gerechter machen wollte. Was war davon geblieben? Mittlerweile wusste sie, dass Massen von Verbrechern – obwohl sie und ihre Kollegen akribisch und oft bis zur Erschöpfung arbeiteten – davonkamen. Sie erinnerte sich an einen Fall vor zwei Jahren. Ein Jugendlicher aus der rechten Szene hatte einen Türken niedergestochen. Die Familie des Opfers war bestürzt und aufgebracht. Sie forderte Vergeltung. Der junge Neonazi, ein Rassist der härtesten Sorte, wurde daraufhin durch Zivilbeamte geschützt. Natürlich landete er vor Gericht und behauptete, von seinem Opfer provoziert worden zu sein. Er erhielt ein Jahr auf Bewährung. Sein Opfer ist heute noch gezeichnet von dem Messerangriff und wird nie wieder leben können wie zuvor.

 

Maren musste unwillkürlich grinsen. Das sollen die Voraussetzungen sein, unter denen ich zum BKA gehe?, dachte sie. Dort würde sie es mit organisierter Kriminalität internationalen Ausmaßes zu tun haben, mit politisch motivierten Straftaten und mit der Terrorbekämpfung. Sie würde nicht vom sprichwörtlichen »Regen in die Traufe« kommen, sondern von der Traufe in einen Ozean voller Untiefen und sturmgepeitschter Wellen.

 

Ihre Gedanken zerplatzen wie Seifenblasen, als das Klingeln des Telefons die häusliche Stille durchschnitt. Sie ließ die Gabel in den Teller fallen, schob ihn von sich und stand auf. Das Telefon steckte auf der Basisstation im Flur. Sie hob lächelnd ab und meldete sich.

 

»Ich bin es«, sagte eine vertraute Stimme.

 

»Hallo, mein Held. Musst du Armer wieder so viel arbeiten?«

 

»Ich bin im Krankenhaus«, antwortete Frank, und erst jetzt fiel ihr auf, dass er gar nicht gut klang.

 

Marens Lächeln zerfiel zu Staub.

 

»Was ist los?«

 

»Ich muss durchgecheckt werden. Ich hatte einen Unfall. Aber es geht mir gut«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Ich bin in der Unfallambulanz im Evangelischen. Kannst du mich abholen?«

 

Immer noch voller Schrecken, aber auch irgendwie erleichtert, stimmte sie zu.

 

»Ich bin unterwegs«, sagte sie und legte auf. Sekunden später war sie in ihre Schuhe geschlüpft, hatte den Autoschlüssel in der Hand und lief aus dem Haus. Es war Viertel vor neun.

 

*

 

Man wollte ihn noch in die »Röhre« schieben, eine Computertomographie durchführen. Endlich können sie ihre Geräte wieder gewinnbringend einsetzen, dachte Frank, während er einsam auf einem Stuhl vor dem CT-Labor saß. Ultraschall und Röntgengerät hatten bereits erwiesen, dass ihm nichts fehlte. »Nur zur Sicherheit«, hatte der Arzt gesagt und ihm dabei mit Sorgenmiene ins Gesicht geblickt. Auch Frank machte sich Sorgen. Die junge Frau, die durch sein schleuderndes Fahrzeug in den Unfall einbezogen worden war, war noch an der Unfallstelle gestorben, kurz, bevor der Rettungswagen eintraf.

 

Franks Kopf schoss nach oben, als die Flurtür aufgestoßen wurde und Maren auf ihn zugestürmt kam.

 

»Was ist passiert?«, fragte sie, nachdem sie ihn innig umarmt hatte.

 

»Ich bin von der Straße gestoßen worden«, sagte er. »Ich war auf dem Weg nach Hause und an einer Stelle, wo die Straße eine Rechtsbiegung macht, wurde ich von einem Auto gerammt. Das hat mich von der Straße geschleudert, und dabei habe ich eine Frau erwischt.«

 

Maren hatte sich neben ihn gesetzt und blickte ihn aus schreckgeweiteten Augen an.

 

»Du meinst, dich hat jemand absichtlich von der Straße gecheckt?«

 

Frank zuckte mit den Schultern.

 

»Ob das Absicht war, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall ist er auf und davon. Er hatte ein ziemliches Tempo drauf, als er abgehauen ist.«

 

»Das hört sich doch nach Absicht an, oder?«

 

Frank antwortete nicht mehr und hatte den Blick zu Boden gesenkt.

 

»Hast du Zeugen?«, hakte Maren nach, worauf er den Blick wieder hob und den Kopf schüttelte.

 

»Als es geschehen war, kamen zwei Anwohner dazu. Sie haben mich schreien hören, aber den Hergang des Unfalls haben sie nicht gesehen.«

 

»Du hast geschrien? Bist du doch verletzt?«, fragte Maren und musterte ihn von oben bis unten.

 

Er schüttelte den Kopf und merkte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen.

 

»Die Frau ist gestorben – in meinen Armen ... und dann habe ich wohl geschrien.«

 

Maren schlug eine Hand vor den Mund.

 

»Mein Gott!«, stieß sie hervor.

 

In diesem Augenblick wurde die Tür des CT-Labors geöffnet und eine freundliche Frau steckte den Kopf heraus.

 

»Herr Wallert? Kommen Sie bitte?«

 

*

 

Natürlich war alles in Ordnung – körperlich zumindest. Wie es in seinem Kopf oder in seiner Seele aussah, konnte die Computertomographie nicht aufzeigen. Niemals würde Frank den Blick der jungen Frau vergessen, wie sie ihn mit ihren Augen festgehalten hatte. In ihrem Gesicht spiegelten sich Fragen wieder, die sie nicht äußern konnte und auf die er auch keine Antwort gewusst hätte.

 

»Bleiben Sie bei mir«, hatte er gesagt. »Schlafen Sie bitte nicht ein!« Er hatte ihre Hand gehalten und in der Ferne das Signal des nahenden Rettungswagens gehört. Doch dann hatte sie die Augen geschlossen. Ihre Hand krampfte kurz und wurde danach schlaff. Er vernahm ein kurzes Seufzen. Und dann schrie er. Er schoss in die Höhe und stampfte mit dem Fuß auf. Der Rettungswagen bremste scharf. Der Notarzt und seine Rettungssanitäter kamen herangeeilt und schoben ihn weg. Dann versuchten sie, die Frau zu reanimieren – erfolglos. Sie war tot.

 

Frank lag in seinem Bett und hatte die Augen an die Schlafzimmerdecke gerichtet. Maren schlief neben ihm. Ihre gleichmäßigen Atemzüge standen im krassen Gegensatz zu seinen Gedanken. Mittlerweile war es drei Uhr und er hatte immer noch Kino im Kopf. Er stand auf und zog seinen Morgenmantel über. Im Wohnzimmer setzte er sich auf das Sofa und griff zu dem halbvollen Glas Rotwein, das er vorhin zurückgelassen hatte. Was, zum Teufel, war das für ein Wagen gewesen? Er versuchte, sekundengenau zu rekonstruieren, wie das heute Abend alles abgelaufen war. Er hatte Gas gegeben und sein Tacho 48 Stundenkilometer angezeigt. Die Ampel war etwa zehn Meter vor ihm, als er den kräftigen Schlag von rechts spürte. Der Wagen war aus der Spur geschleudert und er hatte versucht gegenzulenken. Rechts schoss der Wagen davon. Welche Farbe hatte er? Hatte er jemanden am Steuer sitzen sehen? Er hatte keine Ahnung. Nicht die geringste. Immer wenn er in die Situation zurückkehrte, sah er eine andere Farbe – mal war der Wagen grau, dann blau, dann schwarz. Seine Erinnerungsversuche waren wenig hilfreich. Vielleicht würde er morgen klüger sein, wenn er doch mal seine Augen schließen und schlafen könnte. Aber sobald er die Augen schloss, sah er die Frau vor sich, wie sie ihn anblickte, fragend, bittend, sterbend. Frank kippte den letzten Rest des Rotweins in sich hinein. Dann hörte er Schritte von nackten Fußsohlen. Tereza erschien in der Wohnzimmertür und blickte ihn sorgenvoll an.

 

»Du kannst nicht schlafen«, flüsterte sie. »Ich auch nicht.«

 

Frank klopfte mit seiner

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kurt Jahn-Nottebohm
Bildmaterialien: Ulrike Nottebohm (Covergestaltung)
Lektorat: Christine Klingbeil, Ulrike Nottebohm
Tag der Veröffentlichung: 12.05.2016
ISBN: 978-3-7396-5481-2

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