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Wie auf Schienen

 

 

 

 

 

Frank Wallerts sechster Fall

Kurt Jahn-Nottebohm

 

Krimi

 

Vorbemerkung

 

In meinem Berufsleben habe ich an den unterschiedlichsten Schulen eine Vielzahl von großartigen Musiklehrern und -lehrerinnen kennengelernt, die in Zusammenarbeit mit den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen fabelhafte musikpädagogische Arbeit geleistet haben. Aus diesem Grunde ist es mir wichtig, Folgendes vorauszuschicken:

Alle Personen und auch die Handlung des folgenden Romans sind pure Erzeugnisse meiner Fantasie. Die Örtlichkeiten und deren Bezeichnungen, auch die Namen von Schulen, sind zwar real, aber nur gewählt worden, um innerhalb des Romans die regionale Authentizität beizubehalten.

Parallelen zu tatsächlichen Ereignissen oder real existierenden Personen wären rein zufällig und sind auf jeden Fall unbeabsichtigt.

Kurt Jahn-Nottebohm

1

 

Silke Heuberg gähnte und reckte sich auf ihrem Schreibtischstuhl. Seit einer Stunde saß sie bereits vor ihrem Computer und versuchte, die handgeschriebenen Zettel ihrer beiden Männer erstens zu entziffern, dann zu sortieren, und anschließend in die Planungsmaske des selbst geschriebenen Computerprogramms einzugeben. Bei den Männern handelte es sich um René Polanski und Frank Wallert, ihre beiden Kollegen in der Detektei »Wallert & Partner«. Mit René, ihrem Freund und Lebensgefährten, lebte sie schon seit vielen Jahren zusammen, mit Frank arbeitete sie seit 2008. Damals hatte sich Frank an René gewandt, da er spürte, dass ihm sein neuer Job über den Kopf zu wachsen drohte. In einem Gespräch hatten sich die beiden Männer und sie darauf geeinigt, von diesem Zeitpunkt an Partner zu sein und das Geschäft gemeinsam voranzutreiben. Das war die beste Entscheidung ihres bisher so verkorksten Lebens gewesen. Binnen eines Jahres war aus der beruflichen Partnerschaft eine verlässliche und enge Freundschaft entstanden, die auch Oberkommissarin Maren Dieckmann, Hauptkommissar Malte Frenzen und Sabine Teubert, deren Kollegin von der Kriminaltechnik in Essen, einschloss. Seit Januar 2009 wohnten sie sogar zusammen in einem Doppelhaus in Mülheim-Saarn. Sie und René hatten die eine, Frank und Maren mit ihren beiden Adoptivkindern die andere Hälfte bezogen – und es klappte vorzüglich. Wie hatte sie das vermisst! Gute Nachbarn, Freunde, gemeinsame Abende mit netten Gesprächen und dem einen oder anderen Glas Wein. Sogar die Abende, die sie gemeinsam vor dem Fernseher beim Fußball oder einem blöden amerikanischen Streifen verbrachten, erfüllten Silke mit Freude und Glück. Ihr Leben hatte einen ungeheuren Qualitätssprung gemacht. Erst recht, als sich Frank und Maren dazu entschlossen hatten, Adrian und Tereza bei sich aufzunehmen und letztlich sogar zu adoptieren. Die beiden waren einfach süß!

 

Silke griff sich einen der Zettel und betrachtete ihn kopfschüttelnd. Wer, zum Geier, sollte das lesen können? Schon die ersten beiden Wörter, wahrscheinlich der Namen des Klienten oder der Klientin, waren nicht zu entziffern. Sie musste mit den beiden Helden reden. So ging das nicht weiter! Wo blieben die überhaupt? Frank war mit René »nur mal eben schnell« zum Mediamarkt gefahren, um einen neuen Drucker zu besorgen, da Silke ihm schon seit Wochen mit ihrer Meckerei über ihr altes Gerät auf die Nerven ging. Wenn er drucken sollte, tat er es oft nicht. Dafür spuckte er aber gerne mal zwischendurch einen Testdruck aus, den niemand in Auftrag gegeben hatte.

 

Silke stand auf und warf einen Blick auf ihre Uhr. »Nur mal eben schnell« dauerte jetzt schon eineinhalb Stunden. Ob die beiden Herren wohl, angesichts der Vielfalt technischen Spielzeugs in diesem Elektronikmarkt, wie die Kinder mit leuchtenden Augen durch die Gänge liefen und die Zeit vergessen hatten? Zutrauen würde sie es ihnen. Sie schüttelte lächelnd ihren schwarzen Lockenkopf und goss sich einen Kaffee ein. Mit dem Becher und einer angezündeten Zigarette trat sie vor die Tür ihres Büros in der Althofstraße.

 

»Guten Morgen. Bin ich hier richtig bei der Detektei von Herrn Wallert?«

 

Die Frau war beinahe aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht und hatte sie unvermittelt angesprochen. Silke fuhr zusammen und verlor auf diese Weise ein paar Tropfen ihres Kaffees.

 

»Detektei Wallert und Partner«, korrigierte Silke die Frau. »Ich bin Silke Heuberg. Guten Morgen.«

 

Während ihrer Vorstellung betrachtete Silke die Frau, die auf eine gewisse Art traurig wirkte. Ihre Augen blickten Silke trübe an und sie schien zumindest unausgeschlafen zu sein. Sie mochte vielleicht Mitte vierzig sein. So sieht eine Frau aus, die Probleme hat, dachte Silke.

 

»Kann ich Ihnen helfen? Wir können auch gerne hineingehen.«

 

Ohne auf ihre Einladung verbal zu reagieren, zog die Frau ein Foto aus ihrer Tasche, hielt es Silke aber nicht hin.

 

»Kann ich mit Herrn Wallert sprechen?«, fragte sie stattdessen.

 

»Der ist im Moment mit Herrn Polanski unterwegs. Ich rechne aber jeden Augenblick mit ihnen. Wir können gerne gemeinsam auf ihn warten. Vielleicht gehen wir hinein, trinken zusammen einen Kaffee, und Sie erzählen mir, was Sie bedrückt.«

 

Die Frau schien nachdenken zu müssen. Silke hob den Kaffeebecher an ihre Lippen und trank einen Schluck. Sie konnte sehen, dass es in der Frau arbeitete. Als Silke schließlich ihre Zigarette in den mit Sand gefüllten Standaschenbecher drückte, schien die Frau mit ihrer Denkarbeit fertig zu sein.

 

»In Ordnung. Mit Milch und Zucker bitte«, sagte die Fremde und schob das Foto zurück in ihre Tasche.

 

»Das wird kein Problem sein«, lachte Silke und hielt der Frau die Tür auf.

 

*

 

»Das gibt einen Anschiss«, sagte Frank, während er aus dem Auto stieg. René Polanski öffnete die Heckklappe des Wagens und wuchtete den Karton mit dem neuen Drucker aus dem Kofferraum.

 

»Ach was! Silke wird froh sein, dass wir uns auf diesen Deal nicht eingelassen haben. Jetzt bekommt sie einen noch besseren Drucker, der sogar noch weniger gekostet hat.«

 

»Trotzdem! Wir haben dafür fast zwei Stunden gebraucht. Silke wird sauer sein, wetten?«

 

Er öffnete die Tür zu ihrem Büro und hielt sie auf, damit René den sperrigen Karton ins Innere befördern konnte.

 

»Hallo, meine Holde! Wir sind wieder da!«, rief René in die Tiefe des Raumes und erhielt umgehend Antwort.

 

»Wie schön«, erklang eine schneidende Stimme aus der kleinen Pausenküche. »Es wird auch Zeit! Wir haben Besuch.«

 

René und Frank grinsten einander an. Dann stellte René den Karton ab und ging mit Frank in die Richtung, aus der die Stimme seiner Liebsten gekommen war.

 

»Das ist Frau Melchior. Sie vermisst ihre Tochter und möchte, dass ihr sie sucht und findet. Ihr solltet mit ihr reden.«

 

Dazu waren Frank und René gerne bereit. Silke jedoch erhob sich, goss sich Kaffee nach und ließ sie stehen. Zuvor verabschiedete sie sich freundlich von einer Frau, die am Tisch saß und die beiden Detektive aufmerksam musterte.

 

»Guten Tag, Frau Melchior. Frank Wallert mein Name, und das ist mein Partner René Polanski. Was können wir für Sie tun?«, begann er und nahm Platz, nachdem beide Männer der Frau die Hand gereicht hatten.

 

»Meine Tochter ist verschwunden«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Schauen Sie.«

 

Frau Melchior schob Frank ein Foto zu, das auf dem Tisch vor ihr lag.

 

»Das ist sie?«, fragte er überflüssigerweise und sah auf dem Bild einen Teenager, der fröhlich in die Kamera lachte.

 

»Ja, das ist Birthe, meine Tochter.«

 

»Was heißt, sie ist verschwunden? Seit wann?«

 

»Nun, sie ist eben verschwunden, nicht mehr da. Seit zwei Tagen, heute ist der dritte Tag. Mein Mann und ich machen uns Sorgen.«

 

»Das kann ich verstehen. Aber Frau Melchior, wir sind eine Privatdetektei. Eigentlich sollten Sie zur Polizei gehen.«

 

»Da war ich bereits. Aber das reicht mir nicht. Ich glaube, dass die Polizei das Ganze wie einen Fall von vielen behandelt. Ich möchte, dass Sie sie suchen und finden.«

 

Frank warf erneut einen Blick auf das strahlende Gesicht des Mädchens, das ihm von dem Foto entgegenlachte. René, der bis jetzt an die Spüle gelehnt dagestanden hatte, setzte sich neben ihn und zog das Bild zu sich heran.

 

»Erzählen Sie uns, was passiert ist«, forderte er die Frau auf.

 

*

 

Birthe Melchior war fünfzehn Jahre alt und Schülerin der neunten Klasse an einer Duisburger Gesamtschule. Als gute Schülerin hatte sie nicht nur Freunde in der Schülerschaft. Nicht zuletzt wegen ihres sonnigen Gemüts schaffte sie es aber problemlos, die gelegentlichen Anfeindungen zur Seite zu schieben und ihr Ziel, nämlich Oberstufe und Abitur, im Blick zu behalten. Sie war bei den meisten Schülern und Schülerinnen sehr beliebt und auch die Lehrkräfte hielten viel von ihr.

 

In ihrer Freizeit beschäftigte sie sich überwiegend mit Musik. Der Gitarrenunterricht, den sie über sechs Jahre hindurch zuverlässig wahrnahm, hatte Früchte getragen. Alle waren begeistert, wenn sie auf Geburtstagsfeiern ihr Instrument auspackte und loslegte. Seitdem sich ihre Mädchenstimme in eine durchaus weibliche, frauliche Stimme verwandelt hatte, sang sie auch oft zu ihrem Gitarrenspiel, was die Begeisterung der Zuhörer nur noch steigerte. Birthe hatte Talent und ihre Mutter ertappte sich öfter als einmal bei einer Fantasie, in der sie ihre Tochter auf einer Bühne stehen und ein Tausende von Köpfen umfassendes Publikum ihr zujubeln sah. Seit einigen Monaten traf sich Birthe regelmäßig mit zwei Mitschülerinnen und einem Jungen von ihrer Schule. Ein Musiklehrer hatte sie zusammengebracht und ihnen vorgeschlagen, sie sollten doch einmal ausloten, ob sie zusammen Musik machen könnten – als Band vielleicht. Und das hatten sie getan. Und wie! Auf einem Schulfest vor einigen Wochen hatte Frau Melchior sie spielen hören. Mit dem Musiklehrer am Schlagzeug hatten sie eine eigene Version des alten Led Zeppelin-Klassikers »Stairway to Heaven« performt. Atemberaubend! Frau Melchior war zweifellos stolz auf ihre Tochter und sah weit und breit keinen Erklärungsansatz für ihr Verschwinden.

 

Birthe war am Montag, vorgestern, pünktlich zur Schule nach Duisburg aufgebrochen. Sie hatte fröhlich gewirkt, so wie meistens, denn sie war ein grundsätzlich positiv gestimmtes Mädchen. Gegen zehn Uhr bekam Frau Melchior einen Anruf in der Arztpraxis, in der sie arbeitete. Sie organisierte die orthopädische Fachpraxis ihres Mannes. Birthes Klassenlehrer war am Telefon und berichtete ihr, dass Birthe nicht in der Schule erschienen war. Sie war natürlich entsetzt, äußerte ihre Bestürzung und versprach, sich darum zu kümmern. Sofort machten sich Ängste in ihr breit. War Birthe etwas zugestoßen? Sollte sie sich zuerst an die Polizei und die Mülheimer und Duisburger Krankenhäuser wenden? Sie tat das Naheliegendste und wählte die Nummer von Birthes Handy. Nichts. Sie versuchte es im Laufe der nächsten Stunde unzählige Male. Immer nur die Sprachbox, auf der Frau Melchior ihr jedes Mal die Aufforderung hinterließ, sich sofort bei ihr zu melden. Aber sie hörte nichts von Birthe. Nach kurzer Rücksprache mit ihrem Mann verließ sie schließlich die Praxis und ging nach Hause. Vielleicht war es Birthe unterwegs schlecht geworden und sie war zurückgekehrt, um sich hinzulegen. Frau Melchiors Gedanken fuhren Achterbahn. Als sie ihr Haus betrat, rief sie schon von der Eingangstür aus nach ihrer Tochter, erhielt jedoch keine Antwort. Sie durchsuchte zuerst die Zimmer im Erdgeschoss, Bad, Küche, Wohnzimmer und Elternschlafzimmer. Dann ging sie die Wendeltreppe hinauf, lief geradewegs auf Birthes Zimmer zu und riss die Tür auf. Sie war nicht da. Auf ihrem ungemachten Bett lag ihr Pyjama, vor dem Bett achtlos hingeworfene Wäsche. Das Fenster stand auf Kippe. Nichts deutete darauf hin, dass Birthe noch einmal nach Hause zurückgekehrt war, nachdem sie sich auf den Schulweg begeben hatte. Eben wollte sich Frau Melchior abwenden, um die restlichen Räume des Obergeschosses in Augenschein zu nehmen, als ihr Blick auf Birthes Nachtschränkchen fiel. Auf dem Buch, mit dem sie sich zurzeit beschäftigte, lag Birthes Handy! Sie kontrollierte die Anrufliste und fand ihre insgesamt acht Anrufe, die jeweils mit der Sprachbox geendet hatten. Rätselhaft! Sie ließ das Handy in ihre Jackentasche gleiten und inspizierte erfolglos die weiteren Zimmer des Obergeschosses.

 

Als sie schließlich am Wohnzimmertisch saß und das Telefon in der Hand hielt, drohten ihr die Tränen zu kommen. Was war mit Birthe los? Irgendetwas Schlimmes war geschehen! Dass ihre Tochter ihr Handy vergessen hatte, war kaum anzunehmen. Das war ihr noch nie passiert und eigentlich auch undenkbar. Wie alle Jugendlichen heutzutage war sie fast abhängig von diesem Gerät. Ständig trug sie es mit sich herum, immer auf der Lauer nach »News« aus dem Freundeskreis oder den sozialen Netzwerken. Sonst könnte sie ja etwas verpassen! Selbst wenn Birthe zur Toilette ging, war ihr Handy dabei. Sabrina Melchior, die zutiefst erschütterte Mutter, wischte sich über die Augen und wählte die Nummer der Polizei.

 

*

 

»Das alles haben Sie der Polizei erzählt?«, fragte Frank. Er war nachdenklich geworden, nachdem er Frau Melchior aufmerksam zugehört hatte.

 

»Selbstverständlich.«

 

»Und wie ging es weiter?«

 

»Die Polizei wollte das am Telefon nicht aufnehmen. Sie haben es schon ernst genommen, wollten aber, dass ich vorbeikomme. Das habe ich getan. Ich habe ihnen alles erzählt und auch das Handy und ein Foto meiner Tochter dagelassen.«

 

»Das gleiche Foto?«, hakte René nach und wies auf das vor ihm liegende Bild.

 

»Ja. Es ist das Neueste. Wir haben es Ostern aufgenommen.«

 

»Haben Sie in der Zwischenzeit noch etwas gehört? Ich meine, vielleicht haben Sie sich mit Freundinnen oder Freunden von Birthe unterhalten?«

 

Sabrina Melchior nickte.

 

»Ich habe mit Conny, Cornelia Schwarz, gesprochen. Das ist die Bassistin in der Band, von der ich Ihnen vorhin erzählt habe. Sie kam am Montagnachmittag, um sich nach Birthe zu erkundigen. Aber sie wusste nichts. Sie war genau so erschüttert wie ich und konnte sich keinen Reim auf die Geschichte machen. Am Dienstagmorgen war ich in der Schule und habe mit dem Direktor gesprochen. Er war voller Mitgefühl und hat uns starke Nerven gewünscht. Am Montag und gestern Nachmittag war eine junge Kripobeamtin mit einem Kollegen bei uns und hat eine Unmenge Fragen gestellt. Das war schon grausam, auch wenn sie durchaus sensibel mit uns umgegangen ist. Vor allem mein Mann musste sich Fragen gefallen lassen, die mir gar nicht in den Sinn gekommen wären ...«

 

»Das muss einfach sein, Frau Melchior«, unterbrach Frank sie. »Die Polizei folgt in solchen Fällen einer klaren Linie. Die Beamten müssen alles in Betracht ziehen.«

 

»Schon klar«, gab Sabrina Melchior zu, schnäuzte sich und blickte Frank direkt in die Augen. »Wollen Sie mir denn helfen? Übernehmen Sie den Auftrag?«

 

Frank rührte diese Frau. Wie sie vor ihm saß und ihm mit traurigen Augen offen ins Gesicht blickte, ließ nicht annehmen, dass sie etwas zu verbergen hatte. Aber wie oft hatte er so etwas schon erlebt, auch in den Zeiten seiner Tätigkeit bei der Kriminalpolizei? Er hatte etwas lange gezögert, so dass sich ein verzweifelter Ausdruck auf Frau Melchiors Gesicht breitzumachen begann. Schließlich nickte er ihr zu.

 

»Unter einer Bedingung«, sagte er. »Alles was wir ermitteln, erfährt auch die Polizei. Das muss Ihnen klar sein.«

 

»Natürlich«, entgegnete die Frau erleichtert.

 

»Als Erstes brauchen wir von Ihnen eine Liste aller Freundinnen und Freunde von Birthe.«

 

»Die können Sie jetzt schon haben«, erwiderte Frau Melchior und legte Frank ein zusammengefaltetes Blatt auf den Tisch. »Die hat die Polizei auch bekommen. Ich habe sie gleich zwei Mal ausgedruckt.«

 

Frank nickte der Frau anerkennend zu.

 

»Wir würden uns gerne bei Ihnen zu Hause umsehen und auch mit Ihrem Mann reden. Wann ist das möglich?«, wandte sich nun René an Sabrina Melchior.

 

»Heute Nachmittag. Nach drei. Kommen Sie vorbei. Unser Haus steht Ihnen offen und wir zu Ihrer Verfügung.«

 

***

 

»Das ist aber nicht der, von dem wir gesprochen haben«, nörgelte Silke, während die beiden Männer in der Tür zur Pausenküche standen und grinsten. Ihr Hinterteil ragte unter dem Schreibtisch hervor, da Silke an ihrem Rechner einen freien USB-Anschluss suchte, um den bereits von allem Verpackungsmüll befreiten Drucker anzuschließen.

 

»Er ist besser und billiger. Also was soll das Gemeckere?«, bemerkte René trocken.

 

»Das wird sich zeigen.« Silke tauchte aus der Versenkung auf und zog ihren Pulli glatt. Dabei schoss sie einen strafenden Blick in Richtung René ab. »Hast du mal geguckt, was die Druckerpatronen kosten? Wenn Männer schon mal einkaufen gehen!«

 

Auch wenn sie die letzte Bemerkung unvollendet ließ, wussten die beiden Angesprochenen Bescheid.

 

»Ich habe es dir gesagt«, murmelte Frank René zu, der noch immer grinsend und mit verschränkten Armen neben ihm stand.

 

»Was hast du ihm gesagt? Dass das der falsche Drucker ist?«

 

»Nein, dass das Ärger gibt.«

 

Silke schickte mit rollenden Augen ein stilles Stoßgebet zur Bürodecke und schüttelte den Kopf.

 

»Ich verstehe euch nicht«, sagte sie, während sie an ihrem Schreibtisch Platz nahm. Sie zog die Installations-CD aus der Hülle und schob sie ins Laufwerk. »Wir müssen uns schon ein paar Gedanken mehr um das machen, was wir anschaffen. Noch sind wir ziemlich klamm, was unsere Betriebskosten anbelangt. Und wenn ich diesen Drucker aussuche, dann mache ich das aus guten Gründen. Warum schleppt ihr also ein anderes Gerät an? Glaubt ihr, ihr habt mehr Ahnung davon als ich?«

 

»Reg dich doch nicht gleich so auf!«, fuhr René nun dazwischen. »Wenn du tatsächlich glaubst, dass dieser Drucker Schrott ist, dann packe ich ihn ein und bringe ihn zurück. Das ist doch kein Akt!«

 

Silke war nun auf die Einrichtung des Druckers konzentriert und ging nicht auf seine Bemerkung ein. Ein letzter Mausklick, und sie lehnte sich im Stuhl zurück und blickte René an.

 

»Ich gebe ihm eine Chance. Aber wenn das stimmt, was ich im Testbericht gelesen habe, dann bringst du ihn tatsächlich zurück. Da stand nämlich, dass er im Netzwerk deutlich an Geschwindigkeit verliert und dass die Patronen recht schnell austrocknen. Ich habe keine Lust, jede Woche die Patronen auszuwechseln. Das geht dann nämlich richtig ins Geld.«

 

»Okay. War es das jetzt?«, fragte René etwas spitz nach.

 

»Ja, das war es. Ihr könnt euch wieder den wichtigen Dingen des Lebens zuwenden.«

 

»Dann hör auf zu grummeln«, sagte René, ging zu ihr hin und gab ihr einen Kuss.

 

Er wandte sich Frank zu, der gerade die Liste überflog, die Frau Melchior ihnen ausgehändigt hatte.

 

»Silke, was hältst du von dieser Melchior-Geschichte?«, fragte er, ohne von dem Blatt aufzuschauen.

 

»Ich verstehe die Frau«, erwiderte sie umgehend. »Das mit dem Handy ist wirklich merkwürdig.«

 

»Solche Teenies sind unberechenbar«, ging René auf das Gesagte ein. »Sie hat das Handy vergessen, auch wenn ihre Mutter das nicht glaubt.«

 

»Mir bereitet größeres Kopfzerbrechen, dass das Mädchen seit drei Tagen weg ist, ohne dass man irgendetwas gehört hat. Ihr wisst, wie niedrig die statistische Wahrscheinlichkeit ist, dass sie noch lebt?«

 

»Jetzt male nicht den Teufel an die Wand, Frank!«, kommentierte Silke. »Was haltet ihr davon, wenn ihr euch mal bei der Polizei vorstellt und nachfragt, was sie mittlerweile herausgefunden haben? Die werden doch bestimmt auch etwas an Presse, Funk und Fernsehen rausgeben.«

 

»Tsss«, zischte René. »Das werden die gerade uns auf die Nase binden!«

 

»Wieso nicht? Ihr seid offiziell beauftragt, und Frank ist doch bei seinen ehemaligen Leuten noch bekannt, oder?«

 

»Mehr als uns rausschmeißen können sie nicht«, antwortete Frank. »Wir sollten es versuchen. Und anschließend möchte ich mit dem Musiklehrer und den Bandmitgliedern sprechen. Komm!«, forderte er René auf.

 

***

 

Schon von dem diensthabenden Polizisten am Empfang wurde Frank mit großem Hallo begrüßt.

 

»Herr Wallert! Wie schön, Sie wieder mal zu sehen! Wie geht es Ihnen?«, freute sich der Beamte und öffnete sogar die Tür zu seinem Verschlag, um Frank die Hand zu reichen.

 

»Gut. Danke der Nachfrage. Können Sie mir helfen? Ich bin sozusagen dienstlich hier und suche die Kollegen, die sich mit Vermissten-Fällen befassen.«

 

»Dann suchen Sie Hauptkommissarin Strecker«, antwortete der Beamte wie aus der Pistole geschossen. »Warten Sie einen Augenblick. Ich frage nach, ob sie für Sie Zeit hat. Na, die wird sich freuen!«

 

Sekunden später hing er schon am Telefon und sprach mit der Kollegin, die Frank zu Zeiten der Polizeischule kennengelernt hatte. Er hatte Beate Strecker, die damals noch Feldmann hieß, als sehr kompetente und freundliche Frau in Erinnerung. Sie würde ihn nicht sofort wieder vor die Tür setzen. Er reckte René gerade seinen nach oben gestreckten Daumen entgegen, als der Beamte sich wieder an ihn wandte.

 

»Sie freut sich. Sie schreibt zwar gerade einen Bericht, aber bis Sie oben sind, ist sie fertig.«

 

Er überreichte Frank und René je einen Gästeausweis »am Bande«, den diese sich um den Hals hängten. Dann gab er ihre Namen in den Computer ein, dazu die aktuelle Uhrzeit, und wies ihnen den Weg.

 

»Fahren Sie mit dem Aufzug in den dritten Stock, dann nach links, Zimmer 304. Bis nachher.«

 

Er nickte den beiden Privatermittlern freundlich zu und drückte auf den Türöffner, der ihnen den Weg in den Flur des Präsidiums freigab.

 

Beate Strecker strahlte ihnen entgegen, als sie das Büro betraten.

 

»Frank! Das darf nicht wahr sein! Gut siehst du aus!«

 

»Danke«, lachte Frank. »Deine Schönheit ist aber auch nicht verblasst!«

 

Beate Strecker, die mittlerweile von ihrem Schreibtisch aufgestanden war, umarmte ihn flüchtig und gab ihm zwei angedeutete Begrüßungsküsse auf die Wangen.

 

»Immer noch der alte Charmeur«, flachste sie. »Wie geht es dir in deinem neuen Leben? Setzt euch hin.«

 

»Das ist René Polanski, mein Partner«, erklärte Frank dessen Anwesenheit.

 

»Hallo. Beate Strecker. Freut mich, dich kennenzulernen. Jetzt setzt euch endlich!«

 

Sie gehorchten und lehnten dankend einen Kaffee ab.

 

»Beate, so schön es ist, dich mal wiederzusehen, aber eigentlich sind wir dienstlich hier.«

 

Beate hob eine Augenbraue, wie sie es in Franks Erinnerung immer getan hatte, wenn sie sich wunderte.

 

»So? Worum geht es?«

 

»Wir sind von einer Frau Melchior beauftragt worden, Nachforschungen zum Verbleib ihrer Tochter Birthe anzustellen«, beantwortete René etwas steif Beates Frage. Er hatte keine Lust, nur still dabeizusitzen, wenn sich Frank mit ihr unterhielt.

 

»Ach, seid ihr das?« Mittlerweile hatten beide Augenbrauen ihren angestammten Platz verlassen. »Und jetzt seid ihr hier, um mich auszufragen?«

 

»Nein, Beate«, versuchte Frank, die aufschäumenden Wogen zu glätten. »Wir haben den Auftrag unter der Bedingung angenommen, dass die Polizei erfahren wird, was wir herausbekommen. Also: keine Angst. Wir sind keine Schmarotzer.«

 

»Trotzdem hofften wir auf eine Unterhaltung, bei der wir – zumindest grob – erfahren, was der Stand der Dinge ist. Dann müssten wir nicht bei null anfangen. Schließlich ist das Mädchen jetzt seit drei Tagen verschwunden«, erläuterte René.

 

Tatsächlich entspannten sich Beates Augenbrauen und sanken in die ursprüngliche Position zurück.

 

»Ja, da hast du wohl recht.«

 

Sie stand auf und holte eine Akte von ihrem Schreibtisch.

 

»Sollte ich morgen oder später irgendetwas von dem, was ich euch jetzt sage, in der Zeitung lesen, mache ich euch fertig. Dann ist es vorbei mit der Freundschaft aus alten Zeiten!«

 

Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Ihr Blick sprach Bände und war von genau der Entschlossenheit, die Frank kannte und auch schätzte.

 

»Beate, wofür hältst du uns? Ich bin es. Frank. Glaubst du, ich wäre derartig auf den Hund gekommen, dass ich mich von der Presse benutzen lasse?«

 

»Ich hoffe nicht«, entgegnete Beate, schlug den Aktendeckel auf und überflog die erste Seite. »Was wollt ihr wissen?«

 

René schilderte, was Frau Melchior ihnen am Vormittag erzählt hatte. Währenddessen blätterte Beate immer wieder in der Akte und nickte. Schließlich zog René die Liste aus der Jackentasche.

 

»Vielleicht kannst du uns bei der Liste helfen«, sagte er abschließend. »Ihr habt doch sicher schon Befragungen durchgeführt?«

 

»Natürlich. Wir haben mit allen gesprochen, die auf der Liste stehen – und natürlich mehrmals mit den Eltern. Das hat nicht sehr viel Spaß gemacht.«

 

»Und?«, fragte Frank. »Wie ist dein Eindruck?«

 

Beate zuckte mit den Schultern.

 

»Es ist schwierig, wenn alles so harmonisch ist, wenn du weißt, was ich meine. Der Vater ist Orthopäde, die Mutter arbeitet in seiner Praxis. Beide lieben ihre Tochter über alles. Es hat keine Auseinandersetzungen gegeben, weder mit den Eltern, noch innerhalb der Band. Niemand von der Liste hat auch nur einen Schimmer, was da passiert sein könnte. Allerdings ist das Bild noch unvollständig, denn wir konnten bisher diesen Musiklehrer nicht auftreiben. Der hat sich am Montagmorgen in der Schule krankgemeldet und ist seitdem nicht mehr aufgetaucht. Er ist nicht bei sich zu Hause.«

 

Diesmal war es an René, die Augenbrauen zu heben. Er markierte den Namen des Musiklehrers auf der Liste.

 

»Ist er bei einem Arzt gewesen?«, erkundigte sich Frank.

 

Beate nickte.

 

»Das war gar nicht so leicht herauszufinden«, sagte sie. »Schließlich hat uns die Sekretärin gesagt, dass die Atteste dieses Lehrers in der Regel von einem bestimmten Internisten stammten. Der hat sich natürlich geziert, als wir dort aufgetaucht sind, von wegen Arztgeheimnis und so. Aber letztlich hat er uns bestätigt, dass dieser Tobias Eichkorn am Montag um zwölf Uhr bei ihm in der Praxis war. Er war wirklich krank, aber wieso und wie und was hat er uns nicht verraten.«

 

»Für wie lange hat er ihn krankgeschrieben?«

 

»Bis zum Ende der Woche. Wenn ihr ihn findet, sagt mir Bescheid.«

 

»Wart ihr in der Schule?«

 

»Natürlich. Das war ein echtes Erlebnis. Das Gespräch mit dem Direktor und seinem Stellvertreter hätten wir uns auch schenken können. Aber am Ende schlug er vor, dass ich über die Rufanlage der Schule spreche, was ich auch gemacht habe. Ich habe den Schülern mitgeteilt, dass ihre Mitschülerin Birthe verschwunden ist, und dass sie uns helfen sollen, sie zu finden. Heute sind vier meiner Beamten dort, halten eine Art Sprechstunde ab und nehmen Aussagen von den Schülern auf, die sich bei ihnen melden. Vorhin hat Mark angerufen und berichtet, dass sie jede Menge zu tun haben.«

 

»Was ist mit facebook, twitter und Konsorten?«

 

»Die Auswertung des Handys läuft noch. Du weißt, dass das nicht so ohne Weiteres geht.«

 

»Nun gut, dann würde ich sagen, dass wir uns mal an die Fersen dieses Musiklehrers heften. Heute Nachmittag sind wir bei den Eltern. Wir melden uns.«

 

Frank stand auf und nickte René zu, der sich daraufhin ebenfalls erhob und Beate die Hand reichte.

 

»Habt ihr schon einen Suchaufruf für Presse, Funk und Fernsehen gestartet?«, fragte er.

 

»Ja. Er läuft heute um achtzehn Uhr im WDR-Fernsehen und Radio, und morgen erscheint er in den Zeitungen.«

 

Sie verließen das Präsidium und fuhren umgehend zur Wohnadresse des Musiklehrers, der merkwürdigerweise, obwohl er sich im Krankenstand befand, bisher nicht aufzutreiben war. René drückte auf den Klingelknopf, was aber ohne die erhoffte Wirkung blieb. Stattdessen begann hinter der Wohnungstür gegenüber ein Hund wütend zu kläffen. Eben wollten sich die beiden Männer unverrichteter Dinge zurückziehen, als sich diese Tür öffnete und ein mittelgroßer Boxermischling auf sie zugestürmt kam. René ging in die Knie und streckte dem Hund seine Hand entgegen, woraufhin dieser sich sofort auf den Rücken warf und schwanzwedelnd kraulen ließ.

 

»Du bist mir ja ein toller Aufpasser«, ertönte die Stimme seines Herrchens. Ein etwa fünfzigjähriger Mann mit Gipsarm stand in der Tür und schüttelte verständnislos den Kopf. »Da hole ich diesen Köter aus dem Tierheim, damit er mich beschützt, und der wirft sich gleich vor dem Nächstbesten in den Staub.«

 

René erhob sich und auch der Hund schien genug zu haben. Ehe sich die drei Männer versahen, war er im Inneren der Wohnung verschwunden.

 

»Wissen Sie, wann wir Herrn Eichkorn am besten erreichen können?«, fragte Frank.

 

»Wenn Sie von den Zeugen Jehovas sind, oder ihm sonst etwas aufschwätzen wollen, gar nicht.«

 

Frank verneinte und stellte sich und René namentlich vor.

 

»Wir wollen mit ihm reden. Es geht um eine seiner Schülerinnen.«

 

»Oh, sind Sie von der Polizei?«

 

»Nein. Aber wir sind von den Eltern der Schülerin beauftragt worden, nach ihrer Tochter zu suchen. Können Sie mir jetzt bitte meine Frage beantworten?«

 

Franks Worte hatten offensichtlich barscher gewirkt, als sie gemeint waren, denn der Gesichtsausdruck des Nachbarn ging stufenlos ins Pikiertsein über.

 

»Ich muss Ihnen gar keine Fragen beantworten«, gab er zu bedenken und wirkte jetzt misstrauisch. Instinktiv wich er einen Schritt zurück, so dass er im Flur seiner Wohnung stand und mit der Hand seines unverletzten Armes die Tür hielt – bereit, sie bei Bedarf sofort zu schließen.

 

»Wir wären Ihnen aber dankbar, wenn Sie es täten«, versuchte René, ihn zu besänftigen. »Das Mädchen ist seit einigen Tagen verschwunden und ihre Eltern machen sich große Sorgen. Wissen Sie denn, wo Herr Eichkorn steckt?«

 

»Nein, das weiß ich nicht. Ich habe ihn am Montagmittag zuletzt gesehen. Er kam vom Arzt und hatte sich einen Krankenschein geholt. Aber was sollte Tobias mit dem Verschwinden von diesem Mädchen zu tun haben?«

 

Offensichtlich war sein Misstrauen wieder verflogen, denn nun lehnte der Nachbar in seiner Wohnungstür und umfasste den Gipsarm mit seiner anderen Hand.

 

»Er muss gar nichts damit zu tun haben. Aber die Polizei hat bisher noch nicht mit ihm sprechen können. Schließlich ist sie eine seiner Schülerinnen und da ist es reine Routine ...«

 

»Ja ja, schon klar«, winkte der Nachbar ab. »Geschenkt. Ich kenne diese Floskeln aus dem Fernsehen. Aber ich habe keine Ahnung, wo er ist. Fragen Sie seine Frau. Vielleicht weiß sie es.«

 

»Seine Frau? Aber da macht niemand auf«, wunderte sich Frank und deutete mit dem Kopf in Richtung Eichkorns Wohnungstür.

 

»Die wohnen nicht zusammen. Die lebt irgendwo am Niederrhein. Ich weiß aber nicht genau wo. Vielleicht ist er bei ihr.«

 

***

 

Ein Anruf bei Silke führte dazu, dass diese – das Handy noch am Ohr und die Finger auf der Tastatur – binnen Sekunden die Adresse dieser Musiklehrer-Gattin herausbekam und ihnen präsentierte. Schnippisch fragte sie bei René nach, ob sie ihm mit dem wunderbaren neuen Drucker vielleicht einen Ausdruck machen solle. Der lehnte lachend ab und sandte seiner Freundin einen bittersüßen Kuss durchs Handy.

 

»Moers«, informierte René seinen Partner und tippte bereits wieder auf der Handy-Tastatur herum.

 

»Ja, guten Tag«, fuhr er schließlich fort, nachdem sich offensichtlich jemand gemeldet hatte. »Mein Name ist René Polanski. Ich müsste mal mit Ihrem Mann reden. Ist der zufällig bei Ihnen?«

 

Renés Gesichtszüge entgleisten, nachdem er einige Sekunden zugehört hatte. Er drückte die Lautsprechertaste.

 

»Wie meinen Sie das: welchen? Haben Sie mehrere Männer?«

 

Ein fröhliches Lachen ertönte.

 

»Naja, im Moment sind es zwei: mein Ex und mein Freund«, sprudelte es aus dem Mobiltelefon.

 

»Ich meine Herrn Eichkorn«, erläuterte René, der Frank einen vielsagenden Blick zuwarf. »Ist er zu sprechen?«

 

»Rufen Sie von seiner Schule an?«, lautete die Gegenfrage. René hasste es, wenn deutlich und klar ausgesprochene Fragen nicht sofort beantwortet wurden.

 

»Nein. Kann ich nun mit ihm sprechen? Ist er bei Ihnen?«

 

»Er ist krank und hat sich hingelegt. Ich muss nachschauen, ob er vielleicht schläft.«

 

»Wenn Sie das bitte tun würden ...«

 

Frank spürte, wie die Ungeduld in seinem Kollegen wuchs, und gab ihm ein Zeichen zur Mäßigung.

 

»... ich wäre Ihnen sehr verbunden«, schob René deshalb hinterher, wobei Frank nicht wusste, ob die Worte auf die Frau jetzt weniger drängelig wirkten. Beide hörten über den Lautsprecher ein Räuspern und wie eine Tür geöffnet wurde.

 

»Bist du wach, Tobi? Hier ist ein Herr Polanski, der dich sprechen will.«

 

Man hörte undeutliches Gemurmel, dann wieder die klare Stimme der Frau.

 

»Tobi möchte wissen, wer Sie sind.«

 

René atmete tief durch, um einen cholerischen Ausbruch seinerseits zu vermeiden. Es gelang ihm nur bedingt.

 

»Wenn Sie Tobi das Telefon übergeben, sage ich es ihm!«, schleuderte er durch das Telefon. Eigentlich sollte es freundlicher klingen, als es im Endeffekt klang.

 

»Geduld!«, wies Frau Scholten ihn zurecht. »Tobias hat geschlafen. Er ist noch nicht ganz bei sich. Die Medikamente – Sie verstehen? Wenn Sie ihn irgendwie über den Tisch ziehen wollen, mit einem Zeitungsabo oder so – ich stehe genau neben ihm ...«

 

René rollte mit den Augen, was kein gutes Zeichen war. Schnell nahm ihm Frank das Handy aus der Hand und führte das Gespräch fort.

 

»Frau Scholten, hier spricht Frank Wallert. Ich bin ein Kollege von Herrn Polanski. Es geht um eine Schülerin von Herrn Eichkorn. Sie ist verschwunden. Ich muss dringend und schnell mit Ihrem Mann reden.«

 

»Warum sagen Sie nicht gleich, dass Sie von der Polizei sind? Verschwunden, sagen Sie? Das ist ja schrecklich! – Bist du jetzt wach? Es geht um eine Schülerin von dir, die verschwunden ist, Tobi.«

 

Spätestens an diesem Punkt des Gesprächs wäre René in die Luft gegangen, dachte Frank und wollte eben aufklären, dass er kein Polizist war, als eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher drang. René tigerte mittlerweile vor dem Hauseingang auf und ab und murmelte vor sich hin.

 

»Eichkorn. Wer ist verschwunden?«

 

»Guten Tag, Herr Eichkorn«, atmete Frank auf. Er stellte sich vor und nannte dem Musiklehrer den Grund für seinen Anruf. Jetzt blieb René stehen.

 

»Birthe ist verschwunden? Seit Montag schon?«, krächzte es aus dem Handy. Offenbar war Herr Eichkorn an einer Grippe oder etwas Ähnlichem erkrankt. »Sie hat am Montag noch bei mir angerufen.«

 

Frank zuckte bei diesen Worten zusammen.

 

»Was? Sie haben am Montag mit ihr telefoniert? Wann war das?«

 

»So gegen neun. Die erste Stunde muss gerade vorbei gewesen sein ...«

 

»Sie war nicht in der Schule«, unterbrach Frank ihn.

 

»Ach, war sie nicht? Komisch. Ich kannte die Nummer auch nicht. Sie hat nicht von ihrem Handy aus angerufen.«

 

»Was wollte sie denn?«

 

»Sie wirkte etwas verzweifelt und bat um Hilfe. Sie wollte zu mir kommen. Ich habe ihr gesagt, dass ich krank bin und einen Termin beim Arzt habe. Aber sie bestand darauf. Das ginge schnell, sagte sie und wollte sofort zu mir kommen. Ich habe zugestimmt, aber sie kam nicht. Und um halb zwölf habe ich mich auf den Weg zu meinem Arzt gemacht.«

 

»Hat sie gesagt, worum es geht?«

 

»Nein. Deshalb wollte sie ja zu mir kommen.«

 

»Ist so etwas normal bei Ihnen?«

 

»Was meinen Sie?«

 

»Naja, dass Schülerinnen Sie zu Hause aufsuchen, wenn sie Probleme haben ...«

 

»Jetzt kommen Sie mir nicht damit«, fuhr Eichkorn ihn an und wurde von einem heftigen Hustenanfall gestoppt. Als er fortfuhr, war seine Stimme nur noch ein Flüstern. »Birthe und ich hatten durch ihre unglaubliche musikalische Begabung ein besonderes Verhältnis zueinander. Nicht mehr und nicht weniger. Ich bin nicht der Typ, der auf kleine Mädchen abfährt.«

 

»So habe ich das auch nicht gemeint«, versuchte Frank, seine Worte zu entschärfen. »Ist Ihnen klar, dass Sie der Polizei diese Informationen geben müssen? Man sucht Sie und will dringend mit Ihnen reden.«

 

»Ich melde mich sofort bei ihnen.«

 

»Haben Sie den Anruf noch auf Ihrem Handy?«, fragte Frank, und als er merkte, dass Eichkorn ihn nicht gleich verstanden hatte, schob er hinterher: »Birthes Anruf vom Montag.«

 

»Das weiß ich nicht. Moment, ich schaue nach.« Einige Sekunden Stille folgten, die schließlich von einem weiteren Hustenanfall beendet wurden. »Die Nummer, von der angerufen wurde, habe ich noch auf der Anrufliste.«

 

»Bitte«, sagte Frank nur und erhielt die genaue Uhrzeit des Anrufs und eine Handynummer, über die Birthe Melchior am Montag mit Tobias Eichkorn Kontakt aufgenommen hatte.

 

***

 

Mülheim-Holthausen glänzte im Sonnenlicht. Als Stadtteil der Schöneren und Reicheren stand ihm dieses Privileg zu. Als Frank und René in Speldorf vor dem Haus, in dem Eichkorn wohnte, in ihren Wagen gestiegen waren, hatte es noch nach Regen ausgesehen. Es war Mitte Mai, aber offensichtlich richtete sich der Wettergott nicht nach dem Kalender, sondern trieb, launisch wie er war, schon seit Tagen Aprilschauer über die Stadt. Holthausen jedenfalls hatte im Moment die Sonnenseite erwischt, so dass René reflexartig seine Sonnenbrille aus der Brusttasche fischte und aufsetzte.

 

»Warum machst du das eigentlich noch?«, fragte Frank. »In ein paar Sekunden setzt du sie wieder ab.«

 

»Ich habe halt empfindliche Augen«, antwortete René und starrte scheinbar angestrengt aus dem Beifahrerfenster. »Ich glaube, nächste Straße links.«

 

Frank setzte den Blinker und bog links ab. Die Straße, die sich »Holthauser Höfe« nannte, zog sich. Sie ließen den Insterburger Weg links liegen und fuhren rechts an den Straßenrand, da die Hausnummer der Melchiors übergroß an einer Hauswand auf der linken Straßenseite prangte.

 

»Nicht schlecht«, bemerkte René, als beide aus dem Wagen stiegen. Sie überquerten die Straße und gingen durch einen gepflegten, aber nicht protzigen Vorgarten auf die Haustür zu. Ein Messingschild rechts von der Tür verriet, dass dies das Zuhause von »Dr. Rüdiger Melchior – Facharzt für Orthopädie« war. Nichts an diesem Schild deutete auf die Existenz seiner Frau und seiner Tochter hin, aber eine stinknormale Hausklingel auf der linken Seite verriet, dass es sie gab, denn unter der Plastikabdeckung waren alle drei Namen aufgeführt. Ehe Frank läuten konnte, wurde die Haustür geöffnet und eine zerzauste Sabrina Melchior stand vor ihnen.

 

»Ich habe Sie kommen sehen«, meinte sie, sich erklären zu müssen und deutete auf eine Kamera über ihren Köpfen, die jeden ins Visier nahm, der den Klingelknopf drückte.

 

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Frank und reichte der Frau seine Hand zur Begrüßung.

 

»Es geht, danke«, antwortete sie und bat die beiden Privatermittler einzutreten. »Ich hatte mich etwas hingelegt und bin eben erst aufgestanden. Sie müssen mich kurz entschuldigen. Aber gehen Sie schon mal durch ins Wohnzimmer.«

 

Frank schaute sich um. Sie standen in einem Flur, der ungefähr die Größe seines alten Wohnzimmers in der Goethestraße hatte. Eine niedrige dunkle Holzbank stand an der linken Wand, auf ihr, nebeneinander aufgereiht, mehrere Paar Schuhe unterschiedlicher Art und Größe. Über ihnen befand sich eine Reihe von Garderobehaken mit Mänteln und Jacken, auf der rechten Seite ein alter Schubladenschrank aus Kirschholz, offensichtlich eine Antiquität. Der Strauß roter Rosen in der Vase auf diesem Schrank passte hervorragend zu dem Rot des Holzes. Eine Reihe von Radierungen mit Stadtmotiven an der rechten Wand hob den Flur in den Rang eines Salons, solange man nur seine rechte Hälfte betrachtete. Über ihnen streckte sich der Raum in lichte Höhen, und an der weißen Decke prangte hübsches Stuckwerk.

 

Das Wohnzimmer, in das Frau Melchior sie führte, hatte zwei Ebenen und war, grob geschätzt, etwa hundert Quadratmeter groß. Rechts von ihnen stand ein schwarzes Ledersofa. Ihm gegenüber hing ein Flatscreen ungeheuren Ausmaßes an der Wand. Sie ließen diese Komposition rechts liegen und nahmen fünf Stufen einer breiten Holztreppe, die sie auf die zweite Ebene des Raumes brachte. Der Boden war mit breiten Holzdielen bedeckt. Das sparsame Mobiliar, die bunten Teppiche und die Arrangements von Bildern und Skulpturen gaben dem Raum etwas Besonderes. Die hintere Wand des Wohnzimmers bestand aus einer Glasfront, in die die Terrassentür eingelassen war. Vor dieser stand ein großer Mann, der sich zu ihnen umwandte, als er die beiden Gäste bemerkt hatte.

 

Dr. Rüdiger Melchior mochte unwesentlich jünger als Frank sein. Sein dunkelblondes Haar wirkte gepflegt, seine Augen hellwach. Er trug ein graues Sweatshirt über einer normalen Jeanshose und kam barfuß auf sie zu. Leichte Sonnenbräune lag auf Gesicht und Händen, so dass die Haare heller wirkten, als sie tatsächlich waren.

 

»Herr Wallert und Herr Polanski, nehme ich an«, begrüßte er sie mit sonorer Stimme und streckte seine Hand aus.

 

»Richtig. Guten Tag, Herr Dr. Melchior.«

 

»Lassen Sie den Doktor ruhig weg. Sie kommen ja nicht als meine Patienten zu mir. Nehmen Sie Platz. Meine Frau wird gleich Kaffee kochen. Oder möchten Sie etwas anderes?«

 

Frank und René verneinten und nahmen gegenüber von Melchior in zwei crèmefarbenen Ledersesseln Platz.

 

»Ich hatte mir Privatdetektive anders vorgestellt«, eröffnete der Arzt das Gespräch.

 

»So? Wie denn?«, fragte Frank und musste lachen.

 

»Oh, entschuldigen Sie. Ich meinte das gar nicht despektierlich, aber in meiner Vorstellung tragen sie lange Mäntel und haben einen Hut auf dem Kopf. Meistens machen sie auch noch einen etwas abgehalfterten Eindruck. Sie sehen aus wie ganz normale Menschen ...«

 

»Ich nehme das mal als Kompliment«, kommentierte René die Worte des Arztes. »Gibt es etwas Neues bezüglich Ihrer Tochter?«

 

Schlagartig veränderte sich Melchiors Gesichtsausdruck.

 

»Leider nein«, erwiderte er betrübt. »Ich weiß nicht, was wir noch machen sollen. Ich kann kaum noch arbeiten, so beschäftigt mich das. Eben, kurz bevor Sie kamen, habe ich noch mit der Polizei telefoniert und gefragt, wie der Stand der Dinge ist. Es gibt nichts Neues, und man bat mich, abzuwarten. Man würde sich schon bei uns melden.«

 

»Sie können sicher sein, dass die Polizei mit Hochdruck an dem Fall arbeitet«, versicherte Frank. »Vor ein paar Stunden noch waren wir bei Frau Strecker. Ich kenne sie gut. Sie ist genau die Richtige für die Angelegenheit und wird ihr Bestes geben.«

 

»Richtig«, atmete Melchior auf. »Sie waren mal Polizist bei der Kripo, hat mir meine Frau erzählt.«

 

»Ja. Ich kenne die Abläufe. Glauben Sie mir: Auch wenn Sie seit Montag noch nichts von Ihrer Tochter gehört haben, bleiben Sie optimistisch! Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass sie entführt oder ihr sonstiger Schaden zugefügt worden ist. Vielleicht ist sie einfach nur weggelaufen. Das passiert täglich.«

 

»Uns aber nicht. Für uns ist das eine sehr belastende Situation. Ich habe ständig vor meinem inneren Auge, was mit ihr geschehen sein könnte. Man hört ja immer wieder die wildesten Sachen ...«

 

Melchior drohte, sich in ein Jammertal zu reden. Also unternahm René den Versuch, seine Aufmerksamkeit auf die Fakten zu lenken.

 

»Wir haben, kurz bevor wir zu Ihnen gekommen sind, mit Herrn Eichkorn telefoniert ...«

 

»Mit dem Musiklehrer? Mit Tobias?«, unterbrach der Arzt ihn, jetzt hellwach und angespannt.

 

»Ja. Er ist krank und zurzeit bei seiner Ex-Frau zu Besuch. Er hat uns erzählt, dass er am Montagmorgen gegen neun mit Birthe telefoniert hat.«

 

»Er hat was?«

 

»Sie rief ihn an und bat ihn um Hilfe. Sie hat, wie er sagte, verzweifelt gewirkt und wollte ihn zu Hause aufsuchen, ist aber nicht gekommen«, brachte Frank den Mann auf ihren aktuellen Wissensstand. Er zog den Zettel aus seiner Jackentasche und schob ihn dem Arzt zu. »Können Sie mit dieser Nummer etwas anfangen?«

 

Mit weit aufgerissenen Augen und unter der Sonnenbräune bleichem Gesicht starrte Melchior auf den Zettel und schüttelte den Kopf, als seine Frau mit einem Tablett zu ihnen trat.

 

»Sag mal, kennst du diese Nummer?«, sprach Melchior seine Frau an und hielt ihr den Zettel hin.

 

»Ich glaube nicht«, antwortete sie und stellte das Tablett auf dem Tisch ab. »Warum? Was ist das für eine Nummer?«

 

René erklärte es ihr, und Sekunden später saßen beide Elternteile erschreckt nebeneinander auf dem Sofa und starrten ihn ratlos an.

 

»Haben Sie sie mal ausprobiert?«, fragte die Mutter plötzlich, sprang auf und holte ihr Handy aus einer Ecke des Raumes.

 

Frank hätte sich in den Allerwertesten beißen können! Warum waren er und René nicht auf diese naheliegende Idee gekommen? Frau Melchior nahm ihm den Zettel aus der Hand und gab die Nummer ein. Dann drückte sie die Lautsprechertaste. Nach einigen Rufsignalen meldete sich die Sprachbox mit der üblichen Ansage.

 

»Sagen Sie nichts«, forderte Frank sie auf und gab ihr ein Zeichen, die Verbindung zu unterbrechen. »Wir müssen davon ausgehen, dass die Person, der dieses Handy gehört, mit dem Verschwinden von Birthe zu tun hat.«

 

Frau Melchior gehorchte und nahm neben ihrem Mann Platz. Den Zettel mit der Handynummer schob sie zurück zu Frank.

 

»Lassen Sie uns bitte noch einmal nachdenken«, setzte René an. »Ihre Tochter verlässt am Montag gegen sieben Uhr das Haus. Dass sie ihr Handy vergisst, ist – wie Sie sagen – so gut wie ausgeschlossen. Kurz nach neun ruft sie von einem fremden Handy ihren Musiklehrer an und bittet ihn verzweifelt um Hilfe. Aber sie erscheint nicht bei ihm. Kurz nach zehn rufen Sie, Frau Melchior, erfolglos auf dem Mobiltelefon Ihrer Tochter an. Etwa eine halbe Stunde später finden Sie Birthes Handy in ihrem Zimmer. Wie passt das alles zusammen?«

 

Die Eltern Melchior hatten Renés Zusammenfassung konzentriert gelauscht und die Tatsachen durch synchrones Nicken bestätigt.

 

»Ich bekomme das in meinem Kopf nicht zusammen«, erwiderte Herr Melchior und breitete die Arme aus.

 

»Wahrscheinlich hat Birthe für den Anruf bei Eichkorn das Gerät eines Freundes oder einer Freundin benutzt«, begann Frank, laut zu überlegen.

 

»Wir kennen diese Nummer aber nicht«, wandte Frau Melchior ein und begann danach ansatzlos zu weinen. Ihr Mann schloss sie in seine Arme und versuchte sie mit beruhigenden Worten zu trösten.

 

»Hör auf!«, fuhr sie ihn an. »Es ist etwas Schreckliches passiert! Ich fühle es!«

 

»Frau Melchior, bitte versuchen Sie, ruhig nachzudenken! Wer kann am Montagvormittag mit Ihrer Tochter zusammen gewesen sein?«

 

»Ich habe keine Ahnung!«, fuhr sie auf. »Eigentlich hatte ich Sie gebeten, nach unserer Tochter zu suchen!«

 

René, dem dieser Ausbruch gegolten hatte, hob die Brauen.

 

»Sicher, Frau Melchior. Aber Sie kennen Birthe besser als wir. Und einige Fragen müssten Sie uns schon beantworten können. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber in meinem Kopf türmen sich Fragen, die für Sie wahrscheinlich gar keine sind. Warum, zum Beispiel, wendet sich Birthe hilfesuchend an ihren Musiklehrer und nicht an Sie? Welches Problem könnte sie gehabt haben? Immerhin wirkte sie verzweifelt! Warum ist sie dann nicht bei Eichkorn erschienen, der auf sie gewartet hat? Ist sie aus freien Stücken am Montag nicht zur Schule gegangen, oder wurde sie durch eine andere Person davon abgehalten? Mit wem könnte sie an diesem Tag zusammen gewesen sein? Also, bitte helfen Sie uns! Sie haben gesagt, dass Sie keinen Ärger mit Birthe hatten, und dass sie fröhlich das Haus verlassen hat. Was kann passiert sein, dass sie zwei Stunden später verzweifelt ist, und ihren Musiklehrer statt Sie anruft?«

 

»Gut. Das sind die Fragen, die wir uns auch stellen«, antwortete Herr Melchior anstelle seiner Frau. »Tobias Eichkorn ist uns im Laufe der Zeit ein guter Freund geworden. Er ist ein großartiger Mensch, und wenn es jemanden gibt, der außer uns vonseiten meiner Tochter immenses Vertauen genießt, dann ist er es. Mich wundert es also gar nicht, dass sie ihn angerufen hat. Warum Sie verzweifelt war, weiß ich ebenso wenig wie Sie. Wir haben keine Erklärung dafür. Und mit wem sie am Montag zusammen gewesen ist ... keine Ahnung!«

 

»Ist denn die Liste, die Sie uns und der Polizei gegeben haben, vollständig? Haben Sie vielleicht jemanden vergessen?«

 

»Nein«, meldete sich Frau Melchior zu Wort. »Nicht, dass ich wüsste. Diese Liste umfasst alle Menschen, mit denen Birthe enge und regelmäßige Kontakte pflegt. Am engsten sind sicherlich die Beziehungen zu den Bandmitgliedern und zu Tobias. Ich weiß nicht, ob vielleicht einer von

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kurt Jahn-Nottebohm
Bildmaterialien: Ulrike Nottebohm (Covergestaltung), Ausschnitt "Vintage electric guitar“ mit Genehmigung von www.jhs.co.uk
Lektorat: Christine Klingbeil
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2015
ISBN: 978-3-7396-2392-4

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