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1

Als er zu sich kam, drohte ihm der Kopf zu platzen. Ein pulsierender Schmerz arbeitete sich aus dem Inneren seines Schädels, als versuchte jemand, sich mit einem Vorschlaghammer einen Ausweg aus seinem Kopf zu bahnen. Er hielt die Augen geschlossen, denn er befürchtete, dass seine Kopfschmerzen ihn sonst gänzlich umbringen würden. Er räusperte sich und testete seine Stimme. Was er hörte, war ein klägliches Krächzen. Der Versuch, den Kopf zur Seite zu drehen, scheiterte. Jetzt erst registrierte er, dass er auf einem Tisch oder etwas Ähnlichem festgebunden war. Ein Frösteln durchfuhr ihn. Er war nackt. Hinter sich vernahm er ein leises Tröpfeln, als ob ein Wasserkran leckte und Tropfen für Tropfen in eine fast leere Blechdose fallen ließ. Langsam kehrte seine Erinnerung wie aus einer wabernden, zähflüssigen Masse zurück.

 

Er verließ seine Wohnung in der Auerstraße, um sich mit Kristine zu treffen. Auf dem Weg zu seinem Scenic, der an dem unbebauten Grundstück gegenüber geparkt war, fiel ihm ein Wagen mit laufendem Motor auf. Der Fahrer saß im Auto und musste sein Fahrzeug wegsetzen, um ihm das Ausparken zu ermöglichen. Er näherte sich der Fahrertür und wollte gegen das Fenster klopfen, als der Fremde plötzlich aus dem Wagen stieg. 

»Steig ein!«, raunte er ihm zu und öffnete die linke Hintertür.

»Warum sollte ich?«

»Weil ich es sage!«

Er hielt die Tür offen und schaute Thorsten Stemmer aus graublauen, kalten Augen an. Irgendwie kam ihm dieser Mann bekannt vor, aber eine klare Erinnerung wollte sich nicht einstellen. Immer noch zögerte er. Zum einen, weil er natürlich völlig überrascht war, zum anderen kramte er in seinem Gedächtnis nach dem Blick und den Gesichtszügen dieses Mannes, den er sicher schon einmal gesehen hatte.

»Glaube mir, du hast keine Wahl«, sagte der Fremde und deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf seine rechte Jackentasche, in der sich seine Hand befand. Hielt er etwa eine Waffe in dieser Hand? Stemmer hielt es für das Klügste nachzugeben. Ohne seinen Blick vom Gesicht des anderen abzuwenden, stieg er ein. Kaum saß er, als er einen mordsmäßigen Schlag gegen den Kopf bekam, der ihn sofort in tiefe Bewusstlosigkeit fallen ließ.

 

Wie lange war das her? Ein paar Stunden? Auf jeden Fall verspürte er Durst und Hunger. Er öffnete langsam die Augen und sah nichts. Es war stockfinster. Noch nicht einmal einen schwachen Lichtschein konnte er ausmachen. Er musste pinkeln und ihm war kalt. Wer, zum Teufel, hatte ihn in diese Lage gebracht? Jetzt war er voll da und wurde wütend. Wollte ihn dieses Schwein nackt, frierend, hungrig, durstig und mit zum Platzen voller Blase hier verrecken lassen? Was sollte das überhaupt? Eine Entführung? Wozu? Er hatte kein Geld! Niemand in seiner Umgebung hatte Geld!

Er hielt den Atem an. Er sollte sterben! Klar! Geld gab es nicht und er hatte seinen Entführer gesehen! Er würde sterben! Wie eine Spinne kroch Panik in ihm hoch. Er begann zu schluchzen, öffnete den Mund und schrie.

»Hallo! Hilfe!!«

Der Schrei hallte ohrenbetäubend durch sein Gefängnis. Offensichtlich befand er sich in einem Keller, auf jeden Fall in einem Raum ohne Fenster, ohne Teppich, ohne etwas. Wieder begann sein Schädel zu dröhnen. Egal, dachte er, die Kopfschmerzen sind mein geringstes Problem. Er lauschte angestrengt in die Finsternis, doch bis auf das Tröpfeln hinter ihm konnte er nichts hören. Der Druck in seiner Blase wurde unerträglich. Noch einmal schrie er, so laut er konnte, aber es kam niemand. Vielleicht war da ja auch niemand. Vielleicht hatte dieser Typ ihn hier nur abgeladen, um ihn tatsächlich sterben zu lassen. Er versuchte, seine Glieder zu bewegen. Es war unmöglich. Er war an Beinen und Armen gefesselt, sein Kopf war mit einer Art Riemen fixiert. Außer die Muskeln anzuspannen und wieder zu lösen, war ihm keine Bewegung möglich.

Warum lag er hier? Was wollte dieser Typ? Woher kam er ihm so bekannt vor? Gerade wollte er dieser Frage auf den Grund gehen, als unerwarteter Lärm den Raum füllte. Ein Riegel schien geschoben und eine schwere Metalltür geöffnet worden zu sein. Schwaches Licht fiel durch die mannshohe Öffnung, die nahezu gänzlich von einer schwarzen Gestalt ausgefüllt wurde. Die Tür wurde geschlossen, und es flackerte Neonlicht auf, das eine Sekunde später den ganzen Raum in kaltes, grelles Licht tauchte. Thorsten Stemmer schloss seine Augen zum Schutz gegen das Licht und versteifte sich.

»Na, mein Freund, wie fühlst du dich?«

Die Stimme klang gar nicht mal unfreundlich, ausgesprochen ruhig, beinahe sanft, aber auf keinen Fall mitfühlend. Stemmer öffnete zögerlich die Augen. Als diese sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, sah er das Gesicht seines Entführers dicht über seinem. Der Mann trug eine Brille und ein schwarzes T-Shirt. Seine emotionslosen Augen musterten ihn, als suchten sie etwas in seinem Gesicht.

»Ich muss pissen«, brachte er mit zitternder Stimme hervor.

Der andere zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Stemmer hörte ihn drei Schritte machen. Als sein Peiniger zurückkam, spürte er, wie dieser ihm etwas Kaltes zwischen die Beine schob, etwas, das eine flaschenähnliche Öffnung hatte – eine Urinflasche.

»Tu dir keinen Zwang an.«

Thorsten Stemmer ließ es laufen. Er verspürte Erleichterung. Als er fertig war, griff sein Entführer die Flasche, stellte sie irgendwo ab und trat neben ihn, um seinen suchenden Blick wieder über sein Gesicht gleiten zu lassen.

»Du weißt nicht, wer ich bin, oder?«

»Nein«, antwortete er. »Aber Sie kommen mir bekannt vor.«

Im Gesicht des Fremden erschien der Anflug eines Lächelns.

»Ach, tatsächlich?«

»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Warum bin ich nackt?«

»Nanana«, säuselte der Mann. »So viele Fragen auf einmal.«

Wieder bewegte er sich aus Thorsten Stemmers Blickfeld, um kurz darauf mit einer Wasserflasche zurückzukehren, die er seinem Opfer vorsichtig an die Lippen führte. Er trank gierig.

»Der Reihe nach: Ich bin ein alter Bekannter. Ich werde dich töten. Du bist nackt, weil du nach deinem Tod von mir gebadet wirst und ich deine Kleidung bereits verbrannt habe.«

Bei diesen Worten hatte sich Stemmer verschluckt. Er bekam kaum Luft. Zu seiner Bewegungsunfähigkeit kam die Panik, die die Worte seines Entführers in ihm ausgelöst hatten.

»Warum?«, krächzte er schließlich, als er wieder einigermaßen Luft bekam.

»Willst du noch etwas trinken?«

Der Fremde musterte ihn mit einem süffisanten Lächeln und hielt die Wasserflasche in sein Blickfeld.

»Nein! Warum? Warum willst du mich töten? Was habe ich dir getan?«

Thorsten Stemmers Stimme gehorchte ihm langsam wieder, und so hatte er die letzten Worte dem Fremden fast schon entgegen geschleudert.

»Was nützt es, wenn ich dir diese Fragen alle beantworte? Ich mache dir einen Vorschlag: Ich gehe noch einmal kurz weg, denn ich muss noch einiges vorbereiten, und du denkst nach. Du sagst, ich käme dir bekannt vor, also denk nach. Vielleicht kannst du dir, bis ich wiederkomme, deine Fragen alle selbst beantworten.«

»Kriege ich noch was zu essen?«, fragte Stemmer beinahe flehend.

Der Fremde hatte sich schon abgewandt, drehte sich aber noch einmal um und zuckte mit den Schultern.

»Wozu?«

Die Tür wurde geöffnet, das Licht gelöscht und der Riegel vorgeschoben. Thorsten Stemmer war allein und begann hemmungslos zu schluchzen. Als er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, begann es, in seinem Kopf zu arbeiten. Gleichzeitig versuchte er, sich mit aller Kraft strampelnd von seinen Fesseln zu befreien – vergeblich. Er zwang sich zur Ruhe.

Der Mann musste ein Psychopath sein. Wieso hatte er behauptet, ein »alter Bekannter« zu sein? Im Kopf ging er die Menschen in seiner Umgebung durch. Seine wirklichen Bekannten und Freunde ließ er erst einmal außen vor. Mit denen hatte er regelmäßig Kontakt. So begann er mit seinem beruflichen Umfeld.

 

Seit etwa drei Jahren war Thorsten Stemmer einer von zwei Geschäftsführern in einer kleinen Firma, die größeren Softwarefirmen zuarbeitete. In erster Linie ging es dabei um die graphische Umsetzung von Software, zumeist Spielideen. Die etwa vierzig Angestellten der Firma kannte er nicht alle. Viele arbeiteten zu Hause bis zu einem bestimmten Stichtag an einem Projekt oder einer Teilaufgabe. Genau zwölf Mitarbeiter kannte er persönlich. Plötzlich fiel ihm Leonard Krüger ein, ein Freak, dem sie vor vier Monaten gekündigt hatten. Krüger hatte bei drei wichtigen Projekten Stichtage verstreichen lassen, ohne Ergebnisse zu liefern. In dem abschließenden Gespräch, das er zusammen mit dem zweiten Geschäftsführer geführt hatte, behauptete Krüger, er habe seine Arbeit getan, nur sei sie offensichtlich bei dem Datentransfer auf die Firmenserver »verloren gegangen«. Eine Überprüfung des Vorgangs hatte ihm Recht gegeben. Seine Arbeit war mit einem Virus verseucht gewesen, der das Firmen-Intranet vollständig ausgehebelt hätte, wenn nicht die Sicherheits-Software getan hätte, wofür sie gedacht war, nämlich die Datei erst zu isolieren und dann zu eliminieren. Man hatte davon ausgehen müssen, dass es sich hierbei um Sabotage handelte, also hatte man dem Mann fristlos gekündigt. Eine Anzeige hätte dem kleinen Unternehmen nur eine negative Öffentlichkeit beschert, auf die vor allem die Auftraggeber sehr sensibel reagiert hätten. Also hatte man ihn ohne weitere Konsequenzen in die Wüste geschickt. Hatte sein jetziger Peiniger mit dieser Sache zu tun? War dieser Vorfall Grund genug für eine solch brutale Vorgehensweise? Thorsten Stemmer schob die Geschichte zur Seite und dachte an Kristine.

 

Kristine Wohlert bezeichnete sich gerne als Stemmers »Verlobte«. Schon seit der gemeinsamen Schulzeit kannten sie sich, aber das, was man landläufig ein »wirkliches Paar« nennt, waren sie erst seit zwei Jahren. Auf einer Fete bei einem Freund waren sie sich näher gekommen und hatten Sex miteinander. Kristines damaliger Partner hatte das nicht so lustig gefunden. Als Kristine und er zusammen aus dem Badezimmer kamen, stand er vor der Tür und empfing Stemmer mit einem Faustschlag mitten ins Gesicht. Kristine spie er das Wort »Schlampe!« entgegen und verschwand. Seitdem gehörten Kristine und er wohl zusammen. Eines Abends, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, plauderten sie über ihre Pläne, und da hatte er wohl unbedacht geäußert, dass er sich vorstellen könne, mit ihr Kinder zu haben. Kristine war begeistert.

 

»Wirklich?«, rief sie aus.

»Ja. Warum nicht?«

»Einfach nur Kinder haben oder auch richtig Vater sein – so mit allem drum und dran?«

»Was meinst du?«, fragte er nach.

»Naja – so richtig Vater, Mutter und Kind? Mit heiraten und so?«

»Ja, klar. Warum nicht?«

 

Kristine hatte ihn mit Küssen überhäuft und kaum eine Stelle seines Körpers ausgelassen. Seitdem sah sie sich als seine Verlobte. Er ließ es dabei bewenden, widersprach nicht, auch wenn ihm natürlich klar war, dass das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen war.

Sollte sein Vorgänger, dieser Felix, hinter seiner aktuellen Situation stecken? Das Ganze war zwei Jahre her! Andererseits hatte es zwischendurch immer mal wieder Vorfälle gegeben, für die Kristine und er Felix verantwortlich gemacht hatten: Anrufe vor allem, vorwiegend bei Kristine, unangenehme Anrufe über einen relativ großen Zeitraum hinweg. Schließlich weiß man, dass von Eifersucht und Rache getriebene Menschen zu allem fähig waren. Ja, es konnte sein, dass Felix mit ihm ein hässliches Spiel spielte. Als er diesen Gedanken gespeichert hatte, machte sich Hoffnung in ihm breit. Genau: Felix hatte jemanden beauftragt, ihm und Kristine einen ordentlichen Schrecken einzujagen. Aber töten? Niemals! Er schloss erleichtert die Augen und schlief tatsächlich ein.

 

Etwa zwei Stunden später kam Thorsten Stemmer wieder zu sich. Sofort registrierte er die Helligkeit in seinem Gefängnis und die Tatsache, dass sich der Fremde wieder in dem Raum befand. Er konnte ihn aber nicht sehen, so sehr er sich auch abmühte, mit wildem Augenrollen seinen Peiniger in sein Blickfeld zu bekommen. Im Hintergrund hörte er merkwürdige Geräusche. Offensichtlich war sein Gefängnis größer als er gedacht hatte. Es hörte sich an, als ob eine Wanne mit Wasser volllief.

»Sind Sie hier?«, fragte Stemmer, dem plötzlich auffiel, dass es merklich wärmer geworden war. Er zählte acht Schritte, bis sich das Gesicht wieder über ihn beugte. Der Schreck ließ ihm das Blut stocken. Der Fremde steckte offenbar in einem Overall. Die enge Kapuze, die seinen Kopf bedeckte, ließ nur die Augen, die Nase und den Mund frei. Der Anzug schien aus einer Art Papier zu bestehen – leicht und weiß. Außerdem steckten seine Hände in Handschuhen des gleichen Materials.

»Wie du siehst, bin ich hier.«

»Wie sehen Sie aus?«

»Betrachte es als meine Arbeitskleidung«, schmunzelte das Gesicht.

Jetzt wurde es Stemmer zu bunt.

»Hör auf mit dem Scheiß!«, fuhr er den Fremden an, der mit einem lauten Lachen und dann mit einer Frage reagierte.

»Hast du nachgedacht?«

Seine Augen hatten jetzt einen völlig anderen Ausdruck. Er schien ernsthaft interessiert zu sein, ob Thorsten Stemmer dem Rätsel näher gekommen war.

»Felix.«

Verblüffung spiegelte sich nun im Blick des anderen.

»Felix? Welcher Felix?«

»Der Ex von Kristine.«

Wieder lachte der Fremde, schüttelte aber diesmal den Kopf.

»Du glaubst, dass es um eine solch triviale Angelegenheit geht?«

»Felix wird das nicht als trivial empfunden haben.«

»Mag sein«, sagte der Fremde und zögerte kurz. »Du wirst jetzt sterben«, schob er hinterher, als sei ihm gerade etwas Belangloses eingefallen. »Möchtest du eine Betäubung?«

Er hob seine behandschuhten Hände in Thorsten Stemmers Blickfeld. In der Rechten hielt er ein Messer, in der Linken eine Spritze.

2

Der Radiowecker begrüßte ihn an diesem Montagmorgen ausgerechnet mit dem alten Song »Monday Monday« von den »Mamas and Papas«. Ja, so fühlten sich Montage an: Sein Kopf brummte und das Kopfkissen war nassgeschwitzt. Er brachte den Wecker zum Schweigen, schob das Kissen zur Seite und drehte sich um. Maren wandte ihm noch ihren Rücken zu, war aber offensichtlich auch soeben erwacht, denn er sah, wie sie sich mit der rechten Hand über die Augen wischte. Er glitt mit seinem Zeigefinger vom Nacken aus an ihrer Wirbelsäule entlang, worauf sie sich umdrehte und ihn aus frischen Augen ansah.

»Guten Morgen«, lachte sie ihn an. »Wie fühlst du dich?«

»Weiß ich noch nicht. Mein Schädel weigert sich noch mitzuspielen.«

»Kopfschmerzen?«

Frank nickte.

»Soll ich dir was holen?«

»Nein«, erwiderte er. »Ich habe lange genug Tabletten gefressen. Das wird schon.«

 

Frank Wallert, 45-jähriger Mülheimer Hauptkommissar bei der Kriminalpolizei, konnte von Glück reden, dass er all das – wie morgens neben Maren aufwachen und auch Kopfschmerzen – überhaupt noch erleben durfte. Er war im letzten Sommer von einem Mann niedergeschossen worden, was für ihn einen harten Überlebenskampf zur Folge hatte. Vier kritische Operationen, wochenlanges sogenanntes »künstliches Koma«, Dienstunfähigkeit über Monate hinweg und unendlich lange Wochen in einer Reha-Klinik hatten ihn und sein Leben verändert, um es freundlich auszudrücken. Heute noch plagten ihn manchmal Albträume, die er dann mit seiner Therapeutin besprach und in den richtigen Zusammenhang rückte. Über Monate hinweg musste er Medikamente schlucken, die sowohl auf seine Physis als auch auf seine Psyche irritierend gewirkt hatten. Heute konnte er behaupten, dass er die Gratwanderung zwischen Leben und Tod erfolgreich beendet hatte. Seine Lebensgefährtin und Kollegin, Oberkommissarin Maren Dieckmann, mit der er seit einigen Jahren zusammenlebte und die ihn nach Kräften unterstützt hatte, lag neben ihm, und er war wieder einmal aufgewacht. Warum sollte er sich wegen blöder Kopfschmerzen beklagen?

 

Frank drückte Maren einen Kuss mitten ins Gesicht, warf die Decke von sich und stand auf. Beim Gang durch den schmalen Flur in Richtung Badezimmer sah er die Anzeige des Anrufbeantworters blinken. Er hielt kurz inne und hörte den AB ab. Es war Maltes Stimme. Er wollte schnell mitteilen, dass heute Montag war und er Maren und ihn pünktlich zur Besprechung in der Büscherstraße erwartete. »Ich freue mich auf dich, Frank!«, hatte er hinzugefügt. Frank musste lächeln, während er seinen Weg zum Bad fortsetzte. Ihm wurde wieder einmal bewusst, was er für ein unfassbares Glück hatte! Nicht nur, dass er die letzten acht Monate überlebt hatte, nein, er hatte auch riesiges Glück mit seinem Freund Malte, mit Bea, Sabine und natürlich Maren! In den ersten Monaten nach den Schüssen war Frank kaum in der Lage gewesen, zu erkennen, wie seine Freunde litten. Sein eigenes Leid stand für ihn im Vordergrund, und das war riesig genug. Aber er war nie allein. Immer wusste er einen seiner Freunde neben sich. Sie waren an seiner Seite, lasen ihm vor, sprachen ihm Mut zu, begleiteten ihn von einer Untersuchung zur nächsten, und als der Punkt kam, an dem Entscheidungen getroffen werden mussten, diskutierten sie mit ihm, stützten ihn und redeten ihm aus, seinen Beruf an den Nagel zu hängen.

Heute sollte Frank neu beginnen. Man hatte sich mit ihm darauf geeinigt, und auch an diesem Punkt hatte er Malte vieles zu verdanken, dass er erst einmal mit halber Stundenzahl einsteigen und danach alle drei Monate seine Arbeitszeit um drei Stunden pro Woche erhöhen sollte. Er würde zunächst Innendienst leisten, aber Teil von Maltes Team sein. Malte, sein Freund und Kollege, war seit dem 1. Januar 2007 Hauptkommissar im KK11 der Kriminalinspektion 1 bei der neuen Kreispolizeibehörde Essen/Mülheim. Auch Maren war befördert worden und ebenfalls im Team von Malte. Irgendwie freute sich Frank auf den Tag.

Frisch geduscht und mit einem Handtuch über der Schulter kehrte Frank ins Schlafzimmer zurück, wo ihn Maren mit auf die Hand gestütztem Kopf und herausforderndem Blick noch immer im Bett liegend empfing.

»Malte hat angerufen«, teilte er mit und begann sich anzuziehen.

Maren ließ sich ins Kissen fallen und räkelte sich.

»Was ist los? Dürfen wir noch einen Tag zu Hause bleiben?«

»Im Gegenteil. Er erwartet uns pünktlich zur Montagsbesprechung.«

Maren wechselte in den Schneidersitz, um kurz danach aufzustehen.

»Seit er unser Chef ist, ist er ein richtiger Schinder geworden«, nörgelte sie scherzhaft und lief an ihm vorbei zum Bad.

 

*

 

Als Frank und Maren anderthalb Stunden später das neue Büro in der Büscherstraße in Essen betraten, in dem Frank von nun an mit Malte residieren sollte, waren dort mehr Leute versammelt, als der Raum eigentlich vertragen konnte. Kaum hatten sie die Tür geöffnet, brandete Applaus von sieben Händepaaren auf. Malte, Sabine von der KTU, Kriminaloberrat Brandt und, zu Franks Überraschung, Brandts Sekretärin Frau Wehner, die von ihrem Chef inständig gebeten worden war, ihn nach dem Wechsel nach Essen »nicht zu verlassen«, eine ihm noch unbekannte Kollegin sowie zwei Kollegen drängten sich in dem Raum und begrüßten ihn aufs Herzlichste. Als auch Frank und Maren eingetreten waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten, war das Büro definitiv überfüllt. Malte, der relativ nah an der Tür stand, zog Frank an sich und umarmte ihn.

»Herzlich willkommen!«, sagte er laut und vernehmlich, worauf der Applaus noch einmal aufbrauste und erst verstummte, als Kriminaloberrat Brandt mit einer Geste deutlich machte, dass er etwas sagen wollte. Nach einem kurzen Räuspern erhob er seine mächtige Stimme.

»Verehrte Damen und Herren, lieber Frank ...«

Frank blieb vor Verblüffung beinahe der Mund offen stehen. Selten hatte Brandt ihn beim Vornamen genannt.

»Wir haben Sie zurück, und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wir uns darüber freuen und wie erleichtert wir sind, Sie in diesem guten Zustand wieder zu haben! Sie haben nach Monaten der Qual und der Angst ins Leben zurückgefunden und sich – nicht zuletzt dank des Einsatzes Ihrer Freunde und Kollegen – entschlossen, wieder in Ihrem Beruf zu arbeiten. Dafür danke ich Ihnen, wünsche Ihnen alles erdenklich Gute ... und jetzt an die Arbeit!«

In den erneuten Applaus mischte sich freundliches Lachen. Brandt wühlte sich durch die Menschentraube, klopfte ihm auf die Schulter und verließ zusammen mit Frau Wehner, die Frank ihr süßestes Lächeln schenkte, den Raum.

»Danke«, rief Frank den beiden nach, wandte sich dann an die im Raum Verbliebenen und dankte auch ihnen.

»So!« Malte klatschte kurz in die Hände. »In einer Viertelstunde im Besprechungsraum. Bis dann.«

Alle strebten an Frank und Maren vorbei zur Tür. Das Büro leerte sich rapide. Sabine war die Letzte und blieb noch kurz bei ihm stehen, um ihn in den Arm zu nehmen und ihm Glück zu wünschen. Sie hatte sich während der letzten Monate seiner Tortur deutlich verändert. War ihr Zusammentreffen früher immer geprägt von scherzhaftem Flirten, so herrschte nun eine menschliche Wärme zwischen ihnen, die völlig frei von Anzüglichkeiten war. Sabine hatte sich vor Jahren in den Kopf gesetzt, Frank für sich zu gewinnen, was aber nicht gelungen war. Dennoch hatte sie bis zu seinem »Unfall« keine Gelegenheit ausgelassen, scherzhaft mit ihm zu flirten. Erst Ina, später dann Maren, hatten gelernt, damit umzugehen, bis Sabine Teubert irgendwann zu ihrem engsten Freundeskreis gehörte. Die Schüsse auf Frank hatten natürlich auch sie geschockt und ihr Verhältnis zu ihm mit einer großen Portion Ernsthaftigkeit ausgestattet. Seit sie in Essen im KK 43 arbeitete, hatte sie sich noch stärker verändert, denn hier lernte sie Horst Lenau kennen, den sie als den »Mann ihres Lebens« bezeichnete. Jetzt war Horst die erste Adresse für ihre Flirt-Attacken und sie war offensichtlich glücklich. Frank küsste sie flüchtig auf die Wange.

Als Sabine gegangen war, blieben Malte, Frank und Maren alleine in dem Büro zurück, in dem zwei große Schreibtische so gegeneinandergestellt waren, dass sich Frank und Malte beim Arbeiten gegenübersaßen. Seitlich von diesen Tischen stand ein runder Besuchertisch mit zwei Stühlen. Die Fensterfront auf der anderen Seite gewährte einen großzügigen Blick auf die Büscherstraße mit den Parkplätzen des Präsidiums. Das ehemalige Polizeipräsidium in der Von-Bock-Straße in Mülheim bot zwar in seiner Umgebung mehr Grün, dafür aber weniger Tageslicht in den Räumen. Im Rücken der Schreibtische standen zwei mit Aktenordnern und Büchern gefüllte Regale. An der Wand neben der Tür stellte ein kleines Schränkchen die Standfläche für ihre Kaffeemaschine dar. Darüber hing eine Graphik von Christo, die das verhüllte Reichstagsgebäude in Berlin zeigte.

»Willst du mal Probe sitzen?«, fragte Malte und wies mit einer Hand einladend auf den noch unbenutzten Schreibtisch, auf dem nicht einmal ein Blatt Papier lag. Lediglich die Computertastatur und der Monitor beanspruchten einige Quadratzentimeter seiner Fläche. Das würde sich bald ändern. Frank nickte, setzte sich auf den schon fast luxuriösen Schreibtischstuhl, drehte sich mal nach links, dann nach rechts und strahlte Malte an.

»Super!«, sagte er. »Wie lange haben wir in Mülheim versucht, ordentliche Möbel für unser Büro zu bekommen?«

»Ich glaube, wir haben nach dem dritten Antrag nach anderthalb Jahren aufgegeben«, antwortete Malte und grinste ihn an. »Ist das in Ordnung so?«

Malte machte eine umfassende Geste, die den ganzen Raum einschloss.

»Das ist perfekt. Und wo sitzt du?«, wandte Frank sich an Maren.

»Direkt nebenan, auch in einem Zweierbüro mit Stefan. Es sieht fast genauso aus wie hier, nur dass ich über dem Schränkchen einen Picasso hängen habe.«

»Sollen wir?«, unterbrach Malte. »Du möchtest doch bestimmt die Anderen kennenlernen.«

»Klar«, antwortete Frank und erhob sich.

Gemeinsam verließen sie das Büro, liefen nach rechts den Gang entlang und kamen schließlich zu einer doppelflügeligen Tür. Malte öffnete sie und sie betraten einen Besprechungsraum, wie ihn sich Frank in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Ein ovaler Tisch für etwa zwanzig Leute stand zentral im Raum. Oberhalb der Fensterfront gab es eine Leinwand, die bei Bedarf elektronisch ausgefahren werden konnte, um die Projektionen eines Beamers, der an einem Gestänge unterhalb der Decke hing, wiedergeben zu können. Für jeden Sitzplatz gab es Einlassungen in der Tischfläche, in denen verschiedene Anschlussbuchsen untergebracht waren. Vor Kopf stand ein Rechner – offensichtlich der Platz des Chefs, Maltes Platz. In der Mitte des Tisches standen in regelmäßigen Abständen Teller mit Plätzchen und Tabletts mit Gläsern, daneben kleine Wasser- und Limonadenflaschen. Rechts von der Eingangstür brodelte bereits die Kaffeemaschine, an der sich ein junger Mann zu schaffen machte, den Frank vor ein paar Minuten noch bei dem Begrüßungsapplaus in seinem Büro gesehen hatte.

»Das ist übrigens Stefan«, stellte Maren ihren neuen Kollegen vor. »Kommissar Stefan Heine. Mit ihm teile ich mir mein Büro.«

Heine, der einen äußerst sympathischen Eindruck machte, mochte vielleicht Mitte zwanzig sein. Sein schwarzer Kurzhaarschnitt und seine ebenso schwarzen Augen, die gerade, etwas flache Nase und der gleichmäßige Mund verliehen seinem Gesicht Weichheit.

»Herzlich willkommen, Herr Hauptkommissar. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?«

Frank gab ihm die Hand und nickte.

»Danke, ja. Ihr habt es mir heute Morgen ja auch leicht gemacht.«

»Kaffee?«, fragte Stefan Heine. »Er ist gerade fertig geworden. Tassen finden Sie hier im Hängeschrank, Milch im Kühlschrank und Zucker steht hier.«

Er wies auf einen Zuckerspender neben der Kaffeemaschine. Noch bevor sich Frank erneut bedanken konnte, wurde die Tür geöffnet und ein Pulk von Menschen betrat den Raum, die ihm alle in der nächsten Stunde vorgestellt werden sollten.

3

Silke Schaffer fühlte sich eins mit der Natur, auch wenn das Waldstück, in dem sie ihren morgendlichen Lauf absolvierte, nicht gerade als »Naturwald« bezeichnet werden konnte. Im lockeren Trab, die Kopfhörer ihres I-Pods in den Ohren, bekleidet mit einer knapp sitzenden grauen Jogginghose und einem gelben Top, bewegte sie sich auf einem Weg parallel zur Duisburger Straße durch ein Waldstück mit vielen Parkplätzen, die an diesem Montagmorgen noch nicht so stark frequentiert waren. Da der Duisburger Zoo noch nicht geöffnet hatte, war auch nicht wirklich damit zu rechnen, dass sich das an diesem grauen Märzmorgen wesentlich ändern würde. Sie war zufrieden mit sich und der Welt. Das Wochenende war ereignisreich gewesen, begonnen mit einem Theaterbesuch am Freitagabend, der »Höhepunkt«, wenn man so wollte, am Samstag, als es ihr auf der Geburtstagsfete ihrer Freundin Carola endlich gelungen war, Sebastian Thieme auf sich aufmerksam zu machen, bis hin zum gestrigen Sonntag, der Sebastian und ihrem Bett gehört hatte. Silke war Erfolge gewohnt, und alles andere als ein Erfolg in Sachen Sebastian hätte nicht in ihr Weltbild, und schon gar nicht in ihr Selbstbild gepasst.

Die junge Frau bog an der nächsten Gabelung nach links ab, entfernte sich dadurch von der Duisburger Straße und lief auf die sogenannte »Klöckner-Villa« zu. Ob dieses Gebäude wirklich jemals etwas mit der Stahl-Dynastie zu tun gehabt hatte, wusste sie nicht. Es war ja auch nicht wichtig. Viel wichtiger war, dass sie sich Gedanken darüber machte, wie sie, nachdem sie Sebastian Thieme in ihrem Bett ein ums andere Mal vernascht hatte, aus dieser Tatsache Kapital schlagen konnte – im übertragenen Sinne natürlich. Thieme war Carolas und Silkes Chef, und seinen Chef an der sexuellen Angel zu haben, konnte durchaus von Nutzen sein.

Sie erreichte die Lichtung kurz vor der Villa – ein schlichtes Rasenstück, eingerahmt durch drei Wege, an jedem Weg mit einer Bank bestückt, die Spaziergängern eine kurze Rast ermöglichen sollten. Sie blieb wie angewurzelt stehen, ihren Blick starr auf die mittlere Bank gerichtet. Auf dieser Bank saß ein nackter Mann, aufrecht, die Hände in den Schoß gelegt und den Kopf gesenkt, so dass das Kinn auf seiner Brust ruhte. Schritt für Schritt ging sie auf ihn zu und wollte ihn gerade mit Nachdruck ansprechen, als ihr etwas auffiel. Von der Brust bis zum Unterleib des Nackten erstreckte sich ein rotes Smiley-Gesicht.

Ich träume, dachte sie und machte noch ein paar Schritte auf die Gestalt zu, bis sie sah, was ihr endgültig den Schrecken in die Glieder fahren ließ. Das Smiley-Gesicht bestand aus Wunden. Vorsichtig berührte sie den Mann an der Schulter. Er war eiskalt und offensichtlich tot. Sie schrie, so laut sie konnte, um Hilfe. Gleichzeitig wählte sie auf ihrem Handy die Notrufnummer.

 

*

 

Malte saß an seinem Schreibtisch und sortierte Berichte ein, die er eben auf der Morgenbesprechung erhalten hatte. Ihm gegenüber saß Frank, der ihn lächelnd beobachtete und die Ellenbogen auf seine saubere Schreibtischplatte gestützt hatte.

»Das sind alles nette Leute«, sagte er, worauf Malte aufblickte.

»Vor allem dieser Stefan ist ein fähiger Kopf. Aber warte mal ab mit deiner Einschätzung. Du hast einen ersten Eindruck, nicht mehr.«

Frank blickte verwundert.

»Was meinst du damit? Ist es nicht so?«

»Stimmt schon, nett sind sie alle. Aber das heißt ja nicht, dass sie auch alle gut sind. Wir arbeiten gerade einmal ein paar Monate zusammen.«

»Aber dass die Atmosphäre stimmt, ist eine gute Basis, oder?«

Malte nickte.

»Ja. Das ist erst einmal die Hauptsache. Dass dir das Team gefällt, freut mich besonders, denn es erleichtert deinen Wiedereinstieg.«

»Auf jeden Fall war die Begrüßung toll, das Team stimmt und unser Büro gefällt mir auch ausnehmend gut. Ich habe mich auf heute gefreut und könnte fast behaupten, dass ich glücklich bin.«

»Wieso ›fast‹? Was fehlt dir zum vollkommenen Glück?«, hakte Malte nach.

»Nicht viel, aber wie wäre es mit ein wenig Arbeit?«

In diesem Augenblick ertönte ein nervtötendes Signal aus Maltes Rechner. Auf seinem Bildschirm erschien ein rot unterlegtes, pulsierendes Textfeld mit einer kurzen Meldung, einer Adresse und einer Uhrzeit.

»Die sollst du haben! Das geht ja gut los!«, rief Malte aus und erhob sich von seinem Platz. »Siehst du es auch?«

»Nein. Sollte ich?«

»Fahr deinen Rechner hoch! Wir haben einen Toten.«

Frank drückte den entsprechenden Knopf an seinem Computer, als Malte hinzufügte: »Du bleibst hier! Sag Sabine Bescheid. Ich fahre mit Maren und Stefan!«

Kaum war der Rechner hochgefahren, sah auch Frank die Meldung, die Malte aus seinem Stuhl gescheucht hatte. Er hörte vom Flur her Maltes Ruf, der die Tür des Nachbarbüros aufgerissen und »Mitkommen!« gebrüllt hatte. Frank griff zum Telefonhörer.

 

*

 

Malte lenkte den Wagen von der Duisburger Straße auf eine Zufahrt der Parkplätze. Er ließ sie links liegen und folgte dem Weg, an dessen Ende er schon das Zucken von Blaulicht sehen konnte. An der Weggabelung eingangs der Lichtung bremste er ab und parkte den Wagen quer neben dem Notarztwagen. Sofort kam den drei Beamten ein uniformierter Polizist entgegen.

»Guten Morgen«, sprach er Malte an, der den Gruß kurz erwiderte und seine beiden Begleiter vorstellte.

»Der Typ da ist mausetot«, fuhr er fort.

Mit einer Handbewegung stoppte Malte den Uniformierten.

»Einen Moment«, sagte er und ließ seinen Blick über die Szenerie schweifen.

Die Lichtung lag in diffusem Licht. Offensichtlich hatte sich dieser Montag noch nicht entschieden, ob er der Sonne oder den grauen Wolken zum Sieg verhelfen sollte. Die Szene war übersichtlich. Auf der mittleren Bank saß ein nackter Mann, auf einer anderen eine junge Frau und ein älterer Mann, bei denen der zweite Streifenbeamte stand. Die dreiköpfige Besatzung des Rettungswagens packte soeben ihre Sachen zusammen. Malte wunderte sich darüber, dass offensichtlich niemand von der Presse anwesend war. Oft waren die eher an einem solchen Ort als die Kripo.

»Haben wir Absperrband?«, fragte Malte, worauf Stefan Heine den Kofferraum des Wagens öffnete und eine Rolle zutage förderte.

»Das machst aber nicht du, sondern unsere beiden netten Kollegen hier«, wies er Stefan an und nickte dem Uniformierten freundlich zu.

»Klar«, erwiderte dieser und zeigte auf die Dreiergruppe auf und neben der linken Bank. »Die junge Frau heißt Silke Schaffer. Sie hat hier gejoggt und den Toten gefunden. Dann rief sie um Hilfe und hat uns angerufen. Der Mann daneben ist Gärtner. Er hat bei der Villa gearbeitet und ist dem Hilferuf gefolgt. Der andere ist mein Kollege Ibrahim Satik. Den Toten müssen Sie sich unbedingt ansehen.«

»Danke, das hatten wir vor. Sperren Sie jetzt bitte ab und lassen Sie Platz für den Rettungswagen, der ja wohl gleich wegfahren wird.«

Mit diesen Worten händigte Malte dem Polizisten die Rolle Absperrband aus und winkte Maren und Stefan, ihm zu folgen. Auf dem Weg zu den Bänken sprach er Maren an.

»Geht zu den Leuten und sprecht mit ihnen. Ich will kurz mit den Sanitätern reden.«

Die drei Männer hatten ihre Arbeit, die nur darin bestand festzustellen, dass der Tote tot war, natürlich längst beendet. Auf dem Weg zu ihnen musste Malte an der Bank vorbei, auf der der Tote saß. Er blieb stehen und betrachtete die Leiche. Toter geht es nicht, dachte er und registrierte die Schnitzereien an dem Körper. Er schüttelte den Kopf und begrüßte die Sanitäter, die sich mit ihrem ganzen Kram gerade auf den Weg zu ihrem Wagen machen wollten.

»Hallo. Können Sie mir etwas zu ihm sagen?«

Malte deutete mit einer Kopfbewegung in die Richtung des Toten. Der älteste der drei Männer antwortete.

»Nicht viel. Er ist tot – offensichtlich auch schon länger, denn er ist sehr kalt.«

»Mehr nicht?«

»Ach, wissen Sie, ich möchte nicht rumspekulieren. Wir können hier nichts mehr tun. Überlassen Sie das Ihrem Rechtsmediziner. Der wird wohl richtig Spaß an ihm haben.«

Malte hob die Augenbrauen.

»Sicher. Was ist mit den Wunden?«

»Ja, merkwürdig, nicht? Die scheinen sorgfältig gereinigt worden zu sein. Man kann jedenfalls kein ausgetretenes Blut sehen. Überhaupt – ach, kommen Sie mal mit! Ihr könnt die Sachen schon mal zum Wagen bringen!«

Mit dieser Anweisung an seine beiden Kollegen zog er Malte am Unterarm haltend zu dem Toten hin.

»Schnuppern Sie mal!«, forderte er Malte auf, der sich für diesen Montagmorgen anderes gewünscht hätte, als an einem Toten zu schnuppern. Trotzdem tat er es.

»Riecht merkwürdig, ein bisschen wie Krankenhaus.«

»Ja«, pflichtete der Sanitäter ihm bei. »Das meine ich. Es scheint, dass der Mann mit einem Desinfektionsmittel gewaschen worden ist. Aber, wie gesagt ...«

Er unterbrach seinen Satz, weil der Wagen der Spurensicherung gerade eintraf.

»Alles Gute«, verabschiedete sich der Sanitäter, hob die Hand und ging.

Der Wagen der KTU schob sich an den Rand des Weges, so dass der Rettungswagen bei der Ausfahrt keine Probleme bekommen konnte. Sabine und ihre beiden Kollegen stiegen aus, sammelten ihre Utensilien aus dem Laderaum und kamen im Gänsemarsch auf Malte zu.

»Hallo, Malte«, grüßte Sabine und drückte ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. Dann betrachtete sie das Opfer. »Mein Gott! Muss sowas an einem Montagmorgen sein? Kann das nicht an einem Mittwoch oder so passieren, wenn man sowieso schon die Schnauze voll hat?«

Schon war Malte nicht mehr von Interesse. Sie gab ihren Kollegen, die sich Latexhandschuhe übergestreift hatten, Anweisungen und begann mit einer akribischen Untersuchung des Fundortes. Malte gesellte sich zu der kleinen Gruppe an der Bank.

»Sollen wir Sie nach Hause bringen?«

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

»Nein, danke. Es geht schon wieder. Ich habe es nicht weit bis nach Hause.«

Malte nickte Silke Schaffer freundlich zu.

»Ich kann gehen?«, fragte sie und erhob sich.

Malte bejahte ihre Frage.

»Haben wir Ihre Personalien?«

»Natürlich!«, entrüstete sich Maren.

»Okay, melden Sie sich, wenn ...«

»... Ihnen etwas einfällt. Ja, mache ich.«

Sie hob in einer fast militärischen Geste ihre Hand zur Stirn, verfiel in einen lockeren Trab und lief los.

»Haben Sie hier geharkt?«, wandte sich Malte an den Gärtner, da ihm die Spuren einer Harke rund um die Bänke aufgefallen waren.

»Nein! Wofür halten Sie mich?«, wehrte sich der kleine Mann, der mit seiner blauen Latzhose und dem grauen Rollkragenpulli das typische Gärtnerbild abgab. Malte wusste, dass Gärtner schon mal harkten. Auch der Gärtner wurde entlassen. Im Gegensatz zu Silke Schaffer schlurfte er über das Rasenstück Richtung Villa davon, die etwa zweihundert Meter entfernt in dem Waldstück lag.

»Und?«, fragte Malte.

»Das war nicht besonders ergiebig. Frau Schaffer hat, wie jeden Morgen, ihre Joggingrunde gedreht. Nachdem sie den Toten gefunden hat, schrie sie um Hilfe und rief die Polizei. Auf ihren Hilferuf hin ist der Gärtner hier hingelaufen und hat Frau Schaffer seelisch zur Seite gestanden. Er ist bei der Villa tätig, kennt den Toten ebenso wenig wie Frau Schaffer und hat auch nichts bemerkt. Er hat gegen sieben Uhr mit seiner Gartenarbeit begonnen, ist allerdings nicht von dieser Seite aus zur Villa gegangen. Frau Schaffer kam hier gegen acht an. Der Notruf ging um 8:06 Uhr ein. Sie hat den Toten kurz an der Schulter berührt. Wie lange er hier schon sitzt, wissen wir nicht.«

Malte hatte Stefan Heines Bericht, der durch Marens Kopfnicken begleitet wurde, aufmerksam zugehört. Nun trat Sabine zu ihnen.

»Das ist wirklich sonderbar«, begann sie. »Hier gibt es buchstäblich nichts. Rundherum haben wir nichts gefunden, selbst in den Müllbehältern nicht. Offensichtlich ist um die Bank herum fein säuberlich geharkt worden. In dem Geharkten gibt es nur vier Spuren, von der kleinen Frau, von Malte und den beiden Sanitätern.«

Sabine wurde von Motorengeräusch unterbrochen. Unmittelbar vor dem Absperrband kam ein Leichenwagen zum Stehen, dem zwei schwarze Gestalten entstiegen, von denen eine sich auf die beiden uniformierten Polizisten zubewegte und die andere die Heckklappe öffnete.

 

*

 

Knapp zwei Stunden später waren Malte, Frank, Maren und Stefan Heine im Büro versammelt. Maren nippte an einem Kaffee, Malte sah ihr dabei zu, Stefan lehnte mit dem Rücken an der Tür und betrachtete interessiert seine Fingernägel. Frank beendete soeben ein Telefongespräch.

»Alles klar. Danke. Ja, heute Nachmittag ist in Ordnung. Danke nochmal. Bis dann.«

Er drückte auf eine Taste und steckte das Telefon auf die Station.

»Jüssen meint, er kümmert sich heute Nachmittag noch um die Leiche.«

Dr. Manfred Jüssen war Gerichtsmediziner, der das Team schon bei so manchen Ermittlungen unterstützt hatte. Nach der Neuorganisation der Kreispolizeibehörde Essen/Mülheim wollte es der Zufall, dass am Rechtsmedizinischen Institut der Uniklinik Essen eine Stelle in der Pathologie ausgeschrieben wurde. Dr. Jüssen hatte sich mit Erfolg darauf beworben. Seine Kollegin Dr. Renate Heidrich hatte ihn »mutwillig verlassen« – wie er sich ausdrückte. Sie hatte ihre Berufslaufbahn beendet und war zu ihrer Tochter nach Koblenz gezogen.

»Gut«, sagte Malte. »Wir müssten bis dahin zusehen, dass wir das Opfer identifizieren. Sabine hat tatsächlich nichts gefunden. Keine Kleidung, keine Papiere.«

»Gar nichts?«, wunderte sich Frank. »Der Tote ist doch nicht von alleine auf diese Bank geraten. Es muss doch da was geben! Reifenspuren oder so.«

Malte winkte ab.

»Sabine hat mit ihrem Team in einem Umkreis von hundert Metern alles durchkämmt. Sie hat zwei Papierkörbe geleert, in denen sich nichts Verwertbares finden ließ. Reifenspuren hätte sie erst auf dem Parkplatz nehmen können, dort allerdings Dutzende. Der Weg zwischen den Bänken war geharkt. Es fand sich kein Hölzchen, kein Abdruck, noch nicht einmal eine Zigarettenkippe. Wir waren die Einzigen, die Spuren hinterlassen haben!«

»Wir müssen vielleicht mal bei der Vermisstenstelle nachfragen«, meldete sich nun Maren zu Wort.

Frank zeigte auf seinen Monitor.

»Ich habe mir die Dateien schon angesehen. Da passt nichts. Allerdings hat Bernd mir erzählt, dass er eine Meldung von der Wache am Sonntag herein bekommen hat. Eine Frau vermisst seit Samstagabend ihren Verlobten. Sie waren zum Essen verabredet und er ist nicht erschienen. Die Beamten haben sich verständlicherweise geweigert, eine Anzeige aufzunehmen, aber es gibt diese kurze Nachricht.«

Stefan lachte auf.

»Da ist wohl jemand in Panik geraten.«

»Hast du einen Namen zu der Frau?«, erkundigte sich Malte, der den Frohsinn seines Kollegen nicht teilen konnte.

Frank nickte und schob Malte einen Zettel über den Schreibtisch.

»Name und Adresse sogar.«

»Ich fahre mit Maren hin«, entschied Malte.

Er schnappte sich den Zettel und verließ das Büro, nicht ohne vorher gentlemanlike Maren den Vortritt gelassen zu haben.

4

Die Frau, die auf Marens Klingeln hin die Tür öffnete, schien eben erst dem Bett entstiegen zu sein. Ihre dunkelblonden Haare waren zerzaust und die blauen Augen blinzelten etwas unsicher, aber erwartungsvoll, aus einem hübschen Gesicht ins Licht. Sie trug ein hellblaues übergroßes T-Shirt, das bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte, und einen großzügigen Blick auf ihre wohlgeformten Beine erlaubte. Sie war barfuß. Als sie die beiden Besucher sah, verwandelte sich ihr hoffnungsvoller Blick in Enttäuschung. Sie stutzte kurz und ging hinter der Tür in Deckung.

»Wer sind Sie?«

Die leicht näselnde Stimme der jungen Frau und ihre Augenpartie verrieten Maren, dass sie geweint hatte. Maren übernahm die Vorstellung.

»Frau Wohlert?«, fragte sie, worauf die junge Frau nickte. »Wir sind von der Kriminalpolizei und würden Sie gerne sprechen. Ist das möglich?«

Mit der Reaktion der Frau hatten beide nicht gerechnet. Ihr entfuhr ein Schrei, sie sank in sich zusammen, glitt mit den Händen und der angelehnten Stirn an der Tür hinab, bis sie schließlich, wie ein Embryo gekrümmt, auf dem Boden lag und schluchzte.

»Er ist tot, nicht wahr? Sie haben ihn gefunden und er ist tot!«, wimmerte sie.

Maren trat durch die immer noch offen stehende Tür und ging neben Kristine Wohlert in die Hocke. Ruhig redete sie auf sie ein.

»Frau Wohlert, wir wollen nur mit Ihnen reden. Kommen Sie. Stehen Sie bitte auf. Ich helfe Ihnen hoch.«

Willenlos ließ sich die Frau stützen und ins Wohnungsinnere begleiten. Schließlich trat auch Malte ein, schloss die Tür und folgte den beiden. Sie kamen in ein recht großes Wohnzimmer, an dessen linker Wand eine Sitzgarnitur mit einem Sofa stand, auf dem Maren die verzweifelte Frau platzierte. Da ihre Verfassung es im Augenblick nicht zuließ, auf eine angemessene Sitzposition zu achten, griff Maren eine auf dem Sofa liegende Decke und bedeckte den Unterleib und die Beine der Frau. Maren setzte sich neben sie und legte den Arm tröstend um ihre Schulter.

»Frau Wohlert, können wir etwas für Sie tun?«, versuchte Maren, Kristine Wohlerts Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Möchten Sie ein Glas Wasser? Sollen wir jemanden anrufen?«

Bis jetzt hatte die junge Frau völlig apathisch gewirkt. Doch nun spannte sich ihr Körper, ihr Kopf fuhr herum, und sie blickte Maren zornig ins Gesicht. Mit beiden Händen stieß sie Maren von sich, warf die Decke ab und sprang auf, um auf Malte zuzustürmen. Unmittelbar vor ihm blieb sie stehen und streckte ihm den Zeigefinger entgegen.

»Sie sind schuld! Ich habe Ihnen am Sonntag gesagt, dass etwas Schlimmes passieren würde, aber Sie haben mir nicht geglaubt!«

Sie wirbelte auf einer Ferse herum und stürmte in ein angrenzendes Zimmer, wo man sie rumoren hörte. Malte und Maren blickten sich konsterniert an, doch die Frau zeterte weiter.

»Diesen Polizisten war es wichtiger, einen ruhigen Sonntag zu verleben! Ich habe sie gestört! Ich war ja nur eine hysterische Alte, der der Mann weggelaufen war! Fuck! Ich werde Sie anzeigen! Wegen unterlassener Hilfestellung oder wie das verfickt nochmal heißt! Damit kommen Sie mir nicht so einfach davon! Die Polizei, dein Freund und Helfer! Ha! Ich lache mich kaputt!«

Kristine Wohlert kehrte mit einer Jeanshose und einem T-Shirt bekleidet ins Wohnzimmer zurück. Ihre Haare hatte sie ebenfalls geordnet. Eben wollte sie ihre Schimpftirade fortsetzen, als Maren vom Sofa aufstand, sie mit beiden Händen an den Schultern fasste und kurz schüttelte.

»Frau Wohlert! Hören Sie uns bitte zu! Wir wissen überhaupt nichts. Wir haben nur einen Zettel mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse. Wir sind hier, um mit Ihnen zu reden!«

»Er ist nicht tot?«, stammelte die junge Frau, die eben noch wie eine Furie gewirkt hatte, jetzt aber wieder die Schultern hängen ließ und ein Häufchen Elend verkörperte.

Sowas bekommt man selten geboten, dachte Malte und löste sich aus seiner Erstarrung. Er setzte sich auf einen der Sessel. Die junge Frau begann erneut zu weinen und sank auf die nächste Sitzgelegenheit. Maren nahm ihr gegenüber Platz. Schließlich griff Kristine Wohlert in ihrer Jeanstasche nach einem Taschentuch, schnäuzte sich und blickte zwischen Maren und Malte hin und her.

»Ich habe heute Nacht kein Auge zugetan«, erklärte sie, von kurzen Schluchzern unterbrochen. »Ich bin völlig fertig. Thorsten ist einfach wie vom Erdboden verschluckt!« Mit einer hilflosen Geste unterstrich sie ihre Worte. »Ich habe die halbe Nacht telefoniert. Niemand hat ihn gesehen oder auch nur mit ihm gesprochen. Keine SMS, keine E-Mail, weder bei unseren Bekannten noch bei seinen Eltern ...«

»Vielleicht ist er irgendwo versackt, liegt bei sich zu Hause im Bett und schläft seinen Rausch aus«, wagte Malte einzuwerfen.

Sofort nahmen die Augen der jungen Frau wieder diesen gefährlichen Ausdruck an.

»Thorsten? Versackt? Rausch? Sie kennen Thorsten nicht!«, fuhr sie Malte an, der die Hände ausbreitete und die Schultern hob.

»Er wäre nicht der Erste.«

Kristine Wohlert beachtete den Einwurf nicht weiter.

»Außerdem war ich gestern in seiner Wohnung. Das Bett ist unberührt. Er ist einfach weg, nicht mehr da, verschwunden.«

»Sie waren in seiner Wohnung?«, hakte Maren nach. Prompt folgte die Erklärung.

»Ich habe einen Schlüssel. Er hat auch einen von meiner Wohnung. Wir wollen im Sommer heiraten.«

Wieder begann die junge Frau zu schluchzen, als gäbe es kein Morgen. Maren und Malte ließen sie gewähren. Schließlich schob ihr Maren ein Paket Papiertaschentücher hin, das sie dankbar ergriff.

»Können Sie uns sagen, was genau passiert ist?«, fragte Malte vorsichtig, als sich die Frau wieder gefangen hatte. Während sie mit ihren Händen das Taschentuch zu einer kleinen Kugel formte, begann sie stockend zu erzählen.

»Thorsten Stemmer und ich sind verlobt. Da wir am Samstag unseren zweiten Jahrestag hatten, wollten wir zusammen essen gehen. Gegen halb sechs habe ich zuletzt mit ihm telefoniert. Er wollte mich abholen. Wir hatten nämlich für neunzehn Uhr einen Tisch im Tannenhof reserviert. Er kam nicht. Also habe ich versucht ihn anzurufen, bestimmt zehn Mal, aber ohne Erfolg! Ich bin alleine zum Tannenhof gefahren, habe mich an unseren Tisch gesetzt, einen Wein getrunken und gewartet. Er kam nicht. Dann bin ich wieder nach Hause, habe immer wieder versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen – nichts. Schließlich war ich sauer auf ihn, habe eine Flasche Wein aufgemacht und sie fast leer getrunken. Dann bin ich eingeschlafen. Gegen Mitternacht wachte ich auf, habe nochmal versucht, ihn zu erreichen – wieder nichts. Nur die Mailbox, aber da hatte ich ihm schon direkt am Anfang draufgesprochen. Er hat nicht zurückgerufen und sich nicht gemeldet.«

»Sie waren sauer auf ihn?«, griff Maren eine Formulierung aus Kristine Wohlerts Bericht auf. »Ist so etwas schon einmal passiert?«

»Nein! Nie!«

»Wieso waren Sie dann sauer? Hätten Sie sich nicht vielmehr Sorgen machen müssen?«, wagte Malte eine erneute Zwischenfrage. Wieder traf ihn ein vernichtender Blick.

»Erzählen Sie mir nichts von Sorgenmachen!«, wies die junge Frau ihn zurecht. »Haben Sie schon einmal zwei Nächte kaum geschlafen vor lauter Sorgen?«

Malte antwortete nicht, dachte aber an die schlaflosen Nächte in den Wochen, nachdem Frank über den Haufen geschossen worden war und um sein Leben kämpfte.

»Weiter«, forderte er stattdessen Kristine Wohlert auf, mit ihrer Erzählung fortzufahren.

»Da gibt es kein Weiter«, blaffte sie. »Ich habe mir am Sonntagmorgen den Schlüssel geschnappt, bin in seine Wohnung und habe ihn nicht angetroffen. Daraufhin telefonierte ich unseren Bekanntenkreis ab. Ich rief auch seine Eltern an. Niemand ahnte, wo er sein könnte. Sein Vater riet mir aber, zur Polizei zu gehen, was ich dann auch tat, wie Sie ja wissen. Niemals im Leben habe ich mich so gedemütigt gefühlt!«

»Das tut uns leid«, gab Maren zerknirscht zu. »Haben Sie ein Foto von Ihrem Verlobten?«

»Natürlich! Wo denken Sie hin?«, entrüstete sich die junge Frau. Sie stand auf, öffnete eine Schublade im Wohnzimmerschrank und förderte ein Paket Fotos zutage. Sie blieb stehen und blätterte die Bilder durch. Sofort wurden ihre Augen wieder feucht. Malte hielt ihr abwartend die offene Hand entgegen, worauf sie ihm zwei ausgesuchte Fotos überreichte. Eines der Bilder zeigte einen lachenden jungen Mann im Porträt, das andere ein fröhliches junges Paar in inniger Umarmung: Thorsten Stemmer und Kristine Wohlert. Während sich die junge Frau erneut schnäuzte, suchte Malte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kurt Jahn-Nottebohm
Bildmaterialien: Ulrike Nottebohm (Cover)
Lektorat: Christine Klingbeil, Ulrike Nottebohm
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6490-0

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