Frank Wallerts erster Fall
Kurt Jahn-Nottebohm
Krimi
Steffie hatte Ferien. Sie saß in ihrem Zimmer am Schreibtisch. Es war Ostersamstag und sie beendete eben ihren Eintrag in ihr Tagebuch. Die Dreizehnjährige blätterte zurück, um die letzten vier Seiten, die sie heute hinzugefügt hatte, noch einmal zu lesen.
Das Tagebuchschreiben hatte sie vor etwa einem Jahr begonnen. Eine Freundin hatte ihr erzählt, dass sie ein Tagebuch führte. Auf dem Weg von der Schule nach Hause kaufte sich Steffie damals eine schwarze Kladde mit roten Ecken und entschloss sich spontan, ab sofort Tagebuch zu führen. Sie schrieb alles hinein, was sie bewegte. Mittlerweile lagen drei vollgeschriebene Kladden im linken Schließfach ihres Schreibtisches. Die Vierte, die auch schon zur Hälfte gefüllt war, nahm Steffie jetzt von der Schreibtischplatte. Sie rollte mit ihrem Stuhl ein wenig nach hinten, lehnte sich zurück, legte ihre Beine auf den Schreibtisch und begann zu lesen.
Ihre Eltern hatten von Steffies Tagebuchschreiben – wie von so manchen anderen Dingen – keine Ahnung. Sie waren nur sehr selten zu Hause. Oft gingen sie aus dem Haus, wenn sie noch gar nicht aufgestanden war, und kamen irgendwann am Abend wieder zurück. Steffies Vater war in einem großen Unternehmen beschäftigt, bei dem in den letzten Jahren mehrere Tausend Mitarbeiter entlassen worden waren. Er hatte sich seitdem stark verändert. Während es früher zum täglichen Ritual gehörte, dass Steffie mit ihren Eltern morgens frühstückte und abends eine warme Mahlzeit zubereitet wurde, die man dann auch gemeinsam einnahm, wirkte ihr Vater heute rastlos und verbrachte die meiste Zeit, in der er zu Hause war, in seinem Arbeitszimmer. Steffies Mutter hatte sich vor drei Jahren entschlossen, wieder in ihrem ursprünglichen Beruf zu arbeiten. Sie meinte, es müsse sein, denn wenn ihr Mann eines Tages seinen Arbeitsplatz verlieren würde, gäbe es wenigstens noch jemanden, der für das Einkommen der Familie sorgen könnte. So arbeiteten die beiden sehr viel – immer in der Angst, die Nächsten zu sein, die entlassen werden. Ihr Vater war im Augenblick auf einem Weiterbildungs-Seminar in Koblenz. Ihre Mutter hatte eigentlich heute frei, war aber mit einer Kollegin auf eine Messe in Düsseldorf gefahren.
Es war zwanzig vor elf, als Steffie die Kladde schloss und recht zufrieden in das kleine Schrankfach im Schreibtisch legte. Sie griff tief in ihre rechte Jeanstasche und förderte einen kleinen Schlüssel zutage, mit dem sie die Tür abschloss, bevor sie ihn wieder in ihrer Jeanstasche verschwinden ließ.
So, und jetzt?, dachte sie.
Sie stand von ihrem Stuhl auf und räkelte sich. Für heute Nachmittag hatte sie sich mit Sabrina und Trixi im Forum verabredet. Vielleicht würden sie ins Kino gehen. Eigentlich könnte sie ja schon mal hingehen. Im Forum war immer was los. Vielleicht würde sie ja auch ein paar Leute aus ihrer Schule treffen.
Notfalls setze ich mich ins Eiscafé und guck mir die Leute an. Sie nahm die Jacke von der Garderobe und verließ die menschenleere Wohnung.
Es war der Beginn eines jener Tage, an dem junge Frauen vor Schaufensterscheiben den Sitz ihrer Jeans kritisch beäugten oder in Autorückspiegeln ihr Make-up überprüften. Bei Zufriedenheit mit dem Gesehenen testeten sie ihre Wirkung lächelnd an den jungen Männern, die ihnen begegneten. Auch diesen reichte zum ersten Mal in diesem Jahr ein T-Shirt, denn es war warm geworden.
In der Luft lag – sogar in dieser Ruhrgebietsstadt – eine leicht erotische Stimmung. Der Winter war lang und wirklich kalt gewesen und auch in diesen Breiten hatte es reichlich Schnee gegeben. In der letzten Woche noch waren die Temperaturen nachts weit unter den Gefrierpunkt gesunken, aber heute, am 3. April, atmete das Ruhrgebiet auf. Die Sonne war wohl der Meinung, etwas nachholen zu müssen und so schien sie von einem strahlend blauen Himmel auf Menschen herab, die die Erinnerungen an die dunkle Jahreszeit hinter sich ließen. In ihnen wuchs offensichtlich eine angenehme Ahnung von dem heran, was Frühling und Sommer bedeuteten.
Sie stand auf dem Balkon ihrer Drei-Zimmer-Wohnung in Saarn und schaute einer Hummel zu, die scheinbar noch schlaftrunken zwischen den ersten Tulpen und Narzissen hin- und herschaukelte. Obwohl sie gut fünf Meter entfernt war, konnte sie das Brummen des Insekts deutlich hören. Außerdem war der kleine Garten gefüllt von Vogelgezwitscher und erstem Grün, das wohl sehnsüchtig auf diesen Tag gewartet hatte, denn man konnte fast dabei zusehen, wie es mehr und mehr wurde: am Apfelbaum wurden erste Blattansätze sichtbar, auch der Rasen – der nicht wirklich diese Bezeichnung verdiente – hatte eine sattere Farbe als noch vor einigen Tagen.
Hinter ihr schellte das Telefon. Sollte sie hineingehen und abheben? Noch hatte sie keine Lust dazu, denn sie war vor etwa einer Stunde erst aufgestanden. Es war neun Uhr und nichts trieb sie zu irgendeiner Form von Eile. Sie hatte seit vorgestern eine Woche Urlaub. Außerdem war der Anrufbeantworter eingeschaltet. Jörg lag noch im Bett, würde aber jeden Augenblick aufstehen und sich um das gemeinsame Frühstück kümmern. Das Telefon war nun still, aber ohne dass sich der Anrufbeantworter bemerkbar gemacht hätte. Hatte sie ihn doch nicht eingeschaltet? Sie wollte sich gerade umdrehen, um das zu überprüfen, als sie aus dem Inneren der Wohnung ein Geräusch hörte. Lächelnd hielt sie inne und erwartete, dass Jörg zu ihr treten und ihr mit einem Kuss in den Nacken einen guten Morgen wünschen würde.
Das Messer durchschnitt ihre Kehle um 9 Uhr und 4 Minuten. In ihrem Gesicht machte sich Verblüffung breit. Als sich der Arm, der um ihre linke Taille gelegt war, zurückzog, griff sie mit beiden Händen an ihren Hals, aus dem das Blut sprudelte. Sie beugte sich nach vorne und sackte gleichzeitig in sich zusammen. Ihr Oberkörper drehte sich über die Balkonbrüstung und sie fiel. Sie starb zwischen den ersten Krokussen des Jahres um 9 Uhr und 5 Minuten.
An diesem Donnerstag hatte er nicht die geringste Lust auf sein Büro im Präsidium. Trotzdem lenkte er seinen Wagen auf den Dienstparkplatz auf der Von-Bock-Straße. Er zog den Zündschlüssel ab, nahm seine Jacke vom Beifahrersitz und stieg aus. Er griff in die rechte Tasche und förderte eine angebrochene Schachtel Zigaretten zu Tage, die er mit einer raschen Bewegung in den Wagen warf. Schließlich hatte er gestern, an seinem ersten freien Tag seit sieben Wochen, mit dem Rauchen aufgehört. Frank schlug die Wagentür zu und registrierte beim Umdrehen, dass das Seitenfenster noch geöffnet war. Also öffnete er die Tür wieder, schloss das Fenster und schlug die Tür erneut zu.
Er betrat das Gebäude und ihm kam in den Sinn, einfach umzukehren und aus diesem Tag den zweiten freien Tag seit sieben Wochen zu machen. Die Stufen nahm er im Laufschritt. Vor seinem Büro zögerte er kurz, öffnete die Tür aber dann mit Schwung. Die Tür traf die Kaffeetasse in der Hand von Malte und ihr Inhalt verteilte sich relativ gleichmäßig über sein Hemd, das über dem Bauch etwas gespannt war. Sein Partner schaute ihn erst entgeistert an. Dann vermischten sich Begrüßung und Beschimpfung.
»Guten Morgen, du Idiot! Kannst du nicht deinen Dienst anfangen wie jeder andere hier, schlecht gelaunt und langsam? Was ist in dich gefahren?«
Malte hatte die Tasse auf dem Schreibtisch abgestellt und nestelte an den Knöpfen seines Hemdes herum, während er eilig Franks Büro verließ und den Gang entlang lief. Frank warf seine Jacke über die Lehne des Besucherstuhls und setzte sich an seinen Schreibtisch. Einen Tag war er nicht im Büro gewesen und trotzdem stapelten sich fünf Aktenordner und ein paar Schriftstücke auf der Arbeitsfläche. Er legte alles zur Seite und griff nach dem Telefon mit der Idee im Kopf, bei Ina anzurufen und ihr einen guten Morgen zu wünschen. Gestern hatten beide den Tag miteinander verbracht und es hatte gut getan zu merken, dass sein Job die Beziehung wohl nicht erstickt hat. Obwohl Ina und er zusammenwohnten, hatten sie nicht immer die Zeit füreinander, die eine Lebensgemeinschaft dieser Art seiner Meinung nach benötigte. Sie arbeitete als Diplompädagogin in einer städtischen Einrichtung des Jugendamtes und musste – wie er – arbeiten, wenn es etwas zu tun gab und das war praktisch ständig der Fall, denn wie bei der Polizei war auch die Arbeit beim Jugendamt zum großen Teil deshalb so zeitintensiv, weil in diesen Bereichen so wenig Leute eingestellt wurden und sich so jede Menge Arbeit auf die Schultern von Wenigen verteilte. Auf den gestrigen gemeinsamen freien Tag hatten sie lange hingearbeitet. Es war gar nicht so einfach gewesen. Zuerst sollte es nämlich der kommende Freitag sein. Dann hätte die Chance bestanden, dass beide eventuell bereits nach Dienstende am heutigen Donnerstag in ein verlängertes Wochenende fahren konnten. Aber Malte hatte schon einen Urlaubsantrag für Freitag eingereicht und ihn genehmigt bekommen und so war Frank auf den Mittwoch ausgewichen. Es war gut so. Ina und Frank hatten den Tag genossen. Sie waren nach einem ausgiebigen Frühstück im Bett, bei dem sie auch voneinander genascht hatten, auf ihre Räder gestiegen und an der Ruhr entlang bis nach Kettwig gefahren. Das Wetter war herrlich gewesen und am Abend, als sie im Biergarten des Lokals im Ringlokschuppen saßen, spürten beide leichten Sonnenbrand im Gesicht. In der Nacht waren sie sich nah wie lange nicht mehr, und als Frank morgens aufwachte, lag Ina mit ihrem Kopf auf seiner Brust. Es war ihm schwergefallen aufzustehen.
Er hatte gerade die ersten beiden Ziffern ihrer Telefonnummer eingetippt, als die Tür geöffnet wurde und Malte eintrat. Er trug nun ein hellblaues Hemd mit Stehkragen, das ihn irgendwie gesünder und auch wieder freundlicher aussehen ließ. Frank legte auf. Wortlos nahm Malte seine Tasse von der Schreibtischecke, die Glaskanne der Kaffeemaschine vom Sideboard gegenüber und schenkte sich einen neuen Kaffee ein. Er goss ein wenig Milch nach und rührte um. Dabei schaute er Frank an, grinste und sagte:
»Scheinst ja gestern eine Menge Elan getankt zu haben.«
»Wieso versteckst du dich auch hinter der Tür?«, entgegnete er und grinste zurück.
»War’s schön gestern?«
»Und wie. Ich habe mich echt losreißen müssen heute Morgen.«
»Wie geht’s Ina?«
»Gut. Manchmal wundert mich das bei dem Stress, den sie mit ihrer Arbeit hat. Irgendwie scheinen heute alle Kids am Rad zu drehen.«
»Das haben unsere Eltern damals von uns auch gesagt.«
»Das war anders«, erwiderte Frank. »Die Kids heute scheinen irgendwie anders zu sein, alleine, trübsinnig ...«
Malte setzte sich in den Besucherstuhl, aber nicht ohne Franks Jacke aufzunehmen und sie auf kürzestem Weg auf das Sideboard zu befördern.
»Ich glaube, dass das Problem bei den Eltern liegt. Mein Kurzer macht noch einen recht normalen Eindruck. Der ist ja auch erst zwölf.«
»Das sind auch die meisten Kinder, die Ina zu betreuen hat. Die sind alle höchstens vierzehn.«
Frank griff in seine Schublade und holte eine Packung Zigaretten hervor. Er legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Dann stand er auf und nahm sich auch einen Kaffee.
»Wie war’s bei euch gestern?«, fragte er Malte.
»Ruhig. Habe ein paar Schreibtischarbeiten erledigt. Ich habe dir das übrigens alles hingelegt zum Gegenlesen und Abzeichnen. Am Nachmittag haben wir dann noch die Kollegen von der Drogenfahndung unterstützt. Die haben jemanden kassiert und brauchten Fahrer.«
Frank schüttelte den Kopf, als er sich wieder setzte. Er nahm eine Zigarette aus der Packung und steckte sie sich zwischen die Lippen.
»Jetzt ist es schon so weit, dass unser Kommissariat Fahrer für die Drogenfahnder spielt.«
»Wir waren sowieso nur zu dritt gestern. Gaby und Reinhard hatten auch frei und Rolf hat sich krankgemeldet. Gestern hätten Mörder sozusagen freie Bahn gehabt.«
Frank schaute auf die Uhr. Es war mittlerweile fünf vor halb zehn.
»Mit wem dürfen wir denn heute rechnen?«, fragte Frank mit süffisantem Unterton.
»Heute müssten eigentlich alle da sein.«
»Gut. Dann lass uns rüber gehen.«
Frank griff zu seiner Jacke und warf die Zigarette wieder auf den Schreibtisch. Zusammen gingen Frank und Malte in Richtung Konferenzraum, in dem für halb zehn eine Dienstbesprechung angesetzt war.
***
Niemand öffnete. Wahrscheinlich war sie bei Herrn Klettner. Claudia hatte ja Urlaub. Die Frau stand bereits vor der Wohnungstür und kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Sie führte ihn ins Schloss, drehte ihn und öffnete die Tür. Am Ende des Flures sah sie sich in einem großen Spiegel selbst eintreten. Sie drehte sich nach links, um die Tür zu schließen. Dabei fiel ihr Blick durch die offen stehende Schlafzimmertür. Gleichzeitig klappte die Tür ins Schloss und sie ließ Schlüssel und Tasche fallen.
»Nein!«, presste sie hervor.
Beide Hände fuhren vor ihren Mund. Das Bett war blutgetränkt und auf ihm lag – blutüberströmt – Jörg Klettner. Seine Augen waren geöffnet, aber ihr war sofort klar, dass er nicht wach, sondern tot war.
»Claudia«, flüsterte sie, obwohl es eigentlich ein Schrei werden sollte. Sie lief los und ihr Flüstern steigerte sich zu einem gellenden Schrei: »Claudia!«
Das Badezimmer – leer. Das Arbeitszimmer ebenso. Zurück – ein Blick in die Küche – leer. Das Wohnzimmer – zum Telefon! Sie riss den Hörer von der Gabel und erblickte die offen stehende Balkontür. Mit zitternden Fingern versuchte sie, die Nummerntasten zu treffen – und hielt entsetzt inne. Auf der Balkonbrüstung sah sie dunkle Flecken. Sie legte wieder auf und betrat den Balkon. Es waren viele Flecken – dunkelrot, fast schwarz: Blut. Sie schaute sich um. Vor ihr lag einer von Claudias Badeschlappen auf dem Boden. Sie beugte sich über die Brüstung und blickte nach unten. Wieder schlug sie die Hände vor den Mund. Etwa drei Meter unter ihr lag Claudia in einem Beet. Sie taumelte zurück und musste sich an der Balkontür Halt verschaffen. Die Tränen liefen ihr über das entsetze Gesicht. Wie in Zeitlupe ging sie zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei.
***
Der Gang vor dem Konferenzraum füllte sich, als hätten alle hinter ihren Türen auf der Lauer gelegen, um zu sehen, wann Frank und Malte sich dem Raum nähern würden. Frank öffnete die Tür, und während sich ein achtstimmiges Begrüßungsgemurmel erhob, betraten sie nacheinander den Raum, der schon so häufig Ort manch einer fruchtbaren Auseinandersetzung, aber auch polemischer Ausbrüche war, wenn niemand mehr wegen hoffnungsloser Übermüdung klar denken konnte.
Außer Frank und Malte trugen die sechs Kolleginnen und Kollegen T-Shirts und Jeans: die Uniform, die sich nur durch das Firmenschild der Jeans und den Aufdruck auf den T-Shirts unterschied. Durch ein kleines Lächeln, das er mit Malte austauschte, zeigte Frank seine Zufriedenheit mit diesem optischen Eindruck. Alle wirkten aufgeräumt und frisch. Bis sie ihre Plätze eingenommen hatten, waren helle Stimmen, Gelächter und Geplapper die vorherrschenden Geräusche. Frank blieb stehen.
»Guten Morgen. Schön euch so fröhlich zu sehen.«
»Ist das denn nicht ein toller Tag?«, erwiderte Maren.
Sie war mit ihren 25 Jahren die Jüngste im Team.
»Bis jetzt ja«, gab Frank zurück. »Wollen wir hoffen, dass es so bleibt. Wir wollen unsere Energie nicht nutzlos verpuffen lassen und möglichst schnell an die Arbeit gehen.«
Er öffnete einen bereitliegenden Hefter, blätterte kurz in den Unterlagen und fuhr fort.
»Reinhard, du denkst bitte daran, um 11:15 Uhr beim Gericht in Duisburg zu sein. Du bist Zeuge im Prozess gegen Ibrahim Celik wegen der Kirmessache vom letzten Jahr.«
»Schon klar!«, sagte Reinhard.
Frank sah mit Freude, dass Reinhard schon wieder voll konzentriert bei der Sache war. Wenn es hart auf hart kam, war er der Kollege, auf den er sich hinsichtlich Sachlichkeit und Logik voll verlassen konnte. Häufig hatten sie sich in scheinbar verfahrenen Situationen in Franks Büro zurückgezogen. In diesen Gesprächen hatte Reinhard immer den roten Faden in der Hand behalten. Gemeinsam hatten sie ihn weiter gesponnen, bis sich ein neuer Ansatzpunkt für ihre Arbeit ergab. Frank wollte auf Reinhard nicht mehr verzichten, auch wenn es anfangs zwischen beiden etwas schwierig war. Gerade wollte Frank Gaby ansprechen, als die Tür aufflog und ein Uniformierter in den Raum stürmte.
»Doppelmord in Saarn. Gerade gemeldet. Langenfeldstraße 14. Ihr müsst sofort los. Die Spurensicherung ist schon unterwegs.«
So schnell, wie er erschienen war, war der Beamte auch wieder verschwunden. Die Tür fiel von alleine ins Schloss.
»Siehst du?«, bemerkte Frank mit einem Seitenblick auf Maren. Er schaute auf die Uhr. Es war 9:43 Uhr.
»Maren und Malte, ihr kommt mit. Die anderen wissen, was sie zu tun haben. Bleibt in der Nähe eines Telefons.«
Maren und Malte rauschten davon und Frank eilte zu seinem Büro, wo er den Hefter auf seinen Schreibtisch warf und schnell nach seiner Jacke griff.
Auf dem Parkplatz trafen sie sich wieder. Auch Malte und Maren hatten sich ihre Jacken geholt, Malte eine dunkelblaue Nappa-Lederjacke und Maren eine Jeansjacke, die schon eher weiß als blau war. Sie sprangen in Franks Wagen. Frank fuhr los und Malte setzte das magnetische Blaulicht auf das Wagendach. Frank schaltete das Martinshorn dazu und mit durchdrehenden Reifen verließen sie den Parkplatz. Ihre Stimmung hatte sich grundlegend verändert. Sowohl Frank als auch Malte waren ernst und still. Bei einem Blick in den Rückspiegel sah Frank, dass Marens Fröhlichkeit gänzlich aus ihrem Gesicht gewichen war und einer nervösen Blässe Platz gemacht hatte. Maren war erst seit drei Monaten bei ihnen und es war ihr erster Einsatz bei einem Mord – und dann gleich ein Doppelmord! Frank hatte vor Wochen mit ihr geredet und ihr mitgeteilt, dass er sie beim nächsten Einsatz dabei haben wollte. Was sie erwartete, wussten Frank und Malte genau. Sie selbst hatte nur eine Ahnung und Frank wusste aus Erfahrung, dass diese Ahnung und die Realität nicht im Entferntesten zusammenpassten. Es würde schrecklich für Maren.
***
Frank musste scharf bremsen, denn als sie in die Langenfeldstraße einbogen, lief ein Junge – das Skateboard unter dem Arm – quer über die Straße und rannte dem Menschenauflauf entgegen, der sich vor dem Haus, in dem die Opfer gefunden worden waren, gebildet hatte. Er gab wieder Gas für die restlichen hundert Meter und stellte den Wagen hinter einem Streifenwagen ab. Malte sprang vom Beifahrersitz und lief dem Skateboard-Jungen entgegen, aber Frank rief ihm nach:
»Lass ihn, Malte. Wir haben Wichtigeres zu tun. Er hat’s ja überlebt.«
Malte besann sich und kehrte um. Dann liefen sie nebeneinander über die Steinplatten des kleinen Vorgartens. Dem Beamten an der Haustür zeigten sie – wie dem ersten Posten am Absperrband auch – ihre Ausweise. Danach drehte sich Frank zu Maren um und fasste sie mit beiden Händen an den Schultern.
»Maren,« sagte er, »du wirst jetzt mit uns da hineingehen. Wir wissen alle drei nicht, was passiert ist. Glaub also nicht, dass es uns anders geht als dir. Du wirst dir mit uns die Opfer ansehen und natürlich die Wohnung. Danach müssen wir wohl Zeuginnen oder Zeugen befragen. Schaffst du das?«
»Wieso denn nicht?«, fragte Maren ein wenig schnippisch zurück.
Offensichtlich hatte sie sich auf der Fahrt hierhin, während der kein Wort zwischen den Dreien gewechselt worden war, innerlich auf das eingestellt, was ihr jetzt bevorstand, denn ihr Blick war offen und auch die Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt. Frank nickte und sie betraten ein Treppenhaus, das relativ dunkel war und die Kälte des Winters gespeichert hatte. Frank zog sich seine Jacke über. Die Flurtreppe lag links. Rechts neben ihr stand ein Beamter, der einen Gang versperrte, an dessen Ende Sonnenlicht durch eine offen stehende Tür fiel. Sie führte zu einem Garten.
»Wo?«, fragte Frank den Beamten und hielt ihm seinen Ausweis unter die Nase.
»Geradeaus im Garten und oben im ersten Stock«, erwiderte der Polizist und stand fast stramm bei seiner Antwort.
»Gut, dann lassen Sie uns mal durch.«
Frank unterstrich diese Äußerung mit einem auffordernden Rotieren seiner rechten Hand. Der Uniformierte machte sofort Platz, jedoch nicht ohne Frank ein »Jawohl, Herr Hauptkommissar!« entgegenzuschleudern.
»Und bleiben Sie locker!«, bemerkte Frank noch, als sie sich an ihm vorbei drückten. Endlich kam keine weitere Reaktion mehr von dem Polizisten, außer einem unsicheren Lächeln. Frank konnte diese Leute nicht leiden, die wohl der Meinung waren, ihre Leistung würde von ihren Vorgesetzten an ihrem pseudo-miltitärischen Gehabe gemessen. Aber der Beamte war noch jung. Er würde das noch lernen.
Das Bild, das sich den Beamten bot, als sie den Garten betraten, war makaber. Dr. Jüssen, der Mediziner, hockte vor einem Beet mit Frühlingsblumen links von der Tür, durch die sie gerade getreten waren, und hob mit gummibehandschuhten, spitzen Fingern den linken Schoß eines weißen Morgenmantels so hoch, dass die Scham der inmitten dieses Beetes liegenden Frau dem Sonnenlicht und den Blicken aller Umstehenden ausgesetzt war.
»Auf den ersten Blick: keine Vergewaltigung«, bemerkte der Arzt trocken und bedeckte die Blöße der Leiche wieder.
Die Frau lag auf dem Rücken und trug nur den weißen Morgenmantel, der allerdings im oberen Drittel schwarz von getrocknetem Blut war. In ihrem Hals klaffte eine etwa 10-12 cm lange Schnittwunde – so tief, dass die zerschnittene Luftröhre deutlich zu sehen war. Die helle Wunde bildete zu der in trockenem Blut erstarrten Umgebung – auch das Beet mit den Blumen in der Nähe der Leiche war blutgetränkt – einen fast unwirklichen Kontrast. Ein Nicht-Mediziner konnte auf Anhieb erkennen, dass in dem Körper der Frau nicht ein Tropfen Blut verblieben war. Die Haut des Opfers schien fast transparent zu sein.
»Wahrscheinlich nicht mehr als vierundzwanzig Stunden«, war die nächste knappe und wie unbeteiligt wirkende Äußerung des Arztes, die er allerdings jetzt schon mit einem Seitenblick auf Frank machte.
Frank sah, wie Maren sich von seiner rechten Seite löste und um die Beine der Frau herumging, wobei sie die Leiche immer im Blick behielt.
»Das Verbluten geht bei dieser Tötungsart recht schnell. Der Tatort ist das hier allerdings nicht.«
Sein Blick wandte sich nach oben zu einem Balkon, der etwa drei Meter über ihnen in den Garten ragte. Mit einer Kopfbewegung in seine Richtung fuhr Dr. Jüssen fort:
»Der Balkon ist voller Blutspritzer. Ich denke, das ist da oben passiert. Danach hat sie der Täter entweder hinuntergestoßen, oder sie ist runtergefallen. Wir müssen das Blut aber noch vergleichen. Alles ist bis jetzt nur ein erster Eindruck und Vermutung.«
»Klar«, sagte Frank. »Uns wurde ein Doppelmord angekündigt.«
»Jaja«, unterbrach ihn der Arzt. »Du kommst schon auf deine Kosten. Sei mal nicht so ungeduldig. Oben im ersten Stock. Im Schlafzimmer. Da hat’s einen jungen Mann erwischt. Ich hab ihn auch nur kurz aus der Ferne gesehen.«
Frank deutete Malte an, dass er hier bleiben solle. Er selbst und Maren machten sich auf den Weg in die Wohnung, in deren Schlafzimmer sie das zweite Grauen des Vormittags erwartete. Auf dem Schild neben der Türglocke stand »Claudia Hülst« und vor der Tür ein Beamter, der die beiden sofort durchließ.
»Erste Tür links«, wies er ihnen den Weg.
Frank dankte ihm und rief in die Wohnung hinein: »Darf ich ins Schlafzimmer?«.
In der Tür erschien eine schwarzhaarige Frau.
»Aber natürlich, welches Schlafzimmer solltest du nicht betreten dürfen?«, scherzte sie.
Frank begrüßte sie mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange und den Worten: »Hallo, Sabine.«
Sabine war seit Jahren eine ihm liebe Kollegin bei der Spurensicherung. Beinahe hätten die beiden sogar einmal etwas miteinander angefangen, aber das war zwei Jahre her und damals war aus dem Nichts heraus plötzlich Ina aufgetaucht. Sabine schien das bis heute leid zu tun, aber das Verhältnis zu Frank und Ina war gleichermaßen gut und zu einer echten Freundschaft geworden. Auch privat unternahmen die drei vieles miteinander.
»Schade um ihn«, sagte Sabine, als sie mit Maren und Frank das Schlafzimmer betrat. »Er war ein wirklich hübscher Kerl. Laut Ausweis heißt er übrigens Jörg Klettner.«
Auf der rechten Hälfte des französischen Bettes lag ein Mann, der offensichtlich genau so ausgeblutet war wie die Frau, die sie vorher im Garten gesehen hatten. Auch ihm war die Kehle durchschnitten worden, außerdem wies der Körper einen Einstich im Unterleib auf. Der Mann lag mit weit aufgerissenen Augen im Bett und hielt mit der linken Hand ein Stück der Bettdecke fest umklammert.
»Himmel!« stieß Maren hervor. »Was ist hier passiert?«
»Seid ihr hier fertig?«, fragte Frank.
»Ja, aber der Mediziner muss noch ran.«
»Und – habt ihr was Brauchbares?«
»Kann ich jetzt noch nicht sagen«, erwiderte Sabine. »Ein paar Fingerabdrücke und Fasern vom Teppichboden. Aber ob davon was zum Täter gehört, ist noch nicht raus.«
»Wer hat die beiden gefunden?«
»Eine Frau Beck. Sie putzte regelmäßig hier und half der Frau etwas im Haushalt. Sie ist ziemlich fertig und wartet drüben im Arbeitszimmer. Da darfst du übrigens auch schon hin. Meine Jungs sind noch mit dem Badezimmer, der Küche und dem Wohnzimmer samt Balkon beschäftigt.«
Obwohl die Wohnung nur drei Zimmer hatte, war sie sehr groß. Frank schätzte sie auf etwa 90 m². Von der Eingangstür ausgehend erstreckte sich ein etwa zehn Meter langer Flur bis zu einer Wand, die vollständig von einem Spiegel verdeckt wurde. Rechts neben der Schlafzimmertür stand eine Garderobe mit diversen Mänteln und Jacken. Gegenüber dem Schlafzimmer befand sich das Wohnzimmer, in dem die Spurensicherung beschäftigt war. Beim Blick durch die Tür sah Frank eine doppelflügelige Balkontür, deren rechter Flügel geöffnet war.
»Komm mit«, sagte Frank knapp zu Maren, die sich auch hier wacker hielt, was Frank anerkennend zur Kenntnis nahm.
Hintereinander gingen sie den Flur entlang, schauten beim Gehen nach links in ein durchschnittlich großes Badezimmer, nach rechts in eine riesige Küche mit rundem Esstisch. Am Ende des Ganges lag auf der linken Seite das Arbeitszimmer, das von zwei Computern mit riesigen Monitoren beherrscht wurde. Links vom Eingang ragte ein Bücherregal bis zur Decke, das mit Ordnern, einigen Büchern, aber überwiegend mit Datenträgern der verschiedensten Art bestückt war. In einem der beiden großen Schreibtischsessel saß eine etwa fünfzigjährige Frau mit verweinten Augen, aus denen immer noch der Schreck über das sprach, was sie gesehen hatten.
»Frau Beck?«, fragte Frank und streckte seine Hand aus.
»Ja«, schluchzte die Frau sofort los. »Ist das nicht grässlich? Eine so liebe Frau. Wer hat das getan?«
»Frau Beck, mein Name ist Frank Wallert. Ich bin Beamter bei der Kriminalpolizei. Das ist meine Kollegin Maren Dieckmann. Wir wissen, dass das Ganze sehr schwer für Sie ist. Trotzdem müssen wir Ihnen jetzt schon ein paar Fragen stellen. Schaffen Sie das?«
Während Frank sprach, hatte Maren ein Paket Taschentücher aus ihrer Hosentasche gezogen und hielt es der Frau hin. Dankbar nahm sie es entgegen. Das zu einem kleinen Knubbel zusammengepresste Taschentuch, das bisher ihre Tränen aufgenommen hatte, warf sie in einen Papierkorb unter dem Computertisch.
»Natürlich schaffe ich das«, kam ihre etwas verzögerte Antwort.
»Wollen Sie anfangen?«
Dann erfuhren die beiden Kriminalbeamten, wie Frau Beck die beiden Toten gefunden hatte, als sie heute die Wohnung betrat. Sie putzte jeden Donnerstag bei der jungen Frau. Manchmal erledigte sie auch Einkäufe, kochte, wusch und bügelte. Sie kannte Claudia Hülst seit etwa zehn Jahren, seit der Zeit, in der Frau Beck für ihre Eltern putzte. Die Eltern Hülst waren vor drei Jahren nach Duisburg umgezogen und Claudia hatte die Wohnung damals übernommen. Herr Klettner war seit etwa einem Jahr mit Claudia zusammen. Sie waren Kollegen. Jörg Klettner hatte sich im November des letzten Jahres selbstständig gemacht. Beide arbeiteten im »Publishing«-Bereich, sie stellten am Computer Plakate, Faltblätter, Programmhefte, Kataloge und anderes her.
»Frau Beck«, unterbrach Frank die Frau, die gerade ansetzen wollte, von Claudias Kindheit zu erzählen, »ich danke Ihnen. Das soll für’s Erste reichen. Sie haben uns sehr geholfen. Bitte geben Sie meiner Kollegin noch Ihre Adresse. Gehen Sie dann nach Hause und versuchen Sie, sich von dem Schock zu erholen. Halten Sie sich aber bereit. Möglicherweise müssen wir Ihnen später noch ein paar Fragen stellen.«
Zu Maren gewandt ergänzte er: »Ich schaue mich mal im Haus und bei den Nachbarn um.«
An der Wohnzimmertür traf Frank wieder auf Sabine, die eben einen Badeschlappen in einer Plastiktüte verstaute. Im Schlafzimmer hatten längst Dr. Jüssen und einer seiner Helfer ihre Arbeit aufgenommen.
***
Als Frank gerade vor der gegenüberliegenden Wohnungstür stand, kam Malte die Treppe herauf.
»Willst du sie nochmal sehen?«, fragte er. »Sie wollen sie jetzt wegbringen.«
Aber Frank schüttelte den Kopf.
»Du kannst mit mir Klinken putzen«, erwiderte er.
»Ihr könnt sie wegbringen!«, rief Malte nach unten und fuhr fort: »Das Klinkenputzen können wir uns schenken. Das Haus ist leer.«
»Wie bitte?«, fragte Frank verblüfft zurück.
»Diese Wohnung steht seit drei Wochen leer.«
Dabei zeigte Malte auf die Wohnungstür, vor der die beiden gerade standen.
»Die zwei Wohnungen oben sind zur Zeit nicht bewohnt. Herr Baltes liegt im Krankenhaus und Sabrina und Helge Förster sind in Urlaub. Sie kommen morgen zurück. Die Arztpraxis im Erdgeschoss macht Ferien bis zum nächsten Montag.«
»Woher, zum Teufel, weißt du das?«
Franks Erstaunen war riesengroß.
»Nachdem du mich mit den Leichenfledderern alleine gelassen hast, habe ich eine nette Bekanntschaft gemacht. Eine Nachbarin aus dem Haus nebenan hat sich unser Treiben im Garten über eine Hecke hinweg angesehen. Von ihr weiß ich das.«
»Das will ich selbst sehen!«
Frank drückte auf die Klingel, die keinen Laut von sich gab. Er klopfte, aber erwartungsgemäß rührte sich nichts hinter der Tür. Immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend hetzte er die Treppe hinauf. Oben drückte er auf beide Klingelknöpfe, aber auch hier war das Ganze nicht von Erfolg gekrönt. Als er wieder nach unten kam, grinste Malte ihm entgegen.
»Sie ist schon sehr glaubwürdig gewesen.«
»Hat sie sonst etwas gesehen oder gehört?«, fragte Frank etwas ungeduldig.
»Das kannst du sie selbst fragen. Ich habe sie reingeschickt und angekündigt, dass wir sie gleich besuchen kommen.«
Frank und Malte mussten den Flur frei machen, denn jetzt wurden die sterblichen Überreste von Jörg Klettner abtransportiert. Kaum waren die Träger mit dem Zinksarg die Treppe hinunter, als Maren mit Frau Beck durch den Flur auf sie zu kam.
»Geht es?«, erkundigte sich Frank.
»Ja, danke«, antwortete die Frau. »Ich gehe jetzt nach Hause.«
»Soll ich Sie fahren?«, fragte Frank voller Mitgefühl die kleine Frau, die in den letzten 90 Minuten um Jahre gealtert war.
»Nein, danke. Es sind nur ein paar Schritte. Suchen und finden Sie das Schwein, das dies getan hat!«, gab sie bestimmter zurück, als Frank es ihr zugetraut hatte.
»Das werden wir, Frau Beck. Bestimmt, das werden wir!«
Die Frau verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken und schlich die Treppe hinunter. Als Nächste trat Sabine auf den Flur.
»Wir sind gleich fertig da drin«, informierte sie Frank. »Noch ungefähr zehn Minuten. Wir machen dann zu und fahren zurück. Einiges muss ins Labor, aber einen vorläufigen Bericht kannst du heute Nachmittag kriegen.«
»Okay. Wir gehen dann mal zu der gut informierten Nachbarin, Maren. Wie heißt sie, Malte?«
»Darf ich nicht mitkommen?«, bettelte Malte. Fast hätte er vor Frank Männchen gemacht. »Ich habe schon mit ihr gesprochen.«
»Na gut, komm mit, aber dann musst du zurück ins Präsidium«, wandte sich Frank an Maren. »Wie geht es dir?«
Ihm war aufgefallen, dass Maren wieder blass geworden war.
»Es geht«, antwortete sie und fügte hinzu: »Das sah alles schon ziemlich schlimm aus.«
»Ich weiß«, tröstete Frank. »Lass es sacken. Fahr du bitte zurück ins Präsidium und suche nach Verwandten von den beiden.«
»Die Adresse von den Eltern der Frau habe ich ...«
Maren schaute ihm jetzt direkt ins Gesicht und wurde schlagartig weiß wie eine Wand. Gleichzeitig schluckte sie und flüsterte: »Nein, lass mich ihnen bitte nicht Bescheid sagen müssen.«
Frank erschrak.
»Aber nein! Wo denkst du hin, Maren? Du sollst nur herausfinden, wo welche Verwandten von den beiden leben. Lisa soll dir dabei helfen.«
Er rief den Beamten, der unten im Gang zum Garten gestanden hatte.
»Sorgen Sie dafür, dass die Kollegin zum Präsidium gebracht wird«, forderte er ihn knapp auf, und bevor der sowas wie »Zu Befehl!« brüllen konnte, schob Frank hinterher: »Und bleiben Sie locker!«
***
Steffie war glücklich. Endlich Sonne! Und es war warm. Sie war vor etwa einer halben Stunde aufgestanden, hatte schnell ein Glas Orangensaft getrunken und war unter die Dusche gegangen. Jetzt stand sie, in ein Badetuch gehüllt, vor ihrem Schrank und überlegte, was sie anziehen sollte.
Ihre Eltern waren schon vor Stunden zur Arbeit gegangen. Ausnahmsweise hatte ihre Mutter, bevor sie ging, den Kopf in Steffies Zimmer gesteckt und ihr »Hallo« gesagt. Sie fragte, was Steffie heute vorhatte.
»Weiß ich noch nicht«, murmelte Steffie, die zufällig wach geworden war, als ihre Mutter die Tür geöffnet hatte.
»Vielleicht können wir heute Abend was zusammen machen?«
»Vielleicht«, erwiderte Steffie.
»Gehen wir essen?«
»Mmmh.«
»Ich komme gegen sechs zurück.«
»Mmmh.«
»Sei bitte dann zu Hause!«
»Mmmmh!«
Frau Wibert lachte.
»Schlaf jetzt weiter.«
Steffie antwortete nicht mehr. Sie drehte sich um und hörte gerade noch, wie ihre Mutter die Wohnungstür schloss.
Sie griff in den Schrank und holte sich ihre weiße Jeans heraus, die sie vom Bügel nahm und auf das Bett legte. Anschließend nahm sie mit der einen Hand einen Slip und mit der anderen ein rotes Top aus dem Fach. Steffie liebte das Top, denn es endete knapp über dem Hosenbund und ließ ihren Bauchnabel sehen. Sie ging zurück ins Badezimmer und begann, sich die Haare zu föhnen. Ihre dunkelblonden Haare waren halblang, und es dauerte eine Weile, bis sie einigermaßen trocken waren. Sie schaltete den Föhn aus und legte ihn zurück. Dabei fiel ihr Blick auf den Lippenstift ihrer Mutter. Sie schraubte das silberne Ding auf. Karminrot. Ihre Mutter mochte es eigentlich nicht, wenn Steffie ihre Lippen schminkte – nicht, weil es ihr Lippenstift war. Sie meinte einfach, Steffie sei noch zu jung dafür. Das sah sie ganz anders, und es kam nicht selten vor, dass sie heimlich Lippenstift auftrug und ihn wieder abwischte, bevor sie nach Hause kam. Sabrina und Trixi sagten jedenfalls immer, das stehe ihr gut. Steffie setzte den Stift an ihre Lippen und fuhr mit seinem Ende in gekonntem Bogen erst über ihre Oberlippe, dann über die Unterlippe. Sie presste die Lippen aufeinander und öffnete sie gleich wieder. Sie betrachtete sich im Spiegel und gefiel sich. Sie hob die Arme und posierte wie eine Balletttänzerin. Mit leicht geöffnetem Mund und einem Augenzwinkern sah sie ihr Spiegelbild an. Dann ließ sie das Badetuch fallen und hüpfte in ihr Zimmer zurück. Sie zog den Slip an, schlüpfte in ihre weißen Jeans und streifte das Top über. Sie holte Geld und Schlüssel aus der blauen Jeans und ließ sie danach achtlos zu Boden fallen.
»Klasse!«, sagte sie zu der Steffie, die ihr aus einem Spiegel an der Schranktür zuwinkte. Sie verließ die Wohnung. Als sie auf die Straße trat, wunderte sich Steffie über die Kraft, die die Sonne bereits hatte.
***
Frank und Malte verließen das Haus. In der Langenfeldstraße 16 klingelten sie bei Frau Siebert. Der Türöffner wurde sofort betätigt, so als hätte jemand nur darauf gewartet, dass es schellt. Die beiden Beamten traten ein. Die Nachbarin stand im Hausflur und erwartete die beiden. Frank sah eine etwa 1,70 m große Frau in den Dreißigern, die er als ausgesprochen hübsch bezeichnen würde. Ein – wenn überhaupt – unauffällig geschminktes Gesicht schaute ihn freundlich und offen an.
»Sie sind die beiden Polizisten. Guten Tag, mein Name ist Martina Siebert«, sagte sie und streckte Frank ihre Hand entgegen.
»Guten Tag, Frau Siebert«, erwiderte er.
»Kommen Sie bitte herein. Ich bin gerade in der Küche beschäftigt.«
Sie betraten eine helle Wohnung, die vom Grundriss her stark an die von Claudia Hülst erinnerte. Martina Siebert schloss die Eingangstür und eilte den beiden in die Küche voraus. In der Küche rauschte die Dunstabzugshaube und führte den Dampf aus drei Kochtöpfen ins Freie. Trotzdem roch es angenehm nach Essensvorbereitungen.
»Setzen Sie sich doch bitte«, forderte sie Frank und Malte auf und wies mit dem Kopf auf den runden Esstisch, der für drei Personen gedeckt war.
Malte setzte sich sofort. Sie bemerkte Franks Zögern, lächelte ihn an und sagte:
»Meine Eltern kommen in etwa einer Stunde. Setzen Sie sich ruhig.«
Also nahm auch Frank Platz und sofort fiel ihm auf, dass er mittlerweile hungrig geworden war. Martina Siebert setze sich zu ihnen.
»Schrecklich das Ganze, nicht wahr?«, begann sie.
»Ja«, antwortete Frank. »Mein Kollege sagte mir, Sie seien bereit, uns ein paar Fragen zu beantworten.«
»Sicher, aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen sehr viel weiter helfen kann. Ich bin mit den Försters, Sabrina und Helge, befreundet. Frau Hülst und ich haben uns gegrüßt, das war aber schon alles.«
»Herrn Klettner kannten Sie nicht?«
»Doch, schon«, räumte sie ein, »aber kennen ist wohl zuviel gesagt. Ich habe ihn öfter hier gesehen und wusste, dass er zu Frau Hülst gehört. Er machte einen netten Eindruck. Er war ein hübscher Mann.«
Fast meinte Frank, ein Schmunzeln in ihrem Gesicht zu erkennen.
»Sie leben alleine hier?«, fragte er ohne Umschweife.
»Ja, seit etwa einem halben Jahr. Davor hat mein Freund mit hier gewohnt. Aber das ist vorbei.«
»Können Sie sich irgendeinen Reim auf das Geschehen in Frau Hülsts Wohnung machen?«
»Nein, überhaupt nicht. Am Dienstag habe ich Frau Hülst noch kurz auf der Straße getroffen. Sie erzählte mir, dass sie jetzt Urlaub habe und sich auf die freien Tage freute. Abends sah ich Herrn Klettner kommen, so gegen sechs. Er kam mit dem Wagen, der aber nicht mehr da ist.«
»Was für ein Wagen war das?«, hakte Malte nach.
»Keine Ahnung. Auf dem Gebiet kenne ich mich nicht aus. Es schien aber ein edleres Gefährt zu sein.«
»Danach haben Sie nichts mehr von beiden gesehen oder gehört?«
»Nein. Ich bin am späten Dienstagabend weggegangen und erst am Mittwochabend wiedergekommen.«
Nach kurzem Zögern schob sie hinterher: »Ich war bei einer Freundin in Duisburg, die Schwierigkeiten hatte.«
»Seit wann steht das Haus nebenan leer?«, wollte Frank jetzt wissen.
»Eigentlich seit letzten Donnerstag. Das war der letzte Arbeitstag für Dr. Rescher, den Internisten. Dann hat die Praxis Ferien gemacht. Herr Baltes liegt seit fünf Wochen im Krankenhaus. Sabrina und Helge sind seit Beginn der Osterferien in Österreich zum Skifahren. Frau Van Dresen hat am Samstag letztlich ihre Wohnung geräumt. Es stand aber sowieso nicht mehr viel drin. Sie wohnt schon seit fast vier Wochen nicht mehr hier. Ihr Mann ist im Dezember bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Deshalb hat sie ihre Wohnung an einen Lehrer hier aus Mülheim verkauft, der am kommenden Wochenende einzieht.«
»Sie wissen gut Bescheid«, bemerkte Frank.
»Mag sein. Das ist allerdings nicht Ausdruck ungezügelter nachbarschaftlicher Neugierde, wenn Sie das glauben sollten«, gab sie ein wenig schnippisch zurück. »Wir sind hier eine Käufergemeinschaft von Eigentumswohnungen. Da ist es ganz gut, den Kontakt zu pflegen und Bescheid zu wissen.«
»Natürlich«, erwiderte Frank entschuldigend. Er stand auf. »Das soll es für’s Erste gewesen sein. Danke, Frau Siebert. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, wäre es nett, wenn Sie mich benachrichtigen würden. Fragen Sie nach Hauptkommissar Wallert.«
Frau Siebert verabschiedete die beiden freundlich an der Eingangstür und die Beamten traten auf die Straße, die immer noch sonnenüberflutet war. Nichts außer dem nachlässig geparkten Wagen deutete mehr auf ihren unerfreulichen Einsatz hin. Sie stiegen ein und fuhren wortlos zum Präsidium.
***
Frank öffnete das Fenster seines Büros. So schön das Wetter heute auch gewesen sein mag: im Büro hing noch der Geruch des Winters und die Möglichkeit, den Raum zu durchlüften, musste er nutzen. Schon während der Rückfahrt von der Langenfeldstraße zum Präsidium hatte sich der Himmel zugezogen und es sah nach Regen aus.
Malte stand plötzlich hinter ihm. Frank drehte sich um.
»Wie geht’s jetzt weiter?«
»Das müssen wir gleich besprechen, wenn die Anderen wieder da sind. Sollen wir erstmal was essen?«
Malte verzog das Gesicht und zeigte Frank auf diese Weise, dass ihm nicht nach Essen zumute war.
»Na gut«, griff Frank erneut Maltes Frage auf. »Wir haben zwei Menschen, die nacheinander im wahrsten Sinne des Wortes abgeschlachtet wurden. Wir haben praktisch nichts, was auf den oder die Täter hinweist, jedenfalls keine offensichtlichen Spuren. Die Tür ist nicht aufgebrochen worden, kein Fenster ist kaputt, keine Fußabdrücke im Beet – nichts! Was fällt dir dazu ein?«
»Wir müssen uns die Wohnung gegenüber ansehen.«
»Da hast du recht. Das werden wir so schnell wie möglich tun. Nimm mal mit diesem Lehrer Kontakt auf und kläre das mit ihm.«
Malte verließ das Zimmer. Frank wandte sich wieder dem geöffneten Fenster zu und schaute hinaus. Nichts deutete mehr auf den strahlenden Sonnenschein hin, mit dem der Tag begonnen hatte. Die Autos fuhren mittlerweile schon mit Licht. Teilweise heftige Böen schüttelten die Bäume, deren zartes Grün ihnen hilflos ausgesetzt war. Wie immer nach einem solchen Einsatz fühlte sich Frank miserabel. Die ganze Kälte, mit der er es im Laufe der Jahre gelernt hatte, die Bilder von Tatorten in sich aufzunehmen, bröckelte von ihm ab. Er sah die junge
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Kurt Jahn-Nottebohm
Bildmaterialien: Ulrike Nottebohm
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2013
ISBN: 978-3-7309-5705-9
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