(Erinnerungen einer Tochter)
von Martina Hoblitz
„Hey, Josi! Wach auf! Du hast Besuch!“
Ich fühlte mich an der Schulter gerüttelt und angeschrien. – Oh, Teufel, dieser Schwammkopf! –
Was hatte mir denn bloß den Rest gegeben? Das große Glas Absinth auf Ex geleert? Oder die weiße Linie in die Nase gezogen? – Jedenfalls war der Filmriss perfekt! –
Wieder schrie Jean-Pierre mir direkt ins Ohr: „Jo, lebst du noch?“
Nur mit Mühe öffnete ich die Augen und blickte in das selig im Schlaf lächelnde Gesicht von Cloé. Sie hielt mich mit Armen und Beinen umschlungen und war nackt; ich übrigens auch. – Nein, nicht schon wieder! Das mit uns war doch längst vorbei!
Ich wand mich aus ihrer Umklammerung, sie brummte nur, drehte sich auf die Seite mit dem Rücken zu mir und schnarchte unbeeindruckt weiter.
Mein Blick auf Jean-Pierre, der vor der dicken Matratze stand, welche auf dem Boden lag – ein Bettgestell gab es nicht - , traf mich wie ein Keulenschlag. Seine gewaltige Morgenlatte wurde kaum von dem knappen himmelblauen Slip gebändigt. – In welcher Hölle war ich hier nur gelandet?
Ich bedeckte meine Augen mit einer Hand und knurrte ihn missmutig an: „Mann, zieh dir was über! Dieser Anblick am frühen Morgen ist nur schwer zu ertragen.“ – „Guck dich doch selber an!“ giftete er zurück und warf mir meinen Bademantel ins Gesicht.
Er hatte ja Recht! – Ich schlüpfte hinein und band energisch den Gürtel zu. Langsam begann auch mein Hirn wieder zu arbeiten.
„Wer besucht mich denn da?“ fragte ich eigentlich mehr mich selbst.
Doch Jean-Pierre antwortete: „Ein alter Zausel in feinem Zwirn. Sieht irgendwie amtlich aus.“
Oje! Ich überlegte fieberhaft, bei wem ich wie viel Schulden hatte. Die Liste war ellenlang! – Abgrundtief seufzend schlurfte ich in das winzige Bad. Dort stellte ich mich vor das Waschbecken und sah in den fast blinden Spiegel.
Eigentlich war ich recht hübsch, nur grad heute Morgen nicht. Mein natürliches tizianrotes lockiges Haar stand in alle Himmelrichtungen ab, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. Meine veilchenblauen Augen waren mit dicken Tränensäcken unterlegt, und die nur stecknadelgroßen Pupillen zeigten an, dass ich noch immer ziemlich high war.
Jean-Pierre kam ohne Scham hinter mir her gestiefelt und grinste breit, als er mich in meine versonnenen Betrachtungen vor dem gnadenlosen Spiegel vertieft sah. „Falls du vorhast, den Typ da draußen durch weibliche Reize zu bezirzen, vergiss es! Er scheint dagegen immun zu sein. Ich konnte eben sehn, wie unsre Lizzy im hauchdünnen Babydoll neckisch vor ihm über den Flur tänzelte. Er hat nicht mit der Wimper gezuckt, sondern im Gegenteil genervt an die Decke geblickt.“
Bei diesem Bericht kam mir ein leiser Verdacht, und ich fragte aufgeregt: „Du sagst ein älterer Herr? Vielleicht etwas untersetzt, mit schütterem Haar und dicker Brille?“
Jean-Pierre nickte nur verblüfft. Dann handelte es sich bei dem Mann wahrscheinlich um den Doc, meinen Ziehvater, bzw. den Lebenspartner meines leiblichen Vaters? – Unwillkürlich musste ich schmunzeln bei dem Gedanken, dass eigentlich ich kleine Göre die Zwei zusammen gebracht hatte.
Als Kleinkind hatte ich ihn zuerst Onkel Doktor, später Onkel Toby genannt. Doch als Teenager wollte ich hipp sein und nannte ihn nur noch kurz Doc.
Ähnlich gestaltete es sich mit der Anrede für meinen Vater. Als Kind nannte ich ihn Dada, eine Verknotung der Bezeichnungen Daddy und Papa, weil ich zweisprachig aufgewachsen war. Später in Amerika ergab es sich, dass ich mich auf Daddy festlegte. Doch wiederum als Teenager wollte ich genauso cool sein wie meine Altersgenossen, die häufig ihre Eltern mit Vornamen ansprachen. Aber irgendwie passte das meinem Vater nicht. So erfand ich wieder eine eigene Variante, aus den Anreden Daddy und Lars wurde Dala. Ich war halt schon immer sehr speziell!
Mein eigener Name entstand ja schließlich auch aus einem Zusammenschluss der Vornamen meiner Großmütter Joana und Sina. Also hieß ich Josina. – Genug der Namenskunde! – Jedenfalls waren diese Verwurschtelungen eine Marotte in der gräflichen Familie, aus der ich stammte.
Und wenn es sich bei dem frühen Besucher tatsächlich um den Doc handeln sollte, konnte das nur bedeuten, dass auf Schloss Königstein mal wieder die Luft brannte.
Also sparte ich mir das Zurechtmachen, wickelte nur den Bademantel noch etwas fester um meinen nackten Körper, zog auch den Knoten vom Gürtel noch einmal nach und begab mich mit gestrafften Schultern und hocherhobenen Hauptes in den Flur. ---
Es war wirklich der Doc, der da auf mich wartete und bei meinem desolaten Anblick ein ziemlich betroffenes Gesicht machte. Vorwurfsvoll sagte er zu mir: „Josi, Kind, was machst du nur für Sachen? Ich such dich in der Uni und muss erfahren, dass du schon seit Wochen keine Vorlesung mehr besuchst.“
Ziemlich schnippisch entgegnete ich: „Und ich werde auch in Zukunft zu keiner Vorlesung mehr gehen. Ich schmeiß das Studium! Als freischaffende Künstlerin werd ich reich und berühmt. Ich hab da schon was angeleiert.“
Allerdings, so selbstsicher wie ich mich gab, war ich gar nicht. Nur eins stimmte, ich hatte keinen Bock mehr aufs Studium!
„Das wird Tante Grace schwer enttäuschen. Sie hat alle Hebel in Bewegung gesetzt für deinen Studienplatz.“
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Ich hab sie nicht drum gebeten. Und nenn sie nicht immer Tante. Sie ist nicht meine Tante, und ich bin kein Kleinkind mehr!“ ---
Es stimmte, die Werbefotografin Grace Simmons war nicht mit mir verwandt, sondern nur eine Freundin meines Vaters. Als kleine Göre durfte ich sie Tante nennen, und leider bestand sie auch später darauf. Sie war die eine Hälfte eines Lesbenpaares, dessen andere Hälfte Brenda – die nicht auf der Anrede Tante bestand – über Jahre Dalas persönliche Assistentin im Verlag war. – Bis mein Vater es aufgab zu schreiben, weil er angeblich keine Ideen mehr hatte. –
Die Wahrheit? Er hatte wieder angefangen zu trinken, und er war nicht Hemingway, der stets seinen Whisky brauchte, um gut schreiben zu können. – Lange hatte der Doc die Augen davor verschlossen und mit allen Mitteln versucht, es auch vor mir zu verbergen. Doch ich war schon immer ein schlaues Mädchen und ließ mir nichts vormachen.
Um mir den Anblick meines Säufervaters zu ersparen, schickte Doc mich zuerst wieder nach Schloss Königstein in den Schoß der gräflichen Familie, und die wiederum steckte mich in die Klosterschule in Bayern, wo vorher schon meine Mutter gewesen war und meine Großtante Lina als Sr.Magdalena den Posten der Priorin bekleidete.
Während meiner gesamten Schulzeit lebte ich dort beim Großonkel Leon, dem Zwillingsbruder der Nonne, und seiner Frau Constanze, deren Ehe kinderlos geblieben war, und die mich deshalb behandelten wie eine Tochter. In dieser Umgebung fühlte ich mich wohl und geborgen und vermisste meinen Vater nicht eine Minute. –
Doch kaum hatte ich die Schule mit einem einigermaßen guten Abschluss hinter mich gebracht, holte mich mein Vater wieder da raus. Er hatte inzwischen erneut eine Entziehungskur gemacht und glaubte, nun wieder die Verantwortung für mich übernehmen zu können, für einen Teenager auf der Schwelle zum Erwachsenwerden!
Der Doc riss mich aus meinen Erinnerungen, indem er unwillig bemerkte: „Du hast dich sehr verändert! So ablehnend und negativ kenn ich dich gar nicht. – Ist es wirklich erst ein Dreivierteljahr her, seit wir uns zuletzt gesehen haben?“
Weil ich spürte, wie mich die Wehmut überkommen wollte, wurde ich frech: „Sei nicht so rührselig! Sag lieber, was du eigentlich von mir willst!“
Er sah mich an wie ein geprügelter Hund und sagte leise: „Ich will dich bitten, nach Hause zu kommen. Deinem Vater geht’s nicht gut.“
Noch wollte ich nicht weich werden und meinte nur hämisch: „Was ist los mit ihm? Säuft er wieder?“ – „Nein, Josina! Mein Lars hat Krebs, und die Ärzte sehen wenig Hoffnung für ihn.“
Es war unmöglich zu beschreiben, welche Gefühle mich in diesem Moment bewegten! Ich sah meinen Vater vor mir bei unserem Abschied im Zorn. Schon da hatte er nicht gerade gut ausgesehen, aber konnte ich denn ahnen, wie schlecht es ihm wirklich ging?
Inzwischen war sein Haar schneeweiß geworden, und das mit gerade mal 42 Jahren! Sein Gesicht war aufgedunsen, und sein einstmals so schlanker, sportlicher Körper zeigte sich aufgebläht durch den jahrelangen Alkoholmissbrauch. –
In diesem Augenblick tat es mir so leid, wie ich ihn angegriffen und ihm seine Sauferei vorgeworfen hatte. Er nahm alle meine Vorwürfe hin und verteidigte sich nicht. ---
Mein Blick fiel auf den Doc. Er hatte die Brille abgenommen und putzte sich verlegen die Nase. In seinen Augenwinkeln glitzerten Tränen. – Da übermannte es mich auch. Ich fiel ihm um den Hals und schluchzte: „Nicht weinen, Doc! Dann muss ich gleich mit heulen. – Natürlich fahr ich zu Dala! Gib mir nur 2 oder 3 Tage Zeit, bis ich alles geregelt hab!“
Er klopfte mir sachte auf den Rücken und sagte mit belegter Stimme: „Bitte, beeil dich, Kind! Es sieht wirklich nicht gut aus. – Ich wohn solange in einer kleinen Pension gleich hier um die Ecke und warte, bis du bereit bist, mit mir zu fliegen.“
Dann schob er mich sanft von sich und versuchte zu lächeln. „Ich lass dich jetzt allein, Josi! Ich glaub, du hast über einiges nachzudenken.“
Ich nickte nur und zog die Nase hoch. Schon war er durch die Tür verschwunden. ---
Während ich mich zunächst einmal anzog, kreisten die unsinnigsten Gedanken durch meinen Kopf. Krampfhaft versuchte ich mich zu erinnern, wann und warum Dala wieder mit seiner Trinkerei angefangen hatte. Bis dahin war unser Leben doch so schön verlaufen!
Nach dem Weihnachtsfest auf Schloss Königstein, wo mein Vater und der Doc – damals noch Dada und Onkel Toby für mich – ihre Art Verlobung gefeiert hatten, kehrten wir nach New York in unser schönes Appartement zurück.
- Und in den folgenden 3 Jahren war ich das glücklichste Kind der Welt! –
Meine zwei Väter kümmerten sich einfach rührend um mich. Während Onkel Toby stundenweise als Assistenzarzt in der Klinik seinen Dienst versah, konnte Dada von zuhause arbeiten, denn er hatte sich ein Büro im Gästezimmer eingerichtet.
Nur wenn er einen seiner kleinen Romane fertig hatte, musste er zum Drucken und Veröffentlichen in den Verlag und da mit Tante Brenda zusammen letzte Hand am Buch anlegen. – Natürlich ließen sie das Cover von Tante Grace gestalten. So war jedes Buch eigentlich eine Gemeinschaftsarbeit, und Dada ließ seine zwei Helferinnen nie unerwähnt.
Für mich ergab sich so die Möglichkeit auch häufiger bei Tante Grace im Fotostudio zu sein, und ich zeigte mich immer mehr interessiert an der Fotografie. Gleichzeitig entdeckte ich auch, wie viel Spaß mir das Malen machte. Tante Grace war begeistert, und obwohl ich noch nicht einmal in die Schule ging, plante sie schon ein Kunststudium für mich an einer Akademie in Paris, zu der sie gute Beziehungen hatte.
Dada lachte sie jedes Mal aus, wenn sie von diesen Plänen sprach. ---
Dann wurde ich eingeschult und traf zum 1.Mal auf Kinder anderer Nationalitäten, da gab es Mexikaner, Puertoricaner, Chinesen und sogar einen Negerjungen. Der faszinierte mich besonders. Er hieß Maurice. Sein Vater war Hafenarbeiter und seine Mutter Putzfrau. Das interessierte mich allerdings weniger. Maurice war sehr musikalisch, er spielte Mundharmonika und Blockflöte, aber er erzählte mir, dass er gern Saxophon spielen würde, doch dieses Instrument war sehr teuer.
Dann freundete ich mich noch mit einem Chinesenmädchen an. Sie hieß Li-Ping und ihre Eltern besaßen ein Restaurant in einem Bezirk namens <China Town>. Später lernte ich, dass es fast in jeder Großstadt in den USA einen Bezirk gab, der China Town hieß.
Jedenfalls wurden Mo und Li meine besten Freunde, wir steckten dauernd zusammen, besuchten uns auch gegenseitig, und unsere Eltern hatten nichts dagegen.
Doch in der Schulklasse wurden wir 3 bald ausgegrenzt, weil wir eben anders waren. Bei Maurice und Li-Ping verstand ich es ja noch, denn das war offensichtlich, aber warum die anderen Kinder mich ablehnten, wurde mir erst viel später klar. – Zunächst dachte ich, es wäre weil ich eine halbe Adelige war, irgendwie hatte sich das rum gesprochen.
Doch den eigentlichen Grund erklärte mir Mo. Es war nicht normal, dass die beiden Männer, die ich meine Väter nannte, als Paar zusammen lebten. Und dann fragte mich Li plötzlich, wo denn eigentlich meine Mutter wäre. Als ich ihr sagte, dass sie tot war, nickte sie verständnisvoll und erklärte schlicht: „Meine auch. Die Frau, die ich jetzt Mutter nennen soll, ist die zweite Frau von meinem Vater.“
Damit war das Thema aber auch für uns abgehakt. ---
Nur am Abend zuhause berichtete ich Daddy von dem Gespräch mit meinen zwei Freunden. Da wurde er plötzlich tieftraurig, bat mich, eine Weile artig zu sein, er wäre gleich wieder da, und als er zurück kam, sah ich ihn zum 1.Mal Schnaps trinken. –
In dieser Nacht hörte ich auch zum 1.Mal, wie Daddy und Onkel Toby lautstark miteinander zankten, und ich zog mir die Decke über den Kopf und weinte mich still in den Schlaf. –
Am anderen Morgen waren beide traurig und deprimiert. – Ja, ich glaube, da hatte es wieder langsam mit meinem Vater angefangen!
Jean-Pierre kam in die Küche, wo ich bei einer starken Tasse Kaffee und einer Zigarette am Tisch
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: eigene Texte verfasst Dez.2016
Bildmaterialien: eigene selbst gezeichnete Bilder
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2016
ISBN: 978-3-7396-9082-7
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Auch diesen Roman widme ich meinem unerschütterlichen Freund, der mich immer wieder in meinem Tun bestärkt.