von Martina Hoblitz
Das gewöhnlich kalte und unpersönliche Tonstudio war seit etwa einer Stunde erfüllt von der herrlichsten Klaviermusik. Fast überirdische Klänge entlockte Lothar Bergethoff dem Instrument. Seine feingliedrigen, gepflegten Finger tanzten über die Tasten, ohne ein einziges Mal daneben zu greifen.
Überhaupt waren die Hände das Schönste an dem sonst recht unscheinbaren Mann. Lothars Körpergröße betrug nur 1,68m. Trotz seiner erst 26 Jahre hatte er eine ausgeprägte Stirnglatze, und das verbliebene Haar am Hinterkopf war dunkelbraun und glanzlos. Seine eigentlich ausdrucksvollen rehbraunen Augen wurden durch eine starke Brille verdeckt.
Vom äußeren Erscheinungsbild her war Lothar also der genaue Gegensatz zu seinem Freund und Impresario Dominik Faber. Dieser entsprach mit seinem 1,95m großen, muskulösen Körper, den pechschwarzen Locken, die bei Sonneneinstrahlung einen leichten Blauschimmer zeigten, dem gepflegten, ebenso schwarzen Schnäuzer und samtbraunen, fast schwarzen Augen dem Idealbild eines Mannes, für das viele Frauen schwärmten. Auch er war 26 Jahre alt und seit der Schulzeit mit Lothar eng befreundet. Schon damals machten sich alle über das ungleiche Freundespaar lustig, was die 2 aber nicht weiter störte.
Dominik war immer der aufgeschlossenere, temperamentvollere der beiden, während Lothar schon früher ein ruhiger, ernster Typ war. – Erst in den letzten Schuljahren zeigte sich Lothars besonderes musikalisches Talent; und er hatte das absolute Gehör. Dominik war begeistert von dieser Begabung seines Freundes und schlug ihm vor, doch daraus einen Beruf zu machen. Lothar ließ sich jedoch erst dazu überreden, als ihn ein schwerer Schicksalsschlag traf, und er dringend Geld verdienen musste.
Lothars Vater, ein anfangs erfolgreicher Börsenspekulant, verspielte nach und nach sein ganzes Vermögen auf Rennplätzen und in Casinos. Und als ihm schließlich die Schulden über den Kopf wuchsen, nahm er sich feige das Leben und ließ Frau und Sohn völlig mittellos zurück.
Obendrein war Lothars Mutter schon immer nervlich etwas labil, und dieser Schicksalsschlag warf sie vollkommen aus der Bahn. Es blieb dem jungen Mann nichts anderes übrig, als sie, da er nicht in der Lage war sie selbst zu versorgen, in ein Pflegeheim zu bringen, wo sie seitdem ihr Dasein in fast völliger geistiger Umnachtung fristete. Hätte Lothar zu dieser Zeit nicht seinen treuen Freund Dominik an seiner Seite gehabt, wäre er wohl auch unter der ganzen Last der Verantwortung zusammen gebrochen.
Dominik entschloss sich, den eher schüchternen Freund zu managen und mit seiner besonderen Begabung zum Erfolg zu führen. Er vermittelte ihm mehrere Schallplattenaufnahmen und Darbietungen in Radiosendungen, die ihm recht gutes Geld einbrachten. Und bald wurde der Name Lothar Bergethoff in Fachkreisen zu einem Begriff als außergewöhnlicher Pianist.
Mit steigendem Bekanntheitsgrad konnte Dominik auch größere Honorare aushandeln. Und so dauerte es nicht lange, bis Lothar keine finanziellen Sorgen mehr hatte. Leider konnte er aber auch mit all seinem Verdienst der geliebten Mutter die Gesundheit nicht erkaufen. Ihr geistiger Zustand, der sich immer mehr verschlechterte, lag ihm schwer auf der Seele. Er besuchte sie, sooft es ihm möglich war, aber sie erkannte ihn nie. Jedes mal krampfte sich ihm das Herz zusammen, wenn er sie so da sitzen sah, bewegungslos und mit starren Augen.
Ein großes Zugeständnis machte er ihr, indem er als Pianist unter ihrem Mädchennamen <Bergethoff> auftrat. Denn der Name seines Vaters <Schönwald> stand seit der damaligen Schuldenaffäre in keinem guten Ruf mehr.
Dominik mit seinem ungebrochenen starken Willen trieb Lothar weiter, von Erfolg zu Erfolg. Wozu er ihn aber bislang noch nicht bewegen konnte, war ein öffentlicher Bühnenauftritt. Dagegen argumentierte Lothar mit leichter Selbstironie: „Sieh mal, inzwischen kennt man meine Musik! Und mit meiner Art der Interpretation verbindet der Zuhörer einen gewissen Typ Mensch. Jetzt stell dir nur vor, es würde ein Konzert von mir angekündigt! Der Saal ist gefüllt mit erwartungsfrohen Musikfreunden. Und dann betrete ich Gartenzwerg die Bühne! Das würde wohl eine herbe Enttäuschung für meine Anhänger!“
Obwohl Dominik dem widersprach und behauptete, nicht das Aussehen, sondern das Talent und die damit verbundene Ausstrahlung eines Künstlers wären Ausschlag gebend, konnte er den Freund in dieser Hinsicht einfach nicht umstimmen. So spielte Lothar auch weiterhin nur für Schallplatten und im Radio.
Die derzeitige Plattenaufnahme war beendet! Lothar ließ mit einem tiefen Atemzug die Hände von den Tasten in den Schoß fallen. Kleine Schweißperlen hatten sich auf seiner lichten Stirn gebildet. Er holte ein schneeweißes Taschentuch hervor und tupfte sie ab, während die Stimme des Tonmeisters erklang: „Wunderbar, Herr Bergethoff! Die Aufnahme steht. Und gleich beim 1.Mal! Wirklich perfekt! Da gibt’s nix mehr zu verbessern.“
Bei diesen Worten schien die ganze Belegschaft des Studios wie aus einem Traum zu erwachen. Plötzlich war der Raum von Stimmengewirr und mancherlei Geräuschen erfüllt.
Dominik, der still in einer Ecke gesessen und dem Vortrag gelauscht hatte, trat auf Lothar zu, klopfte ihm jovial auf die Schulter und lobte: „Mensch, alter Junge, das war fantastisch! Selbst der olle Meister Chopin wär begeistert von deiner Interpretation seiner Musik. Noch nie hab ich die <Regentropfen-Prélude> mit solcher Inbrunst gehört.“
Doch bescheiden wehrte Lothar ab: „Ich hab genauso gespielt wie immer.“ - „Trotzdem bist du in Sachen Musik ein wahrer Zauberkünstler!“ behauptete Dominik und packte die Noten in eine braune Aktentasche.„Ich möchte wahrhaftig nicht wissen, wie viele Frauenherzen für dich höher schlagen.“ - „Hör bloß auf!“ empörte sich Lothar. „Denen würd das Herzklopfen bei meinem Anblick schnellstens vergehn.“
Dominik nahm die Aktenmappe in die Hand, legte den anderen Arm um die Schulter des Freundes und geleitete ihn durch die Tür aus dem Studio.
Er lachte und meinte: „Dass du aber auch immer auf deinem Aussehn rumreiten musst! Ich hab dir schon mal gesagt, es geht nicht nur ums Äußere. Wichtig ist vor allem der Charakter. Und dann dein Talent! Sieh mich doch an! Was hab ich schon zu bieten außer einem ansehnlichen Äußeren? Du hingegen mit deinem tollen Allgemeinwissen obendrein, kannst dich mit jedem Menschen über jedes Thema unterhalten.“ - „Naja, ich les eben viel und interessier mich fürs Weltgeschehen.“ gab Lothar zu und blickte zu seinem Freund auf.
„Nun, und ich find lesen langweilig, und alles was außerhalb meines näheren Umkreises passiert, interessiert mich nicht die Bohne! Drum trete ich auch bei einer ernsthaften Unterhaltung von einem Fettnäpfchen ins nächste.“
Da musste auch Lothar lachen. –
Der Tonmeister hatte seinen Glaskasten verlassen und kam den beiden auf dem Flur entgegen. Begeistert schüttelte er Lothar die Hand und bestätigte nochmals: „Lieber Herr Bergethoff, das war wirklich eine beeindruckende Vorstellung! Noch nie hatte ich eine Aufnahme gleich beim 1.Anlauf im Kasten. Sie sind ein echter Profi! Einfach perfekt.“
Ganz verlegen über so viel Lob erwiderte Lothar: „Ich danke Ihnen für Ihre gute Meinung!“
Dann versteckte er schnell seine Hand in der Hosentasche, damit der Mann nicht wieder daran herum schütteln konnte. Er hatte nämlich einen recht kräftigen Händedruck, und schließlich musste Lothar seine Finger in Acht nehmen; sie waren doch sein Kapital!
Endlich konnten die beiden Freunde das Gebäude ohne weiteren Aufenthalt verlassen. Sie nahmen ein Taxi, welches sie zu ihrem Hotel brachte, wo sie gemeinsam eine feudale Suite bewohnten.
Seit Lothar so erfolgreich war, hatten sie keine finanziellen Sorgen, obwohl Dominik manchmal recht verschwenderisch mit dem Geld umging, das Lothar verdiente. Doch der war dem Freund deswegen nicht böse. Schließlich versuchte Dominik ja auch, ihn immer wieder an seinen Amüsements teilhaben zu lassen. Allerdings war es dann doch meist so, dass während Dominik sich in irgendeiner Bar oder sonstigen Lokalität vergnügte, Lothar allein im Hotelzimmer ein Buch las oder eine Partitur studierte.
Nur ganz selten konnte Dominik den Freund dazu bewegen, ihn zu einer Veranstaltung zu begleiten. Von Partys zum Beispiel hielt der schüchterne kleine Pianist überhaupt nichts. Dominik hingegen ließ keine aus und genoss es, wenn ihm, dem gutaussehenden und obendrein noch fabelhaften Tänzer, die Damenwelt zu Füßen lag.
Und manchmal wünschte sich Lothar wirklich nur den Bruchteil von Dominiks Charme!
Fast genauso wie Lothar fühlte sich auch häufig die 23jährige Vanessa Sundermann. Sie war an sich ein hübsches Mädchen mit honigblonden Schulter langen Haaren und himmelblauen Augen. Der einzige Makel, nach ihrer persönlichen Meinung ein großes Handikap, bestand darin, dass sie im Rollstuhl saß.
Und deshalb hatte sie sich auch gefühlsmäßig stark verändert. Niemand, der Vanessa früher als fröhlichen aktiven Teenager kannte, hätte diese Entwicklung erwartet. Aus dem Mädchen, das auf jeder Party strahlender Mittelpunkt war, entwickelte sich nach dem Unfall ein Geschöpf, das sich von seiner Umwelt total abkapselte und sich kaum noch aus den 4 Wänden wagte.
Seit beinah 3 Jahren, seit dem schrecklichen Unfall, fristete sie ihr Dasein auf einem abgelegenen Landgut und duldete nur die Haushälterin Agathe, den Diener Erich und ihre Gesellschafterin Angela in ihrer Nähe.
Angela Mertenz, die Vanessa seit der Schulzeit kannte, stand zwar bei ihr als Gesellschafterin in Lohn und Brot, war aber trotzdem ihre beste Freundin und die Einzige, die ihr in der schweren Zeit nach dem Unfall zur Seite gestanden hatte.
Noch heute wachte Vanessa schweißgebadet auf, weil sie davon träumte, wie sich ihr bis dahin so sorgloses Leben drastisch verändert hatte. Und dabei hatte dieser schicksalhafte Tag so fröhlich begonnen!
Arno Sundermann, der erfolgreiche, millionenschwere Geschäftsmann wollte mit seiner Familie, d.h. Frau, Tochter und Sohn, aus einer spontanen Laune heraus eine Landpartie machen. Er bestand darauf, die schwarze Limousine selbst zu steuern, obwohl der Diener Erich aus freien Stücken angeboten hatte sie zu fahren. –
In einer scharfen Rechtskurve passierte es dann: Auf einmal platzte der linke Vorderreifen, und Arno Sundermann verlor die Kontrolle über den Wagen. Er geriet auf die Gegenfahrbahn, und plötzlich kam ihnen auf der unwegsamen Landstraße auch noch ein tonnenschwerer Lastwagen entgegen, in den sie frontal hinein fuhren. –
Für Vanessas Mutter und den kleinen Bruder kam jede Hilfe zu spät; sie waren sofort tot. Der Vater starb auf dem Transport in die Klinik.
Um Vanessa kämpften die Ärzte dann 3 Tage lang, bis sie endlich außer Lebensgefahr war. Allerdings würde sie aufgrund einer inoperablen Verletzung der Wirbelsäule im Hüftbereich nie mehr gehen können und musste für den Rest ihres noch jungen Lebens im Rollstuhl sitzen.
Täglich kam Angela ins Krankenhaus und richtete die Freundin immer wieder seelisch auf, wenn sie den Lebensmut verlieren wollte. Auch als Vanessa nach vielen Wochen endlich aus der Klinik entlassen wurde, wich Angela nicht von ihrer Seite. Zwar konnte sie nicht verstehen, warum Vanessa sich auf das alte Landgut zurück zog, anstatt wie vorher die hübsche Villa in der Stadt zu bewohnen, aber sie folgte ihr auch dorthin.
So lebten die beiden jungen Mädchen nun seit fast 3 Jahren in dem alten, renovierungsbedürftigen Gemäuer, mit den 2 verbliebenen Dienstboten Agathe und Erich. In all der Zeit nahmen sie nie an irgend welchen außerhäuslichen Veranstaltungen teil. -Vanessa verließ das Haus nicht, weil sie sich ihrer Behinderung schämte und sich deshalb nur ungern unter Menschen begab. Und Angela verzichtete darauf, weil sie die Freundin nicht allein lassen wollte, obwohl sie manchmal das gesellige Leben von früher vermisste.
Auch Gäste empfingen sie nicht. Der einzige regelmäßige Besucher mindestens einmal die Woche war der Familienanwalt Dr.Gerhard Murnau, der Vanessa in allen finanziellen Belangen beriet. Denn sie hatte von ihrem Vater außer dem Landgut mit den dazugehörigen verpachteten Ländereien und der Stadtvilla noch ein beträchtliches Vermögen in Millionenhöhe geerbt.
Nun fühlte sich aber Dr.Murnau in letzter Zeit gesundheitlich nicht mehr so ganz auf der Höhe und brachte deshalb seinen Sohn Fabian mit, der bald seine Kanzlei übernehmen sollte.
Fabian Murnau, ein gutaussehender junger Mann von 29 Jahren war ein Tunichtgut, der gerne über seine Verhältnisse lebte, indem er teuren Hobbys nachging, sich nur in den allerbesten Restaurants und Bars aufhielt und sich einen extravaganten Sportwagen leistete. Außerdem wechselte er häufig seine Damenbegleitung und überschüttete die jeweilige Favoritin mit exklusiven Geschenken.
Bei seinen ersten Besuchen zusammen mit dem Vater hatte Fabian zunächst ein Auge auf die attraktive Angela geworfen, die mit ihren rotbraunen Haaren und katzengrünen Augen genau seinem Geschmack entsprach. Doch als er von seinem Vater so nach und nach in die Finanzlage Vanessas eingewiesen wurde, um an seiner statt für sie als Anlageberater zu fungieren, schenkte er plötzlich der jungen reichen Erbin all seine Aufmerksamkeit.
Allerdings hatte er nicht mit Vanessas zähem Widerstand gerechnet. Das Mädchen war nicht dumm und konnte sich denken, dass ein Mann wie Fabian sie gewiss nicht um ihrer selbst Willen umwarb.
Leider bot sich dem jungen Mann nie die Gelegenheit, mit Vanessa allein zu sprechen, denn entweder waren sein Vater oder Angela bei seinen Besuchen anwesend, und verhinderten so jede Annährung seinerseits.
„Fabian Murnau scheint sich sehr für dich zu interessieren, wenn ich seine Blicke richtig deute.“ meinte Angela eines Abends, kurz nachdem der junge Rechtsanwalt sie verlassen hatte.
Aber Vanessa widersprach energisch: „Machen wir uns doch nix vor! Er interessiert sich nicht für mich, sondern für mein Vermögen! Schließlich kennt er meine Finanzlage inzwischen sehr genau. Und du weißt genauso gut wie ich von seinem ausschweifenden Lebenswandel.“ - „Das schon. Sein Vater hat oft genug eine Bemerkung drüber gemacht. Er findet das Verhalten seines Sohnes gewiss nicht gut, aber er kann auch nix dagegen machen, denn schließlich ist Fabian erwachsen.“ - „Es ist nur gut, dass du mich bei seinen so häufigen Besuchen nicht mit ihm allein lässt! So gibst du ihm keine Möglichkeit, sich mir heuchlerisch zu erklären.“ - „Du bist also der festen Ansicht, dass er seine Zuneigung nur vortäuscht?“ fragte Angela verblüfft.
„Vollkommen. In dieser Beziehung kann mir keiner was vormachen. Welcher Mann interessiert sich schon ernsthaft für ein Mädchen im Rollstuhl?“ gab Vanessa zu bedenken.
Angela aber hielt dagegen: „Nun, du
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: eigene Texte verfasst 1996
Bildmaterialien: eigene selbst gezeichnete Bilder
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2016
ISBN: 978-3-7396-5812-4
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Worte der Autorin:
Diesen Roman widme ich allen Menschen, die ein kleines oder großes Handikap haben.