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Kapitel 01 - Wiedergeburt

Dunkelheit. Licht. Schmerzen. Das grelle Licht tut in meinen Augen weh und ich schließe meine Lider, rolle mich zusammen und will wieder zurück in die Dunkelheit, aus der ich entstanden bin. Meine Augen … meine Lider … ich? Ich bin, ich existiere. Doch ich bin leer. Da ist nichts, was mich ausmacht. Kein Ego, keine Erinnerungen, keine Gefühle. Nichts außer Schmerz. Was ist ‚Ich‘? Wer bin ich?

Ich öffne den Mund, huste und krächze: „W … Wasser …“ Das Wort verlässt nur leise meine Lippen und doch ist es riesig, bedeutet so viel mehr, als ich in einem Augenblick fassen kann.

 

Ich kann sprechen.

Ich weiß, was Wasser ist.

Irgendwo habe ich gelernt, was Wasser ist.

 

Wieso fühle ich mich dann so leer? Wieso erinnere ich mich an nichts und kann doch sprechen, habe Wissen darüber, dass Wasser existiert und weiß, was ich damit tun muss. Trinken. Ich empfinde Durst und weiß, dass Wasser mir helfen wird, ihn zu löschen. Vorsichtig öffne ich wieder meine Lider. Das Licht … Grell brennt es in meinen Augen und doch ist es notwendig. Es eröffnet mir eine Welt. Neu und doch irgendwie vertraut. Ich blinzele und gewöhne mich an das Helle.

Alles um mich herum gewinnt an Konturen. Ohne nachzudenken, stehe ich auf, gehe ein paar Schritte, bevor mir bewusst wird, was ich tue. Meine Beine sacken unter mir weg und ich lande hart auf dem Boden. Mir ist schwindelig und doch habe ich etwas Neues über mich gelernt. Ich kann gehen. Zittrig stehe ich wieder auf, erfreue mich an den Bewegungen meines Körpers. Meine Augen wandern meine dünnen Arme entlang und halten bei meinen Fingern. Lange starrte ich auf meine Hände.

Sie wirken so klein und zerbrechlich. Meine Beine sind ebenfalls schmal. Ich vergleiche, ohne einen Gegenpart zu haben. Das heißt, ich kenne Hände, die größer und Beine, die dicker sind. Und doch ist da kein Bild, keine Erinnerung. Meine Knie fangen meinen Blick ein und ich starre auf dünne, weiße Linien, die sich von dem Rest abheben. Mein Kopf sagt mir, dass es Narben sind. Narben, verheilte Verletzungen. Ich habe mich verletzt? Wo? Und vor allem wann? Meine Existenz hat doch gerade erst begonnen! Oder etwa nicht?

Ich fühle mich müde, lege mich auf den Boden und rolle mich wieder zusammen. Doch meine Augen wollen sich nicht schließen. Sie suchen alles ab. Aber sie finden nichts als Weiß. Weiße Wände, weißer Boden, weiße Decke. Es dauert, bis ich die Tür in all dem Sterilen entdecke. Sterilität und Sauberkeit. Ich denke über die Bedeutung dieser Worte nach. Irgendetwas stört mich. Doch warum, kann ich nicht sagen. Ist Sauberkeit etwas Schlechtes? Mein erster Gedanke ist: nein. Und doch ist da etwas, das nicht passt. Was ist das Gegenteil von sauber? Dreckig! Ich freue mich, dass mir das Wort und seine Bedeutung eingefallen sind. Doch auch Dreck ist nichts Positives. Wenn Sauberkeit nicht gut ist und Dreck auch nicht, wo liegt das Gute zwischen diesen beiden Begriffen?

Bevor ich eine Lösung finden kann, öffnet sich die weiße Tür, die ich vergessen habe. Vergessen … meine Gedanken zucken vor der Bedeutung dieses Wortes zurück und doch halte ich daran fest, verbeiße mich in das einzige, das mir eine Erklärung liefern könnte. Habe ich vergessen? Wenn ja, dann habe ich gewusst. Man kann nicht vergessen, wenn man nicht gewusst hat. Doch was habe ich gewusst?

„Brauchst du Hilfe beim Aufstehen? Kannst du laufen?“ Die Stimme ist weiblich. Sie klingt angenehm, freundlich.

Ich blicke hoch und sehe … einen Menschen? Bin ich ein Mensch? Bin ich weiblich oder männlich? Eine Hand legt sich um meine Schulter. Die Frau zieht mich sanft hoch. Ich strauchle, kann jedoch mit ihrer Hilfe stehen bleiben.

„Kannst du sprechen?“ Ich sehe sie an und nicke zögerlich. Ich glaube, dass ich sprechen kann. Ein Wort habe ich schon gesagt. Langsam öffne ich den Mund und schließe ihn, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Dann forme ich vorsichtig Laute und ich bekomme schließlich ein leises: „Ja …“, heraus.

Der Dank für meine Anstrengung ist ein warmes Lächeln. Die Frau ist schön. Sie ist vollkommen in Weiß gekleidet, ihre Haut hat einen dunkleren Ton. Ich muss an Kaffee denken mit einem Schuss Milch. Ich starre wieder auf meine Hände. Milch. Sie sind fast so weiß wie alles in diesem Raum. Wann hat diese Haut das letzte Mal Sonne gesehen? Sonne … ein Feuerball am Himmel, heiß und brennend, zerstörerisch und doch lebensspendend. Feuer … Licht … Wärme … Hitze …

„Das alles muss sehr verwirrend für dich sein. Der Anfang ist für alle schwer. Aber tröste dich damit, dass es deine freie Entscheidung war. Du wolltest einen Neuanfang. Wir entscheiden uns aus verschiedenen Gründen für die Wiedergeburt, für eine Chance auf ein neues, besseres Selbst. Doch die sind nicht mehr wichtig.“

Ich horche auf und bekomme ein ungutes Gefühl. „Wir?“, frage ich leise und verliere mich in der Wärme der Augen einer Frau, die mir ihren Namen nicht genannt hat und ich bin erleichtert darüber. Ich hätte ihr für ihren Namen nichts im Austausch geben können. Wenn ich einen Namen besessen habe, so habe ich ihn vergessen.

„Ich bin vor einiger Zeit denselben Weg gegangen, den du von jetzt an gehen wirst. Ich war eine Neugeborene und habe in mir den Wunsch zu helfen entdeckt. Deshalb bin ich hier. Ich will dir helfen.“

„Wie heiße ich?“, entschlüpfen mir die Worte. Eigentlich wollte ich sie nach ihrem Namen fragen.

„Du hast keinen Namen“, erwidert sie lächelnd, freundlich, warm. Und obwohl sie sagt, dass sie mir helfen will, spüre ich Vorsicht, Zweifel und Argwohn in mir. Bin ich ein schlechter Mensch gewesen? Habe ich schlechte Erfahrungen gemacht? Wieso bin ich so unsicher, wenn ich neugeboren bin? Müssen Neugeborene diese negativen Gefühle nicht erst lernen?

„Du hast noch keinen Namen. Wir nennen alle Neugeborenen nach ihrem Geburtsmonat und Geburtstag. Du heißt für den Moment Oktober Montag. Doch du kannst jederzeit einen Namen deiner Wahl annehmen. Es ist nur solange, bist du deinen Namen gefunden hast.“ Ich bin Oktober Montag? Heute ist Montag? Es gibt sieben Wochentage und der Montag ist nicht der beliebteste. Warum, kann ich nicht sagen, aber ich weiß, dass ich lieber an einem Freitag geboren wäre.

Wie werde ich den Montag los? Ich brauche einen neuen Namen, doch mir fällt keiner ein. Also frage ich: „Wie heißt du?“

„Sunshine.“ Ein ungewohnter Laut entweicht meinem Mund. Ich lache?

„Ja, es ist ein seltsamer Name, doch er bringt andere zum Strahlen und Lachen und das macht ihn passend für mich. Ich möchte meinem Umfeld Freude schenken.“ Ich schäme mich, doch Sunshine lächelt mich immer noch freundlich an und ich bin erleichtert. Den ersten Menschen, dem man in seinem Leben begegnet, sollte man nicht verärgern.

„Du kannst mich Mutter Sunshine nennen. Wir Mütter kümmern uns jeweils um einen Pflock Neugeborener, bis sie selbständig leben können“, sagt sie und nimmt mich in den Arm. Ich habe eine Mutter? Ihr Busen drückt gegen meinen Körper und ich taste an mir herum, bis meine Hände kleine Hügel spüren. Es ist nicht viel, könnten auch Männerbrüste sein. Wobei ich dann nicht so schmale Beine hätte … oder? Ich blicke zu Sunshine hoch, die ein Kopf größer ist als ich, und frage: „Bin ich männlich oder weiblich?“

Ihre Augen weiten sich vor Überraschung, dann verschwinden alle Emotionen hinter einem strahlenden Lächeln.

„Du bist alles, was du sein willst. Doch dein Körper ist der einer hübschen, jungen Frau.“ Meine Hände wandern wieder zu meinen Brüsten. Jung … heißt das, sie wachsen noch? Ein Blick zu Sunshines Oberkörper lässt etwas in mir aufsteigen … ein unangenehmes Gefühl, das sich nur schwer fassen lässt … Ist es Neid? Ich senke den Blick und lasse meine Arme leblos an meinen Seiten baumeln.

Sunshine nimmt sanft meine Hand in ihre und führt mich durch die Tür. Mit ihren Fingern um meine, wird das Gehen zu einer Leichtigkeit. Kurz drehe ich mich um, betrachte das weiße Zimmer, in dem ich das weiße Bett fast nicht ausmachen kann. Dann richte ich meinen Blick in das Zimmer, das vor mir liegt. Der Raum ist mit Spiegeln übersäht. Die Wände, die Decke, sogar der Fußboden.

„Ich lasse dich kurz alleine, damit du Zeit hast, deinen Körper aus jedem Blickwinkel kennenzulernen. Hab keine Angst, ich bin hinter dieser Tür. Sie ist nicht verschlossen. Du kannst jederzeit zu mir kommen.“ Sie presst leicht ihre Lippen an meine Stirn, dann ist sie verschwunden und ich bin alleine mit tausenden meiner Selbst. Es ist schwer, in all den unendlichen Ichs ein Mich zu finden. Also trete ich näher an die Wand zu meiner Linken und die Frauen in den Spiegeln bewegen sich mit mir.

Sie sind alle schlank. Kurzes dunkles Haar ragt ihnen wild vom Kopf, dunkle Augen, fast schwarz, starren mich aus einem schmalen Gesicht an. Sie wirken riesig. Eine schmale Nase mit einem leichten Hubbel, volle, rote Lippen. Meine Haut ist so weiß, wie das knielange Hemd, das ich trage. Meine Augen suchen die Narben, die meine Knie bedecken. Habe ich andere Narben? Ohne zu zögern, ziehe ich das Hemd über den Kopf und lasse es zu Boden gleiten.

Ich habe eine schmale Hüfte, kaum Brust. Ein Blick zwischen meine Beine bestätigt, dass ich weiblich bin. Wie alt bin ich? Meine Augen gehen auf die Suche nach Alterspuren, doch sie finden nichts. Bis auf die Narben an den Knien, scheint meine Haut makellos. Doch dann sehe ich genauer hin.

Feine Linien, kaum sichtbar, schmücken beide meiner Handgelenke. Der Gedanke, der aufkommt, gefällt mir nicht und doch verdrängt er alles andere: Habe ich versucht mich umzubringen? Habe ich die Neugeburt gewählt, weil mein altes Leben unerträglich war? Der Gedanke bringt anstatt Schmerz eine tiefe Ruhe in mich und ich werde müde. Ich finde noch ein Muttermal direkt unter meiner linken Brust. Sonst ist mein Körper, wie mein Geist, ein unbeschriebenes Blatt.

Nach einer Weile hebe ich das Hemd auf, streife es über und gehe zur Tür, hinter der Sunshine auf mich wartet. Der Gedanke hat etwas Beruhigendes. Ich bin nicht allein. Als ich in den nächsten Raum trete, umarmt mich Sunshine liebevoll und küsst mich auf die Wange.

„Der Raum der Spiegel soll dir die unendlichen Möglichkeiten zeigen, in die du dich verwandeln kannst. Du kannst dein neues Ich wählen. Du alleine bestimmst, wer du sein willst, wie du handeln möchtest und was du anstreben wirst. Das ist das Geschenk der Neugeborenen.“

„Und der Preis ist mein altes Selbst.“ Ich erschrecke über meine eigenen Worte. Sunshine sieht mich lange durchdringend an, sucht nach etwas. Doch ich weiß nicht nach was. Dann sagt sie: „Ein Preis, den wir alle freiwillig und mit Freuden bezahlt haben.“ Ich denke an meine Narben und die Worte purzeln aus meinem Mund: „Und wie gehen wir sicher, dass wir nicht immer wieder dieselben Fehler machen?“

„Wir lenken dich von dem weg, das dich zerstört hat“, sagt sie und ihr Lächeln ist nicht mehr ganz so strahlend. Ihre Antwort besteht aus nichtssagenden Worten und doch analysiert mein Gehirn, kristallisiert die unausgesprochenen Informationen heraus, die Sunshine nicht preisgegeben hat und die doch so offensichtlich vor mir liegen. Wer auch immer ‚wir‘ ist, jemand hat Informationen über meine Vergangenheit. Jemand will mich zu etwas oder jemandem machen, den er für gut befindet.

Ich bin ein leeres Gefäß, das jemand beabsichtigt, zu füllen. Etwas regt sich in mir, etwas Fremdes wühlt in meiner Brust. Meine Augen müssen etwas von meinen Gedanken preisgeben, denn Sunshines Lächeln erstirbt völlig. Ihr Gesicht wird dunkel, als hätte sich eine schwarze Wolke vor die Sonne geschoben. Ich bekomme eine Gänsehaut und versuche zu lächeln, doch stattdessen kullert eine Träne meine Wange hinunter. Mutter Sunshine nimmt mich in den Arm und flüstert: „Ich hätte dir das gerne erspart. Doch wir müssen sichergehen, dass dein Wille erfüllt wird. Dass alles Schreckliche, was du erlebt hast, aus deinem System verschwunden ist. Sonst wirst du auf ewig im Teufelskreis der Gewalt stecken bleiben. Wir tun es, damit du frei sein kannst.“

Ihre Worte machen mir Angst, doch ich folge ihr wie ein braves Kind der Mutter, als sie sanft meine rechte Hand ergreift und mich durch eine Tür führt. Wir betreten einen dunklen Raum, in dem nichts zu sehen ist. Ein Scheinwerfer geht an und erleuchtet einen einsamen Stuhl. Sunshine lässt mich platznehmen. Dann spüre ich etwas Kaltes an meiner Stirn, ein Ziehen und einen Druck. Etwas saugt sich an meinen Schläfen fest. Es schmerzt nicht, doch es ist unangenehm.

„Du bist jetzt an ein Gerät angeschlossen, das deine Gehirnströme misst. Ich werde dir ein paar Fragen stellen und dir Bilder zeigen.“ Ich verkrampfe mich. Es gefällt mir hier nicht. Doch ich habe keine Wahl … oder?

„Denk immer daran: Wir tun das, um sicherzugehen, dass dein Wille respektiert und ausgeführt wird“, sagt Sunshine und nimmt mir jede Möglichkeit zu wählen. Wenn mein altes Ego seinen Tod wollte, warum darf es über mich, die ich hier und jetzt lebe, entscheiden? Hat es nicht alle Macht, alles Recht aufgegeben, als es sich löschen ließ, wie ein virenbefallenes Programm? Doch ich weiß zu wenig, um entscheiden zu können, ob das hier okay ist, ob ich das hier wirklich wollte oder will. Wie ein Neugeborenes ohne jede Erfahrung habe ich keine Grundlage, auf deren Basis ich entscheiden kann.

Also bleibe ich gehorsam sitzen.

„Wie ist dein Name?“, fragt Sunshine und ich spüre ein Spannen an den Schläfen.

„Ich habe noch keinen Namen.“ Und das ist die Wahrheit.

„Was siehst du?“ Kaum hat sie die Worte ausgesprochen, leuchtet eine Wand auf. Weiß und Schwarz trennen sich. Nicht mehr, nicht weniger.

„Schwarze Flecken“, erwidere ich und schrumpfe in mich zusammen. Das ist sicher nicht das, was Sunshine hören wollte. Werde ich jetzt bestraft?

„Erinnern sie dich an irgendetwas?“ Ich schüttle den Kopf und verwerfe in einem Atemzug den Gedanken, irgendetwas zu sagen, um Sunshine glücklich zu machen. Um wieder von diesem Stuhl zu dürfen. Der Druck an meiner Schläfe ist unangenehm. Ich will hier weg.

„Ich benötige eine verbale Antwort.“ Ich atme tief durch und sage: „Nein.“ Wie soll es auch? Dann spüre ich einen Stich im Nacken. Erschrocken schreie ich auf, mein Kopf wird nach hinten gezogen und ich durchlebe alles, was heute geschehen ist. Etwas wühlt in der Schwärze meines Geistes, sucht, stöbert, lässt mir keinen Platz zum Verstecken. Tief dringt es in mich vor und ich weiß, dass, wenn ich Geheimnisse hätte, es sie wie ein Staubsauger in sich aufsaugen würde. Doch da ist nichts. Wie kann da auch etwas sein? Ich fühle mich leer, weil ich leer bin. Wie eine Flasche hat man mich umgekippt und mein Inhalt, alle Erinnerungen sind im Sandboden versickert. Unerreichbar für mich. Für immer verschwunden?

Ich atme schwer und als ich glaube, ich müsste unter dem Druck zerbrechen, sehe ich in der Dunkelheit ein Licht. Verzweiflung kommt in mir auf und Angst. Was da auch immer in mir lauert, darf nicht gefunden werden. Kurz bevor der Staubsauger das kleine Licht erreicht, erstirbt der Sog. Ich keuche, zwinkere und spüre Arme um mich. Der Duft nach einer Sommerwiese erfüllt mich und Sunshine drückt mir ihre Lippen auf die Stirn.

„Es tut mir leid, aber ich musste sichergehen, dass wir alle Erinnerungen gelöscht haben. Die Prozedur ist nicht angenehm, aber jetzt besteht kein Zweifel, dass du neugeboren bist.“ Sie streichelt mir die Haare aus der Stirn und ich frage mich kurz, was passiert wäre, wenn sie das Licht in mir entdeckt hätte, wenn sie den Staubsauger nur einen Moment länger in mir hätte wüten lassen.

Ich halte den Mund, versuche ein Lächeln und taste vorsichtig in mir herum. Das Licht ist nicht zu finden, doch ich kann spüren, dass es da ist. Ich bin nicht vollkommen leer, etwas haben sie mir nicht nehmen können. Und was auch immer es ist. Ich werde es mit Zähnen und Klauen verteidigen. Kurz wundere ich mich, wo der Kampfgeist herkommt. Wieso sträubt sich in mir alles, wenn ich genau das hier wollte?

Sunshine legt mir ein weißes Armband um, Oktober Montag leuchtet schwarz auf der Anzeige auf, als ich das Armband berühre.

„Dein biologischer Charakter scheint sehr stark ausgeprägt zu sein. Viele Neugeborene können die erste Zeit nur Befehle befolgen. Die wenigsten sprechen direkt nach der Wiedergeburt und ich habe noch niemanden erlebt, der solche Fragen stellt wie du. Das ist ungewöhnlich. Du bist etwas Besonders.“ Das klingt nicht danach, als wäre es etwas Gutes. Ich versuche mich zurückzuhalten, doch mein Gesichtsausdruck scheint mich zu verraten.

„Charakterstärke kann etwas Gutes sein, aber es wird die Anfangszeit, die Akzeptanzphase, nicht erleichtern.“ Und wieder sind es all die kleinen Dinge, die Sunshine nicht sagt, die mich aufhorchen lassen.

 

Es ist besser sich anzupassen, nichts in Frage zu stellen und alles so zu akzeptieren, wie es ist.

 

Eine Frage liegt mir auf der Zunge, doch ich schlucke sie herunter. Und die unausgesprochenen Worte gesellen sich tief in mir zu dem Licht, das ich nicht erreichen kann: Was hätte Sunshine getan, wenn sie etwas in mir gefunden hätte?

„Lass mich dich in dein Zimmer bringen. Deine Zimmergenossen sind sicher schon gespannt auf dich.“

Zimmergenossen? Sunshine führt mich durch eine Tür, einen Gang entlang, dann eine Treppe hoch und vor meinen Augen explodiert eine Welt, zerreißt alles in Stücke, was ich geglaubt habe zu wissen. Ich öffne meinen Mund, doch kein Laut entschlüpft meinen Lippen. Vor mir sehe ich ein gläsernes Labyrinth aus Rolltreppen. Kreuz und quer überschneiden sie sich, winden sich umeinander. Auch wenn ich niemanden außer Sunshine und mir sehe, ist alles in Bewegung.

Glaswände rahmen das Labyrinth ein. Sie sind übersäht mit Türen. Woher weiß man, wohin man rollt? Wie kann man entscheiden, wo man hin will und wie man dorthin kommt? Ich verliere das Gefühl für unten und oben und meine Knie werden weich. Dann spüre ich Sunshines warme Hand auf meiner Schulter.

„Keine Angst! Alles hat ein System. Alles hat einen Anfangspunkt und ein Ende. Ich bin da, bis du deinen eigenen Weg findest.“

Es klingt wie ein Versprechen. Es klingt wie eine Drohung. Ich bin überwältig und nicke nur, denke an das kleine Licht in mir, das im Moment das einzige Ziel ist, das ich habe.

 

Wie soll ich wissen, was ich will, wohin ich will, wenn mein altes Ich alles aufgegeben hat, was ich einmal war?

Wie kann ich eine Zukunft haben ohne Vergangenheit?

Wie kann ich stark sein, ohne zu wissen, was mich schwächt?

Wie kann ich laufen, ohne zu wissen, wie man geht?

Wie soll ich tauchen, wenn ich mich nicht daran erinnere, wie man atmet?

Was ist passiert? Was hat mich so zerstört, dass ich nicht mehr ich sein wollte?

Was habe ich getan?

Was wurde mir angetan?

Bin ich ein Täter?

Bin ich Opfer?

Bin ich noch ein Mensch oder ein Computer, bei dem man auf Neustart gedrückt hat?

 

Ich folge Sunshine wie in Trance, merke nicht, wie wir auf welche Treppe steigen, welche Abzweigung wir entlangrollen. Obwohl sich der Boden unter mir bewegt und ich einfach stehenbleiben könnte, setze ich einen Fuß vor den anderen. Warum? Was treibt mich an? Ich kenne niemanden, ich habe nichts. Und doch schreite ich der Zukunft entgegen, anstatt sie auf mich zukommen zu lassen.

Wo kommt der Drang her, wenn der Wille nicht existieren kann? Fragen über Fragen. Sie wollen aus mir herauspreschen, doch ich presse die Lippen aufeinander und schlucke sie herunter, presse sie tief in mich, bis sie zu einem stillen Teil von mir werden. Und ich bin. Etwas macht mich aus. Etwas treibt mich an. Meine Fragen schicken mich auf die Suche nach Antworten und ich erkenne die Bedeutung von Fragen, die mehr Kraft in sich tragen, als Antworten es je könnten.

Sunshine führt mich durch das Kubus-Labyrinth in einen gläsernen Gang. Nur Decke und Boden bieten dem Auge Ruhe. Die Wände sind alle durchsichtig und es wuselt umher, wie in einem Albino-Ameisenhaufen oder einem weißen Bienenstock. Die Vergleiche, die in mir auftauchen, erfreuen mich. Ich weiß, was Ameisen sind und Bienen. Das Wissen wärmt mein Herz und es dauert, bis ich die perfide Bedeutung des Glases erkenne.

Ich werde in einem Aquarium leben, ohne jede Möglichkeit auf Privatsphäre. Schlimmer als jedes Gefängnis, nimmt mir die Durchsichtigkeit jeden Freiraum. Mein Magen rebelliert. Das Wort Privatsphäre scheint riesig und ich kann es nicht fassen. Was bedeutet es? Was will ich tun, das niemand anderes sehen soll? Als mir Tränen in die Augen steigen, habe ich meine erste Antwort. Warum, weiß ich nicht, aber ich darf keine Schwäche zeigen. Ich kämpfe mit dem Kloß in meinem Hals, der Schwäche in meiner Brust und der Trauer, um etwas, das ich nie besessen habe: Freiheit.

Glas, das alles freigibt. Transparenz, die alle Geheimnisse im Keim erstickt. Zu viel, um gut zu sein. Mich umgeben keine Wärter, doch die Augen, die mich durch das Glas hinweg anstarren, sind auf Wanderschaft. Sie gehen auf die Suche nach Informationen über mich. Jeder Schritt wird zur Prüfung.

„Wir sind alle eine große Familie und haben keine Geheimnisse. Wir sprechen offen über alles. Ehrlichkeit wird hier groß geschrieben. Alle, die du hier siehst, durchleben gerade das gleiche wie du oder haben es durchlebt. Sie können dich führen, lenken und dir bei allem, was vor dir liegt, helfen. Das erste, das du lernen wirst, ist die Bedeutung der Gemeinschaft. Du bist nicht alleine.“ Sunshine lächelt mir aufmunternd zu, als sie bei einer Glaswand anhält und ihre Hand auf eine kleine Anzeigetafel presst.

Kurz leuchtet der Bildschirm grün auf, dann surrt es und ein Teil der Glaswand verschwindet in der Decke. Alles, was vorher nur ein bewegtes Stillleben gewesen ist, bekommt Volumen, einen Soundtrack. Stimmen sprechen leise miteinander, im Hintergrund höre ich das Rauschen eines Wasserfalls und das Zwitschern von Vögeln. Mädchen und Frauen stehen nach Größe sortiert wie Soldaten vor mir. Alle tragen sie die gleiche weiße Tunika und ein weißes Armband um ihr linkes Handgelenk.

Ich weiß nicht, wo ich mich hinwenden soll und meine Augen begegnen einem wunderschönen Hellblau und Grübchen kommen zum Vorschein. Ein Lächeln, bezaubernd und verboten niedlich. Mein Herz schmilzt und die Angst fällt von mir ab. Ich kann ihr Lächeln nur erwidern.

„Hallo meine Schäfchen, das ist Oktober Montag. Seid freundlich und hilfsbereit zu ihr. Jeder von euch weiß, wie schwer die ersten Tage sind. Also, wer möchte die Patenschaft für Oktober Montag übernehmen?“

Verlegen blicke ich zur Seite, als schon eine Hand eifrig hochschießt und ich bin glücklich, als die junge Frau mit den Grübchen und den blauen Augen eifrig winkt. Erleichterung füllt meine Brust. Es ist unfair, aber die anderen machen mir Angst, sie sehen aus, wie ich mich fühle: leer.

„September Freitag …“

„Ich heiße jetzt Dannie!“, fällt September fröhlich Sunshine ins Wort. Sunshine verdreht die Augen und erwidert: „Der wievielte Name ist das jetzt?“

„Nummer 23“, sagt Dannie, ohne ihr Lächeln abzulegen.

„Wegen dir wird noch eine maximale Namenszahl festgelegt.“ Auch wenn Sunshines Worte hart klingen, so ist ihr Lächeln liebvoller, als ich es bisher gesehen habe.

„Bei diesem habe ich ein gutes Gefühl“, erwidert Dannie leichtherzig.

„Also gut, Dannie, du kennst ja die Aufgaben eines Paten. Oktober Montag, Dannie wird dich zu ihrem Stundenplan mitnehmen, bis du deinen eigenen bekommst. Folge ihr einfach. Sie wird all deine Fragen beantworten.“

Und in diesem Augenblick glaube ich an Sunshines Worte und lege alles, was mich im Moment ausmacht, vertrauensvoll in Dannies Hände. Als die anderen vorgestellt werden, entgeht mir nicht, dass wir einen Jahreszyklus bilden. Von Januar bis Dezember ist alles vertreten. Bin ich der Ersatz für den vorhergehenden Oktober? Falls ja, was ist mit meiner Vorgängerin geschehen?

Sunshine lässt uns eine Stunde zum Kennenlernen, bevor der Tagesablauf beginnt. Dannie scheint mit ihrem Redeschwall die Stille und Zurückhaltung der anderen übertönen zu wollen. Ich versuche zuzuhören, doch mehr als Wortfetzen dringen nicht zu mir durch.

„… Ruhe findet man hier genug … wenig Aufregung … interessanter Unterricht … regelmäßige ärztliche Untersuchung … freundliche Lehrer … langweiliges Essen … große Bibliothek … zu wenige Kinonächte und Tanzabende…“

Mein Kopf schwirrt und ich kann Informationen nicht von Meinungen und Wertungen trennen. Alles verschwimmt zu einer homogenen Masse. Dannies Stimme wird Teil der Hintergrundgeräusche. Alles, woran ich denken kann, ist, dass ich an einem Montagmorgen im Oktober wiedergeboren bin und in kurzer Zeit mein erstes Frühstück zu mir nehmen werde. Nach einem Anker suchend, hafte ich meinen Blick an das Abteil, das man mir zugesprochen hat, konzentriere mich auf den wenigen Raum, der nur für mich bestimmt ist.

Mein Platz in dieser seltsamen Gemeinde.

Ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch. Neutral, kahl und weiß. Nichtssagend. Mein Blick schweift zu den anderen Betten und Dannie zählt sofort auf, wer wo schläft. Das System ist simpel wie die Namensgebung. Dannie ist die einzige, die ihren Namen geändert hat. Rechts neben mir ist Novembers Bett. Obwohl sie meiner Vermutung nach fast ein Jahr hier ist, finde ich nichts Persönliches auf ihrem Bett oder ihrem Schreibtisch. Alles sieht neu und unbenutzt aus. Als hätte sich November selbst gerade erst aus dem Ei gepellt. Genauso bei Dezember, Januar, Februar bis hin zu August.

Nur der September ist anders. Dannies Bett ist etwas unordentlicher als die der anderen, Bücher und Hefte liegen wild verteilt auf dem Tisch und geben ihrer Ecke, die direkt neben meiner ist, eine persönliche Note. Es sieht im Vergleich zu den anderen unordentlich aus und doch verwandelt sich bei Dannie Unordnung in etwas Warmes, Vertrautes. Ein Wort sticht wie eine spitze Nadel in mein Herz: heimisch. Heimat … Zuhause.

Ein weiteres Wort, dessen Bedeutung ich nicht ganz fassen kann. Ist dieses nichtssagende Bett mein Zuhause? Mein Zufluchtsort? Sind die Mädchen und Frauen, die mich umgeben, meine Familie? Mein Blick trifft Dannie und die Unruhe verschwindet, wird ertränkt in dem Schwall von Wörtern, aber vor allem in dem aufgeregten Glitzern in ihren Augen und in der Wärme ihres Lächelns. Und ich habe das Gefühl, dass ich mich hier geborgen fühlen könnte.

Doch dann lenkt Dannie meine Aufmerksamkeit auf die Sanitäranlagen. Die Wände um die Duschen sind … durchsichtig! Die Wände um die Toiletten … sind durchsichtig! Ungläubig starre ich Dannie an, die zum ersten Mal den Mund hält und mich genau beobachtet. Etwas Bösartiges leuchtet in ihren Augen auf, als sie mich in einen der vier gläsernen Kuben zieht. Und mein Herz bleibt stehen vor Glück, als sich die Fronte um uns verdunkeln.

Ein glockenklares Lachen schallt durch das Bad.

„Du hast doch nicht wirklich gedacht, dass wir dies und jenes und das da vor aller Augen machen, oder?“ Ich schüttle lächelnd den Kopf, auch wenn ich mir eingestehen muss, dass ich für kurze Zeit wirklich Angst gehabt habe.

„Du musst jedoch achtgeben! Die Scheiben bleiben 20 Minuten dunkel. Sobald das Licht ausgeht, werden die Scheiben wieder durchsichtig. Egal ob du dieses oder jenes gerade machst. Auch bei den Duschkabinen.“ Ich nicke langsam und bin froh um das kleine bisschen Privatsphäre in dieser gläsernen Welt.

„Ein Bad ist auf drei von uns ausgelegt. Es gibt einen Nutzungsplan und einen Reinigungsplan. Wir halten hier alles selbst sauber. Mutter Sunshine erstellt die Pläne. Wenn du also Beschwerden hast, kannst du dich an sie wenden. Auch wenn das nicht viel bringen wird. Glaub mir, ich habe es versucht und bin eine Woche lang alleine für unser Bad eingeteilt worden. Es ist einfach übertrieben, das ganze Bad zwei Mal am Tag zu putzen. Man könnte die Zeit so viel sinnvoller nutzen. Schlafen, lesen, tanzen, Musik hören … Aber es ist wirklich besser, du behältst diese Meinung für dich. Es hat Tage gedauert, bis ich das Gefühl hatte nicht mehr nach Zitrone oder Meeresbriese zu duften … Riech mal! Riechst du was?“

Dannie hält mir ihre Hand unter die Nase und ich schüttle den Kopf, obwohl ich einen Geruch einfange, der wirklich salzig riecht … salzig wie das Meer. War ich schon einmal am Meer? Woher weiß ich, wie das Meer riecht? Dannie plappert fröhlich weiter. Anscheinend hat sich mein Gehirn an ihre Redeweise gewöhnt und ich schaffe es, ihr eine Weile zu folgen und meine Nervosität zu vergessen, als wir uns gemeinsam in die Kantine aufmachen.

Der Gedanke an mein allererstes Frühstück verursacht ein seltsames Kribbeln in meinem Bauch und Dannie beruhigt mich lachend.

„Es ist nichts Besonderes. Jeden Morgen gibt es das gleiche. Langweilig, aber nahrhaft. Mutter Sunshine sagt, dass wir dankbar sein müssen, etwas zu essen zu haben.“

Heißt das, nicht jeder hat etwas zu essen, frage ich mich und es kommt mir falsch vor. Doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, ertrinken meine Gedanken in einem Meer aus Weiß und ich fühle, wie ich mich auflöse. Unzählige Frauen, in dem gleichen Gewandt gekleidet, bilden eine Masse, die sich synchron wie ein riesiges Lebewesen bewegt. Der Einzelne wird zu einer kleinen Zelle, die genau ihren Platz kennt, ihre Aufgabe. Wie soll ich mich in dieses System, das Zahnrad an Zahnrad passgenau konstruiert ist, eingliedern?

Möchte ich das überhaupt?

Wie sollen wir uns in dieser nichtssagenden Welt finden? Ein Ich aufbauen, wo nur ein Wir existiert? Ich bin überwältigt von der Gleichheit, den ausdruckslosen Gesichtern. Alleine Dannies aufmunterndes Lächeln gibt mir Hoffnung. Und ihre Worte schenken mir ein Rückgrat, als sie leise in mein Ohr flüstert: „Du bist nicht wie sie. Das habe ich gleich gesehen. In dir brennt ein Licht.“ So leise, dass es auch meine eigene Gedanken sein könnten, doch es hilft. Ich lächle und finde die Kraft, zu schwimmen und gegen das Ertrinken anzukämpfen.

Unsere Gruppe von zwölf stellt sich an eine Schlange an. Jeder bekommt ein Tablett mit dem gleichen Inhalt. Eine graue Masse, eine braune Flüssigkeit. Wir setzen uns gemeinsam an einen freien Tisch. Ich bin mir noch nicht sicher, doch ich glaube, dass wir unseren Namen nach einen Kreis bilden.

Ich stochere skeptisch in der grauen Masse. Dannie stößt mir einen Elenbogen in die Rippen und ich zwinge meine Hand ein wenig von der seltsamen Paste auf den Löffel zu schaufeln und führe ihn zu meinen Lippen, schiebe den Inhalt vorsichtig in den Mund und verziehe das Gesicht in Erwartung eines scheußlichen Geschmacks. Doch es schmeckt nach nichts. Überrascht und zu meinem Erstaunen enttäuscht, nippe ich an dem braunen Getränk. Es schmeckt wie Tee. Lauwarmer Kräutertee.

„Und es gibt jeden Tag das Gleiche zum Frühstück?“, frage ich in der Hoffnung, dass Dannie mich auf den Arm genommen hat. Ein Witz in einer Welt der Gleichheit. Ich bin nicht überrascht, als Dannie traurig bejaht.

„Aber das Mittagessen variiert! Es gibt sieben verschiedene Gerichte!“ Ich kann mir denken, dass auch diese im gleichen Zyklus immer und immer wiederkehren. Doch ich behalte meine Gedanken für mich. Ich habe nicht das Recht, mich über etwas zu beschweren, das man mir einfach so gibt, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Oder?

„Dannie“, frage ich zögerlich, „arbeiten wir?“

Dannie schüttelt den Kopf und erklärt: „Im ersten Jahr sind wir Schüler, die nach sich selbst suchen und einer Aufgabe, die ihnen Erfüllung bringt.“

Ich blicke mich um und suche in den Gesichtern nach einem Funken, der verrät, dass sie an irgendetwas Interesse haben. Viele sind es nicht, die ich ausmachen kann. Die meisten löffeln ihre graue Paste wie gehorsame, kleine Roboter in sich hinein.

„Wie kommt es, dass Mutter Sunshine so fröhlich ist, wenn alle um uns so … so … apathisch sind?“

Dannie blickt sich verstohlen um und flüstert dann leise: „Soweit ich das nach nicht ganz einem Monat beurteilen kann, ist für jeden die Wiedergeburt individuell. Ich habe ein Mädchen gesehen, das sich ständig in die Hose gemacht hat, weil sie nicht wusste, wann sie auf die Toilette muss. Wie ein Baby. Sie musste erst lernen, wann ihr Körper was für Bedürfnisse hatte. Andere haben Sprachprobleme. Aber die meisten sind am Anfang nur willenlose Puppen. Und dann gibt es solche wie dich und mich. Wir erinnern uns zwar nicht an unsere Vergangenheit, darüber hinaus jedoch arbeiten unsere Gehirne normal. Die kognitiven Prozesse funktionieren reibungslos. Jeder Neugeborene hat seine eigenen Bedürfnisse, daher hat jeder auch einen individuellen, auf sich ausgerichteten Unterrichtsplan.“

„Unterrichtsplan …“, wiederhole ich und versuche zu verarbeiten, was ich gerade gehört habe. Dannie nickt und öffnet wieder den Mund und ich schiebe schnell noch eine Frage hinterher. Wer weiß, wann ich sonst wieder bei Dannies Redeschwall die Gelegenheit dazu bekomme. Ich wundere mich kurz, ob ihr Gehirn genug Sauerstoff bekommt und frage: „Werden die anderen mit der Zeit … normal?“

Dannie scheint es, zu meiner Überraschung, die Sprache verschlagen zu haben, und sie sieht mich kurz konzentriert an, bevor sie tief Luft holt: „In meiner Zeit hier, habe ich bei unseren Monaten kleine Fortschritte gesehen. Ich hoffe einfach ganz fest, dass es nicht nur Wunschdenken ist.“ Dann tritt eine ungewohnte Stille zwischen uns und ich werde unruhig. Nach den vielen Worten, fühlt sich Dannies Schweigen falsch an, wie eine Strafe. Also sage ich etwas, irgendetwas: „Wie sieht denn dein Unterrichtsplan aus?“

Ich atme erleichtert auf, als Dannie den Mund öffnet und sich ein Schwall an Informationen, Meinungen und Wertungen über mich ergießen.

„Morgens habe ich immer Ethik und Philosophie. Ich mag diese Gruppe. Da sind viele wie wir. Mädchen und Frauen, bei denen die kognitiven Prozesse wieder voll funktionieren. Die Neigungsfächer sind jeden Tag frei wählbar. Mutter Sunshine nennt es die Zeit der Findung. Es gibt verschiedene Kurse und man darf sich immer wieder neu entscheiden, wo man hin will. Im Moment werden Kochen, Malen, Töpfern, Nähen, Programmieren, Chemie und Mathematik angeboten. Das Programm soll sich ständig wechseln und sich unseren Bedürfnissen anpassen. Kannst du lesen und schreiben?“ Erwartungsvoll sieht Dannie mich an. Doch ich kann nur mit den Schultern zucken und flüstere: „Ich weiß es nicht.“

„Keine Sorge! Mutter Sunshine ist sicher schon dabei einen Test für dich zusammenzustellen. Nach deiner ersten Woche werden deine Fähigkeiten und dein Wissensstand gemessen und dein eigener Stundenplan erstellt. Oh, ich hoffe so, dass wir ein paar gemeinsame Fächer haben! Komm, ich zeige dir den Weg zu den Unterrichtsräumen!“ Dannie greift nach ihrem Tablett, springt auf und ich folge ihr zur Geschirrabgabe. Dann laufen wir verschiedene Glasgänge ab und meine Augen fressen sich an den bewegenden Stillleben fest. Wie in einem alten Schwarzweißfilm, sehe ich durch die Glaswände alles, doch kein Laut dringt an mein Ohr.

Dannie fliegt an leeren Räumen mit aneinandergereihten Stühlen vorbei, bis ans Ende eines langen Ganges. Sie setzt sich in die erste Reihe, zappelt unruhig vor sich hin und wird plötzlich ganz ruhig, als eine wunderschöne Frau den Raum betritt. Sie hat ein schmales Gesicht, in dem pastellgrüne Augen freudig leuchten. Sommersprossen bedecken jeden Tupfer Haut, den ich sehen kann. Feuerrote Haare fallen in Locken über ihre Schultern, bis zu ihrer Taille.

„Guten Morgen, Dannie! Wer ist denn deine neue Freundin?“ Dannies Wangen röten sich und sie stottert vor Aufregung: „Das i… ist Mo!“ Mo? Ich starre Dannie verblüfft an und hebe fragend eine Augenbraue.

„Besser als Om, oder?“ Ich muss lächeln und drehe mich der schönen Rothaarigen zu, die mir die Hand hinstreckt.

„Mein Name ist Aira. Herzlich willkommen, Mo! Im wievielten Monat bist du?“ Ich verstehe ihre Frage nicht und blicke hilfesuchend zu Dannie.

„Es ist heute ihr erster Tag. Ich bin ihre Patin!“, verkündet Dannie stolz.

„Dein erster Tag? Und du bist schon so fit? Alle Achtung! Ich unterrichte Philosophie, Ethik, Literatur, aber eigentlich würde ich am liebsten den ganzen Tag nur lesen. Da das leider nicht geht, versuche ich, andere mit meiner Leidenschaft anzustecken.“ Aira zwinkert mir zu.

„Ich … ich lese gerne! Mich haben Sie angesteckt!“ Aira lacht, streichelt Dannie über den Kopf und Dannie sieht so aus, als würde sie gleich vor Glück platzen. Ich muss lächeln und Aira bedenkt mich mit einem seltsamen Blick, den ich nicht deuten kann. Allmählich kommen andere Frauen und ein paar junge Mädchen in den Raum und setzen sich. Aira wendet ihre Aufmerksamkeit der ganzen Gruppe zu und ich kann Dannies Widerwillen, die Aufmerksamkeit ihrer Lehrerin mit anderen zu teilen, körperlich spüren. Ein leises Lachen entschlüpft meinen Lippen und wieder fange ich einen seltsamen Blick von Aira auf.

„Was wir für wahr halten, muss nicht wahr sein. Urteile können irren, Gefühle den Verstand verdrehen. Deshalb halten wir uns nur an unumstrittene Fakten und entscheiden vorurteilsfrei und basierend auf Tatsachen, die fundiert belegt sind. Vor allem für Neugeborene ist es schwierig, Situationen richtig einzuschätzen, da sie auf wenig oder keinen Erfahrungsschatz zurückgreifen können. Doch genau hier liegt auch die Freiheit. Ihr könnt frei von allen Stereotypen und Vorurteilen, nur auf Fakten basierend, Entscheidungen fällen. Neugeborene werden häufig als neutrale Jury bei schwierigen Prozessen eingesetzt. Haltet euch an die Werte, die euch hier vermittelt werden und ihr werdet nie wieder falsche Entscheidungen treffen. Und falsche Entscheidungen sind der Quell aller Probleme. Gestresste Menschen treffen häufig aufgrund von Emotionen Entscheidungen, die das Leben anderer negativ beeinflussen. Hier, bei uns, unter uns, seid ihr davor sicher.

Wir sind der Schutzwall, hinter dem ihr euch entwickeln und stärken könnt. Einige von euch werden so stark und in unseren Idealen verfestig werden, dass sie, wenn sie es wünschen, in die Gesellschaft zurückgeführt werden. Viele von euch jedoch werden ihr Leben hier verbringen, in dem sicheren Schoß der Menschen, die die gleichen Ideale teilen. Sprecht mir nach:

 

Ich spreche die Wahrheit. - Ich spreche die Wahrheit.

Ich helfe mit Freuden. - Ich helfe mit Freuden.

Ich bin bescheiden. - Ich bin bescheiden.

Ich liebe alle. - Ich liebe alle.

Ich teile, was ich besitze. - Ich teile, was ich besitze.

Ich arbeite hart. - Ich arbeite hart.

Ich vergebe. - Ich vergebe.

Ich bin wir. - Ich bin wir.

 

Die Worte im Chor gesprochen, haben Macht. Ich spüre die Energie und werde fortgerissen mit dem Strom. Dannies Augen glänzen und auch ich werde fortgetragen von dem Bild einer Welt, in der alles in Ordnung ist. Ich höre hin und mir gefällt das, was ich nicht höre, die Information, die im Stillen mitschwingt.

Eine Welt, in der

niemand lügt,

niemand anderen schadet,

niemand egoistisch ist,

niemand hasst,

niemand nach weltlichem Luxus strebt,

niemand faul ist,

niemand sich für etwas rächen muss,

niemand nur an sich denkt.

 

Ich wünsche mir diese Welt von Herzen und ich werde alles tun, um diese Welt zu formen und zu erhalten. Das Meer aus Weiß verliert seinen Horror. Die eintönige Gleichheit bekommt etwas Vertrautes, Tröstendes. Und die Worte Privat und Persönlich verblassen gegen das Strahlen einer Welt, in der alles in Ordnung ist. Ich gebe einen Teil von mir ab und werde zu einem großen Ganzen.

Meine Unsicherheit verfliegt und mit ihr der Argwohn. Ich möchte ein Teil dieser Gesellschaft sein, lernen und diese wundervollen Ideale weitergeben. Mein Herz schlägt schneller und ich tauche ein in pastellgrünes Mint. Als ich mich vorsichtig in dem kleinen Kreis umsehe, erblicke ich das gleiche Feuer, das in mir brennt, in den Augen aller. Wir sind nicht viele, doch die Frauen um mich, die so anders sind als die gesichtslosen und charakterlosen Wesen, die mich in der Kantine umgeben haben, zeigen mir einen Weg, den ich gehen möchte.

Mit Geduld, Zeit und viel Zuwendung, da bin ich mir sicher, werden aus den nichtssagenden Pflanzen blühende Rosen und farbenfrohe Schmetterlinge. Airas feurige Worte füttern das Licht in mir und ich weiß, ich werde alles tun, um eine Welt und eine Gesellschaft zum Blühen zu bringen, die auf Wahrheit, Rechtschaffenheit und Nächstenliebe aufgebaut ist. Es ist eine Welt, in der man gerne lebt. Was für eine schlechte Welt da draußen auch existiert, wie sehr sie die Menschen auch in Stücke reißt, mein altes Ich in Stücke gerissen hat, hier ist die Welt in Ordnung.

Und wenn wir im Kern stark bleiben, können wir unsere Welt in das Draußen tragen, bis auch Draußen zu unserem Kern gehört. Vielleicht bin ich wirklich gestorben und im Paradies gelandet. Die Suche nach mir selbst, die Fragen, die mir Kraft gegeben haben, sind nicht verschwunden, nur in den Hintergrund getreten. Ich möchte Teil des Wirs werden und mich selbst im großen Ganzen finden.

Dannie greift nach meiner Hand, blickt mir in die Augen, lächelt und flüstert: „Ich wusste, dass du es verstehen würdest!“ Ich drücke ihre Hand leicht und erwidere ihr Lächeln, freue mich hier sein zu dürfen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 02 - Lüge & Wahrheit

Es ist eine Unbedachtheit, die meine neugewonnene Sicherheit ins Wanken bringt. Meine Ideale erzittern unter dem Aufprall eines Meteoriten, den ich nicht habe kommen sehen. Auch wenn sich der Krater, den er hinterlässt, mit Tränen füllt, um das Loch zu stopfen, das er in mein junges Ich gerissen hat, und der Boden, auf dem ich mich bewege, oberflächlich gesehen glatt ist, muss jeder Tritt kalkuliert und vorsichtig gesetzt werden, wenn ich nicht in

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 31.05.2016
ISBN: 978-3-7396-5821-6

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