Sie kamen nicht in der Nacht. Die Sonne stand hoch am Himmel, es war Mittagszeit. Serena saß mit ihrer Mutter und ihrem Vater am Tisch, vor sich eine karge Mahlzeit. Eine Suppe, für jeden ein Stück Brot und Wurst. Wurst gab es nicht immer. Aber ihr Vater hatte eine neue Stelle bekommen. Das wollte er feiern und Serena eine Freude machen. Doch Serena brauchte weder die Wurst noch das trockene Stück Brot, das es immer zur Mittagssuppe gab, vielleicht nicht einmal die Suppe. Sie brauchte nur ihn. Sie wollte ihn nur betrachten, sein Gesicht, seine blauen Augen, wenn sie aufleuchteten und seine Mundwinkel sich dabei nach oben zogen.
„Das ist ein Lächeln“, hatte er ihr erklärt, „man lächelt, wenn etwas Gutes passiert. Wenn man sich freut.“
FREUEN, LÄCHELN. Serena verstand, dass es eine Verbindung gab, konnte jedoch mit dem Begriff „Freuen“ nichts anfangen, vermied es jedoch nachzufragen. Als sie einmal wissen wollte, was „Gefühle“ seien, hatte er sie mit einem Ausdruck in den Augen angesehen, den er normalerweise nur bekam, wenn er ihre Mutter anblickte. Jedes Funkeln und Strahlen, die sonst in seinen Augen tanzten, starben. Serena wollte die Funken zurück und der Gedanke, sie würden nie wiederkommen, verursachte ein seltsames, unangenehmes Ziehen in ihrer Brust. Allen Ungereimtheiten zum Trotz festigte sich bei Serena die Definition von „Freuen“ als tanzendes Funkeln in den Augen und das Hochzucken der Mundwinkel.
Draußen auf dem Hof an der kleinen Holzhütte stand ein Fass, über dem ein Spiegel hing. Ihr Vater hatte ihn dort zum Rasieren aufgehängt. Serena war einmal auf das Fass geklettert und hatte lange die kleine Version ihres Vaters betrachtet, die ihr aus der trüben Oberfläche entgegenstarrte. Den Witterungen ausgesetzt, hatte sich der Spiegel am Rand bereits hier und da rostbraun verfärbt. Serena sah das gleiche lockige, schwarze Haar, blaue Augen, die sich in der Farbe nicht von denen ihres Vaters unterschieden. Ihre Haut war heller, die Augenbrauen dünner und die Gesichtszüge feiner und kindlicher.
Doch Serena suchte nicht nach diesen Ähnlichkeiten. Etwas Gravierendes fehlte. Sie starrte so lange in den Spiegel, bis ihre eigenen Gesichtszüge zerflossen und sie ihren Vater vor sich sah. Aber etwas stimmte immer noch nicht. Etwas war anders.
Das Lächeln fehlte.
Serena versuchte ihre Mundwinkel hochzuziehen, um den schönen Bogen nachzuahmen, der so gut wie immer die Lippen ihres Vaters umspielte. Es dauerte eine Weile, bis sie herausgefunden hatte, wie sie ohne Zuhilfenahme der Hände ihre Gesichtszüge verändern konnte. Nach mehreren Versuchen bildeten ihre Lippen endlich einen schönen Bogen und sie ließ ihren Blick vom Mund zu den Augen wandern. Sie waren glanzlos, stumpf und leer.
Plötzlich verschwamm das Bild und statt schwarzem sah Serena blondes Haar, das zu einem Dutt hochgesteckt war. Graue Augen, die ihr ausdruckslos entgegenstarrten. Sie blickte in das Gesicht ihrer Mutter: makellos, wunderschön und kalt. Während das ihres Vaters sich ständig veränderte, jedes der kleinen Fältchen in einem synchronisierten Tanz auf- und abzuspringen schienen, waren die Züge ihrer Mutter wie in Stein gemeißelt. Die Augen ohne Licht, stumpf, wie ihre eigenen. Das Bild verschwamm und Serena sah wieder ihr kindliches Gesicht vor sich, das plötzlich viel mehr ihrer Mutter glich als ihrem Vater. Als hätte sich der Maler nur in den Farben der Augen und des Haares geirrt.
Auch jetzt, wenn sie in das verklärte, sich unförmig in der Suppe spiegelnde Bild von sich sah, fand sie kein Licht. Sie schaute hoch in die Augen ihres Vaters, der ihren Blick mit einem leichten Tanz um Augen und Lippen erwiderte. Serena formte ihre Lippen wie ein kleiner Affe in dem Bogen, den sie so lange einstudiert hatte. Ihre Mühe wurde mit einem feurigen Lichtertanz und einem gurgelnden Laut belohnt. LACHEN.
Während sich die kleine Serena immer tiefer in den Augen ihres Vaters verlor, wurde die Eingangstür gewaltsam aufgestoßen und krachte gegen die Hauswand. Männer in Rüstungen stürmten herein und warfen alles um, was ihnen im Weg stand, ergriffen Serenas Vater und prügelten ihn aus dem Haus. Sie packten auch Serena und ihre Mutter, zerrten sie hinaus und schleuderten sie in den Dreck.
Serena sah das Aufblitzen von Stahl und eine Schwertspitze, die auf sie gerichtet war.
„NEIN! Sie können nichts dafür! Es ist alles meine Schuld. Bitte, verschont sie! Sergej, ich flehe dich an. Um unserer alten Freundschaft willen. Ich tue alles, aber bitte verschont sie!“, schrie ihr Vater auf. Serena sah, wie er in die Knie ging, aufhörte sich gegen seine Peiniger zu wehren und entsetzt in ihre Richtung starrte. Das Schwert des Soldaten fuhr in die Höhe, um zum finalen Schlag auszuholen. Serenas Blick traf die verbitterten Augen des Soldaten und er hielt in der Bewegung inne. Die Entschlossenheit wich aus seinem angespannten Gesicht. Er wandte sich Serenas Mutter zu, deren ausdruckslose Augen auf den Boden gerichtet waren. Das Schwert glitt aus seinen zitternden Händen und fiel zu Boden.
Er drehte sich um und ging zu Serenas Vater. Die Erde erzitterte unter den festen Schritten des in Rüstung gekleideten Mannes. Tief bohrten sich die eisernen Sohlen in die Erde und hinterließen Abdrücke unverhohlener Wut. In einem Protestschrei warf sich ihm der Boden entgegen, als er mit jedem Schritt Staub aufwirbelte. Dann blieb der Soldat vor Serenas Vater stehen und die Erde atmete erleichtert auf.
Der Soldat hatte lange gesucht, immer in der Hoffnung, nichts zu finden. Wut auf den Mann, der vor ihm im Staub kniete, brodelte in ihm. Wut auf sich, weil er ihn nach all der Zeit doch hatte finden müssen. Sergej holte aus, schlug mit all seiner Wut und seinem Frust zu und die gepanzerte Faust landete mitten im Gesicht des Mannes, den er jahrzehntelang seinen besten Freund genannt hatte. Blut spritze aus Nase und Mund.
Nur die Männer, die den Knienden am Boden hielten, verhinderten, dass er nach hinten geschleudert wurde. Gekrümmt vor Schmerzen beugte er sich vor. Das Blut rann über sein Kinn und tropfte auf den Boden. Die staubige Erde sog gierig die dunkelrote Flüssigkeit auf, als wäre es ihr Lohn dafür, dass sie so lange den harten Schritt des Soldaten ertragen hatte müssen.
Serenas Vater hob vorsichtig den Kopf und blickte seinem Peiniger und Hetzer in die Augen, als er mit bebender Stimme sagte: „Danke, Sergej! Ich danke dir.“ Die Männer rissen ihn auf die Beine und zerrten ihn weg. Er drehte sich noch einmal um und rief: „Alara, bleib bei ihr, sie ist noch ein Kind! Ich befehle es dir als dein Mann!“
Serenas Blick fiel auf ihre Mutter, die immer noch reglos im Staub kniete. Ihre Augen ruhten auf dem Boden vor ihr, als schauten sie durch ihn hindurch. Bei den Worten ihres Mannes fiel ihr Blick für eine Sekunde auf das kleine Mädchen vor ihr.
Hatte Serena eine Regung erkennen können?
Doch auch der Wunsch eines Kindes, irgendein Gefühl in der Mutter hervorzurufen, änderte nichts daran, dass Alara nichts empfand.
Sie konnte nichts dafür.
Einige wurden mit einem verkrüppelten Bein geboren, andere mit angewachsenen Ohren, Schwimmhäuten zwischen den Zehen, oder einem fehlenden Finger. Alara war ohne Gefühle zur Welt gekommen. Sie empfand nichts für den Mann, den man vor den Augen des ganzen Dorfes durch den Dreck zog. Sie empfand nichts für das kleine Mädchen, das wortlos seinem Vater nachblickte.
Anders als ihre Mutter spürte Serena jedoch, wie sich ihre Kehle zuzog, das Atmen ihr mit jedem Schritt schwerer fiel, den sich ihr Vater von ihr entfernte. Der kleine Brustkorb hob und senkte sich immer langsamer. Serena wollte nicht, dass die Männer ihren Vater mitnahmen. Sie wollte nicht zurückgelassen werden. Serena sprang auf die Beine, um den Männern nachzulaufen. Ihr ganzes Sein schrie nach ihrem Vater, doch eine kalte Hand hielt ihren Arm eisern umschlungen und gab nicht nach, wie sehr das kleine Mädchen auch zerrte und zog. Serena blickte über die Schulter und sah, dass die Hand ihrer Mutter ihren Arm wie ein Schraubstock umfasste. Immer noch reglos im Staub kniend, starrte Alara ausdruckslos auf den Boden.
Wie sehr Serena auch versuchte sich loszureißen, Alara umklammerte den dünnen Kinderarm erbarmungslos. Das kleine Mädchen hörte auf sich zu wehren, und sah zu, wie die Männer ihren Vater abführten. Noch lange nachdem die Soldaten nicht mehr zu sehen waren und sich die Schaulustigen in ihre Häuser zurückgezogen hatten, stand das Mädchen da und starrte in die Richtung, in der ihr Vater verschwunden war.
Die eiskalte, leblose Hand ihrer Mutter umklammerte noch immer ihren Arm.
An der südlichen Grenze des Vostokenreiches lag Krem, ein kleines unbedeutendes Dorf, das vom Dunkelwald umrandet war. Vielen unbekannt, war es auf den meisten Landkarten nicht einmal verzeichnet. Lediglich eine schmale Straße, die nur die ältesten und gewieftesten Händler kannten, führte zu der schwer erreichbaren Gemeinde. So wurden die Bewohner aus den meisten Streitigkeiten der Landen herausgehalten, einfach weil die großen Führer nichts von ihrer Existenz wussten, oder wissen wollten. Und so sollte es nach der Meinung der Dorfbewohner und ihres Aufsichtsmeisters Merez Oberson auch bleiben.
Laura konnte sich glücklich schätzen, in Krem als eine Oberson geboren worden zu sein. Als Tochter des einflussreichsten Mannes im Dorf standen ihr alle Türen offen. Alle Bewohner waren nett zu ihr und es buhlten mehr Freier um ihre Gunst, als es aufgrund ihrer Schönheit sowieso getan hätten. Ungewöhnlich für ihr Alter trug Laura ihr knielanges, blondes Haar immer noch kindlich offen. Ihr Körper war bereits an den richtigen Stellen gerundet und jedes andere Mädchen hätte schon ihr Haar aus Anstand hochgesteckt oder geflochten getragen, wie es die Tradition verlangte.
Doch nicht Laura.
Denn es war auch schon von jeher Tradition, dass die Tochter des Aufsichtsmeisters tat, was sie wollte und bekam, was sie wollte. Sie scherte sich wenig um !verstaubte Traditionen. Wie von ihrer Einstellung hob sie sich auch durch ihre Kleidung von den übrigen Dorfbewohnern ab. Meist trug sie Baumwolle, anstatt des üblichen Leinen, manchmal auch Seide. Die Farbe des seltenen Stoffes war meist auf das leuchtende Grün ihrer Augen abgestimmt und stach aus der kleinen überschaubaren Menge heraus.
Da sich nur selten Händler oder Reisende nach Krem verirrten, waren Stoffe, die nicht aus Leinen oder Schafwolle gewebt oder gestrickt waren, ein kostbares Gut. Nur wenige im Dorf konnten es sich leisten, mehr als nur ein gutes Sonntagskleid zu besitzen. Im Großen und Ganzen war die Tochter des Aufsichtsmeisters eine mehr als angenehme Erscheinung in kostbarer Verpackung.
So wie es in jeder Gemeinschaft einen jungen Mann gab, den sich alle Mütter als Schwiegersohn wünschten, war es diese junge Dame, die das Herz einer jeden Mutter in Krem höherschlagen ließ, die einen Sohn im Alter von elf bis zwanzig Jahren hatte. Laura Oberson war wunderschön, aus einflussreicher Familie, im heiratsfähigen Alter und noch zu haben.
Laura genoss diese Aufmerksamkeit in vollen Zügen, seit sie sechs war. Vor allem die des anderen Geschlechts. Sie liebte das Gefühl der Verliebtheit und war verliebt in die Liebe. Mütter wie auch Söhne summten um sie herum wie Bienen um die schönste Rose im Garten.
Doch die Tochter des Aufsichtsmeisters ließ sich Zeit mit der Wahl, denn sie war nicht dumm. Sie wusste, sobald sie sich entschieden hatte, wäre es vorbei mit der Aufmerksamkeit, den vielen kleinen Geschenken, die sie so sehr liebte. Und so kamen und gingen die Jünglinge, denen sie sich für eine Weile zuwandte. Die Mütter, immer den Atem anhaltend: Würde sie sich für ihren Sohn entscheiden?
In diesem Herbst war Lauras letztes Schuljahr angebrochen. Im Gegensatz zu anderen Jugendlichen, die es nicht erwarten konnten, erwachsen zu werden, blickte Laura dem Ende ihrer Schulzeit mit Bedauern entgegen. Sie mochte die Schule, in der alle Kinder und Jugendliche des Dorfes zusammen in einer großen Holzhütte, etwas abseits auf einem Hügel gelegen, unterrichtet wurden. Laura saß schon von jeher in der ersten Reihe, war eine gute Schülerin und bekam gute Noten. Ob es daran lag, dass Frau Schimmerlin, die Lehrerin, auch einen Sohn im Alter von fünfzehn Jahren hatte und für eine Bewohnerin des Dorfes Krem überdurchschnittlich ambitioniert war, sei dahingestellt.
Heute freute sich Laura besonders auf den Unterricht. Es hatte sich etwas Seltenes in Krem ereignet: Jemand war neu zugezogen. Dieser jemand hatte einen Sprössling, der ab heute mit ihnen am Unterricht teilnehmen würde. Ob es sich dabei um einen Jungen oder ein Mädchen handelte, war Laura eigentlich egal. So wie sie die Aufmerksamkeit der Jungen mochte, genoss sie auch die Bewunderung der Mädchen. Ihr Herz machte jedoch einen freudigen Sprung, als ER zur Tür hereinkam.
„Das ist Laurenz Anderlieb. Er wird ab heute mit euch am Unterricht teilnehmen“, stellte Frau Schimmerlin den jungen Mann vor. Ein für die kleine Gruppe erstaunlich lautes Raunen ging durch den Raum. Zwölf Augenpaare hafteten an Laurenz und saugten alle Informationen auf, die sein Äußeres preisgab.
Überdurchschnittlich groß, erinnerte Laurenz mit seinen durchtrainierten Oberarmen eher an einen Mann, als an einen Jüngling. Schulterlange, schwarze Locken umrahmten sein markantes Gesicht. Aber es waren seine Augen, die jedes weibliche Wesen im Raum, egal welchen Alters, aufgeregt nach Luft schnappen ließen. In der Farbe von Bernsteinen funkelnd, eroberten sie jedes Frauenherz. Der stattliche junge Mann trug eine blaue Tunika, die seine Augenfarbe heller strahlen ließ und die goldenen Sprenkel betonte.
Der Blick des Neuankömmlings durchwanderte den Raum und blieb an Laura hängen.
„In der hintersten Reihe ist noch ein Platz frei. Setzt dich da hin!“, forderte ihn die Lehrerin auf. Einen kurzen Augenblick verweilend, warf er seine schwarze Mähne mit einer berechnend eleganten Bewegung in den Nacken und lächelte Laura direkt an. Seine Zähne funkelten und hoben sich wie Perlen von seiner sonnengebräunten Haut ab. Laura sackte in ihrem Stuhl zusammen und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Laurenz schlenderte lässig an ihr vorbei und streifte wie zufällig mit seiner Hand ihren Oberarm. Laura erschauerte und sah ihm mit leuchtenden Augen nach.
Laurenz. Ein alberner Name, aber er hatte schon schlimmere getragen. Alberto, Franklin, Mantula ... Nein, Laurenz war gar nicht so schlecht. Für eine Weile würde er Laurenz sein, dachte sich der junge Mann, als er durch die Reihen zum freien Platz schlenderte und sich zum wiederholten Mal mit dem Namen anfreundete. Angekommen, setzte er sich mit den Worten: „Tagchen Bursche“, neben seinen Tischnachbarn. Ein kurzer Blick reichte Laurenz, um sich ein Bild von ihm zu machen. Er trug erdfarbene Tunika und Hosen, die ihm beide zu groß waren. Die farblich passende, schlechtsitzende Mütze dazu hatte er tief ins Gesicht gezogen. Seine Arme waren vor der Brust verschränkt und er hatte die ausgestreckten Beine lässig übereinandergeschlagen.
Im Gegensatz zu den anderen schien ihn Laurenz‘ Auftritt nicht im Geringsten beeindruckt zu haben. Er verneinte mit seiner ganzen Körperhaltung Laurenz‘ Existenz. Eindeutig ein Außenseiter. Laurenz mochte solche Typen. Mit denen konnte man sich anfreunden. Solche Einzelgänger beobachten und analysierten aus Überlebensinstinkt ihre Umgebung genau. Informationen waren das A und O, wenn man sich gegen den Mob behaupten wollte, auch bei einem kleinen Mob am hinteren Ende der Zivilisation.
Obwohl Laurenz auf eine völlige Ignoranz seiner Person stieß, ließ er sich nicht davon abhalten, seinem neuen Tischnachbarn die Hand hinzustrecken und sich mit fröhlicher Stimme vorzustellen: „Man nennt mich Laurenz. Wie ist dein werter Name?“
Stille.
Laurenz, von Natur aus beharrlich bis halsstarrig, versuchte es ein zweites Mal: „Die Blonde in der ersten Reihe ist echt ein Blickfang. An der würde ich gern mal ...“ Keine Reaktion, nicht mal ein Blick. Der Eisbrecher „schönes Mädchen“ war an diesem Gesellen abgeperlt, wie ein Regentropfen an einer in Öl getränkten Tierhaut.
Verärgert stütze Laurenz seinen Ellenbogen auf den Tisch, bettete seinen Kopf in seine Handfläche und musterte den Jungen aus dem Augenwinkel. Er mochte es nicht, ignoriert zu werden.
„Serena, nimm die Mütze im Unterricht ab!“, rief Frau Schimmerlin verärgert, drehte der Klasse den Rücken zu und schrieb mit einem weißen Stück Kalk etwas auf eine kleine Schiefertafel, die schon bessere Zeiten gesehen hatte.
Laurenz nahm jedoch davon keine Notiz und runzelte gedankenverloren die Stirn. Die eisige Kälte seines Tischnachbars machte ihm zu schaffen. Dieser schien sich jedoch die Worte der Lehrerin zu Herzen zu nehmen und nahm die zu große Mütze ab.
Herunter purzelten lange schwarze Locken, die sich, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sanft über seine Schultern legten. Feine Gesichtszüge und Augen so blau und klar wie ein Bergsee kamen zum Vorschein. Mit aufgerissenen Augen starrte Laurenz seine TischnachbarIN an. Die Worte „Tagchen BURSCHE“ und „an DER würde ich gern Mal ...“ schwirrten Laurenz im Kopf herum und er merkte nicht, wie sein Ellbogen den Halt verlor und wegrutschte.
Mit einem lauten Knall sagte sein Kopf der Tischplatte hallo und ein stechender Schmerz durchzuckte Laurenz. Er ignorierte die neugierigen Blicke der Schüler, blieb mit dem Kopf auf dem Tisch liegen und lamentierte gedankenverloren vor sich hin. Hatte er sich gerade eine einmalige Informationsquelle verbaut? Laurenz hoffte inständig, dass sein unüberlegtes Verhalten keine Auswirkung auf seinen Plan hatte. Alles im Leben hatte Konsequenzen, das hatte er in frühen Jahren schmerzlich lernen müssen. Laurenz dachte mit einem nervösen Prickeln im Nacken darüber nach, welche es wohl hierfür sein würden.
Wie in jeder Pause zwischen dem Morgen- und Mittagsunterricht saß Serena auf ihrem kleinen Baumstumpf abseits von der Holzhütte und dem Schulhof. Entfernt von den kleineren Kindern, die sich mit Spielen lachend die Zeit vertrieben. Weg von den Größeren, die sich zu erwachsen für die Kindereien hielten, gelangweilt herumstanden und heimlich neidisch die leuchtenden Gesichter der Jüngeren beobachteten. Serena wusste, sie würde nie ein Teil dieser Gruppe sein. Sie war es nicht am ersten Tag gewesen, als Frau Schimmerlin sie geholt hatte, und würde es auch nicht am letzten Tag sein.
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Kurz nachdem Serenas Vater abgeführt worden war, kam Frau Schimmerlin in das kleine Holzhaus mit dem Fass und dem Spiegel, nahm das kleine Mädchen wortlos bei der Hand und brachte es zu dem Haus auf dem Hügel. Wie auch die anderen Dorfbewohner, mochte sie die Familie des Verräters nicht und die gefühllose Frau jagte ihr Schauer über den Rücken. Ihr Pflichtgefühl als Lehrerin jedoch erlaubte es ihr nicht, ein kleines Mädchen für die Sünden ihres Vaters zu bestrafen und seine Erziehung dieser kalten Frau zu überlassen.
So kam es, dass Serena ein Jahr zu früh eingeschult wurde und mit den älteren Kindern Schreiben und Lesen lernte. Sie meisterte beides schneller als je ein anderes Kind in Krem zuvor. Frau Schimmerlin wusste, dass sie richtig gehandelt hatte, konnte aber das Schaudern, das sie jedes Mal überkam, wenn sie an das ausdruckslose Gesicht der Mutter dachte, auch beim Anblick des ernsten kleinen Mädchens nicht völlig abschütteln. Wer konnte es ihr verübeln? Wie auch die Augen ihrer Mutter, waren die des Mädchens, das nie lachte oder weinte, leer.
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An einem Apfel kauend, blickte Serena geistesabwesend aufs Dorf hinunter. Von der kleinen Anhöhe mitten in der Gemeinde, auf der die Schule erbaut worden war, hatte man einen guten Überblick über die wenigen Häuser, Gärten und Felder, die sich innerhalb der Stadtmauern befanden.
So schön der Ausblick auch war, wurde der kleine Hügel von den wenigsten Schülern geliebt. Vor allem den Jüngsten kam er wie ein riesiger Berg vor, den sie Tag für Tag neun Jahre lang erklimmen mussten. Neun Jahre waren eine lange Zeit. Lesen, Schreiben und Rechnen hatten auch die langsamsten Schüler in der dritten, spätestens vierten Klasse im Blut. Und Frau Schimmerlin, wie ambitioniert sie auch sein mochte, konnte den jungen Leuten ihr ganzes Wissen in einem halben Jahr beibringen, wenn sie sich kurzfasste. Was ihr jedoch selten gelang.
Die Eltern kannten es nicht anders und die Kinder waren zwischen ihrem sechsten und fünfzehnten Lebensjahr von Zuhause fort und gut in der Schule aufgehoben. Mit sechzehn waren die meisten schon unter der Haube und alt genug, dem Familiengeschäft nachzugehen. Was sie in der Schule lernten, war nebensächlich, solang sie außer Haus waren, Ruhe herrschte und alle ihrem gewohnten Tagesablauf nachgehen konnten.
Serena war bereits vierzehn und hatte nur noch ein Jahr vor sich. Bewusst war ihr das nicht und über die Zukunft machte sie sich keine Gedanken. In der Gegenwart verloren, schweifte ihr Blick von den Häusern, über die Felder zum Dunkelwald, der das Dorf in einem eisernen Griff umschloss. Er schien auch am Tag schwarz und undurchdringlich.
Ohne jede Vorwarnung wurde Serena aus ihrer Trance gerissen.
„Ich wollte mich entschuldigen und einen Neuanfang versuchen“, erklang eine Stimme, die zu tief war für einen Vierzehnjährigen.
Nicht, dass Serena über etwas Bestimmtes nachgedacht hätte. Meist lauschte sie einfach nur den Geräuschen ihrer Umgebung und sog das Gefühl der Sonne, des Windes oder des Regens auf ihrer Haut gierig ein. Wärme, Kälte und Nässe verstand sie und genoss es zu empfinden, wo sonst Leere herrschte.
Sie verbrachte den Großteil ihrer Zeit damit, Geräusche und Stimmen einzuordnen. Wie das Zwitschern eines Spatzen, das Gurgeln einer Taube oder das Krähen eines Raben, ordnete sie auch menschliche Stimmen nach ihrem Tonfall und ihrer Schwingung bestimmten Gefühlsregungen zu. Serena hatte es sich zum Sport gemacht, die Sprecher und deren Launen an den Stimmen zu erkennen. Sie hatte schon immer Schwierigkeiten gehabt, Stimmungen und Gefühle zu deuten, da sie selbst kaum etwas empfand. Nur in extremen Situationen sendete ihr Körper Signale, die sie meist nur verwirrten. Um ihre Umgebung etwas besser verstehen zu können, hatte sich Serena durch genaues Hinhören und Hinsehen einen Gefühlskanon zusammengestellt.
Die Stimme, die sie aus ihrer Konzentration gerissen hat, verriet nichts. Sie war aalglatt und ähnelte keinem Muster in Serena Kanon. Irritierend war vor allem, dass sie den Neuen trotz ihres geschulten Gehörs nicht hatte kommen hören. Und doch saß er mit einem Lächeln auf den Lippen neben ihr auf dem Baumstumpf und streckte ihr seine Hand entgegen. Serenas Blick wanderte von dem perfekten Bogen der Lippen zu den bernsteinfarbenen Augen und sah, die Hand ignorierend, desinteressiert wieder weg. Seine Augen waren leer, so leer und kalt wie die ihrer Mutter.
Laurenz war überrumpelt und fassungslos. Das war ihm noch nie passiert. Mit jeder Sekunde kam er sich dümmer vor und in kurzer Zeit wandelte sich das Gefühl der Befremdung in Scham und die Scham in Zorn. Er legte seine Stirn in Falten. Dann riss sein Geduldsfaden. Er konnte es wirklich nicht leiden, ignoriert zu werden. Ohne darüber nachzudenken, was er tat und was er damit anrichten könnte, legte er seine rechte Hand um ihre Hüfte, zog sie an sich, umfasste ihr Kinn mit der linken und presste seine Lippen auf ihre.
Serena versteifte sich und schien unter seiner Berührung zu gefrieren.
Heiße Lippen auf Eis.
So hatte es sich noch nie angefühlt. Laurenz war es gewohnt, dass Frauen und vor allem Mädchen unter seinen Lippen dahinschmolzen. Der Kuss dauerte nur den Bruchteil eines Momentes, da spürte er Stahl an seinem Hals. Während vorher seine Gedanken um Eis kreisten, konzentrierte er sich jetzt auf Stahl.
Aus dem Nirgendwo hatte Serena ein Messer gezaubert und hielt es ihm an die Kehle. Mit ihren kristallblauen Augen sah sie ihn durchdringend an, gab keinen Ton von sich.
Laurenz Augen waren vor Erstaunen geweitet und es blitzte ein Feuer in ihnen auf. Serenas Blick wurde intensiver, als suche sie in seinen Augen nach etwas. Doch die Klinge an Laurenz Hals bewegte sich keinen Millimeter. Langsam, um sie nicht zu provozieren, hob Laurenz beide Hände in die Luft und entfernte sich von dem Mädchen und der Klinge.
„Wir wollen doch nichts Unüberlegtes tun“, murmelte er leise und ruhig, wo andere vor Angst davongerannt wären. Während er langsam zwischen seinem Hals und ihrer Klinge Raum schuf und sich erhob, folgte Serena jeder seiner Bewegungen mit den Augen, jedoch nicht mit der Klinge. Als Laurenz einige Meter von Serena entfernt war, verbeugte er sich elegant, verabschiedete sich mit einem höflichen: „Die Dame“, wandte ihr den Rücken zu und verließ den Schauplatz des seltsamen Spiels.
Zu ernst für eine Komödie und zu lächerlich für ein Drama.
Während seines Abgangs fuhr Laurenz‘ linke Hand unbewusst über die Stelle, wo der Stahl seine Haut berührt hatte. Er spürte keine Nässe, an seiner Hand klebte kein Blut und doch konnte er das Messer noch an seiner Halsschlagader fühlen. Mit einer leichten Handbewegung hätte sie seinem Leben ein Ende setzen können. Laurenz hatte noch nie jemanden so nahe an sich herangelassen. Normalerweise wäre er jetzt tot oder hätte mit viel Glück nur eine Narbe mehr. Er war unvorsichtig geworden. Das durfte ihm nicht wieder passieren, nicht, wenn er an seinem Leben hing und das tat er trotz allem. Laurenz wusste, er sollte entsetzt und auf der Hut sein, aber er konnte das Lächeln, das sich auf seine Lippen schlich und diesmal auch seine Augen erreichte, nicht unterdrücken. Leise entschlüpfte ihm ein einzelnes Wort: „Interessant ...“
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Das hatte Serena nicht erwartet. Noch nie hatte sie jemand so berührt. Sie steckte in einer fließenden Bewegung ihr Messer wieder in die Innenseite ihres Stiefels. Immer bei sich tragend, hatte sie es noch nie im Dorf benutzt. Zum Schneiden von Äpfeln, ja, aber noch nie auf diese Weise. Der Neue verwirrte sie. Er passte so gar nicht in ihren Verhaltenskanon, den sie sich so hart erarbeitet hatte. Jahre der Beobachtung von Aktionen und Reaktionen der Dorfleute, hatten Muster aufgezeigt, an denen Serena sich entlanghangeln konnte. Und er ließ sie durch wenige Handlungen an all ihren Schlussfolgerungen zweifeln.
Serenas Denkprozesse waren anders als die der übrigen Dorfbewohner, das hatte sie bereits mit drei Jahren festgestellt. Nicht, das Serena klüger war. Eher umgekehrt. Ihr schien etwas zu fehlen. Natürliche Reaktionen auf bestimmte Situationen fanden bei ihr nicht statt. Wie ein kleiner Affe, hatte sie früh begonnen, die Menschen in ihrer Umgebung zu imitieren. Aktion verlangte Reaktion, hatte sie festgestellt und versucht, ihr Verhalten anzupassen.
An sich ein normaler Lernprozess, doch Serena verstand nicht, wieso Menschen auf die eine oder andere Weise agierten oder reagierten. Sie ahmte einfach nach, ohne die entsprechenden Empfindungen. Die Bedeutung von abstrakten „Gefühlen“ verstand sie nicht. Nach einiger Zeit des Beobachtens hatte sie gelernt, negative Gefühle von positiven zu unterscheiden. Mit sieben konnte sie den verschiedenen Gesichtszügen und den unterschiedlichen Klangspektren der Stimmen Gefühle zuordnen.
FREUDE, GLÜCK und SPASS schienen immer von einem Spiel der Mundwinkel nach oben begleitet zu sein und erzeugten vor allem bei Frauen einen leichten Singsang in der Stimme. TRAUER, UNGLÜCK und LANGEWEILE dagegen wurden mit einer Bewegung der Mundwinkel nach unten begleitet, während die Stimme tief und flach klang. Andere Gefühle, wie BOSHEIT, bereiteten Serena jedoch immer noch Schwierigkeiten. Den Gesichtszügen der agierenden Person nach gehörte BOSHEIT zu den positiven Gefühlen. Die Stimme war zwar melodisch, hatte aber einen schweren Klang. Während die Reaktionen darauf eindeutig negativen Gefühlen zuzuordnen waren. Obwohl im Regelfall Menschen auf ihre Gegenüber meist mit den gleichen Gefühlen reagieren, die ihnen entgegengebracht wurden.
Ein Lächeln wurde häufig mit einem Lächeln erwidert. Vergoss jemand Tränen, wurden die Menschen um ihn herum traurig. Konnte sie die Gefühle nach einer Weile auch unterscheiden, scheiterte Serena doch immer wieder bei der Bemühung, ihren Ursprung zu verstehen. Es war nicht so, dass Serena keine Gefühle hatte. Sie waren nur nicht immer greifbar, schienen sich hinter einem Vorhang zu verstecken und nur ab und an hervorzulugen. Und glaubte sie, einem von ihnen näher gekommen zu sein, entzog es sich ihr wieder.
Im Laufe der Jahre hatte sie aufgegeben, den Ursprung von Gefühlen verstehen zu wollen, und beachtete sie nicht weiter, wenn sie auftraten. Sie waren zwar lästig, da sie aber selten stark auftraten, fiel ihr das Ignorieren nicht schwer. Während sie abstrakte Gefühle nicht verstehen konnte, hatte sie ihre körperlichen Sinneswahrnehmungen nach jahrelangem Training so geschult, dass sie spürte, wenn sich ihr jemand näherte.
Es waren die leisen Tapser der Schritte, das Atmen, die Veränderung im Wind- und Luftgefüge, aber vor allem der Duft von Rosen, die Serena wahrnahm, als Laura sich ihr näherte. Ohne ein Wort der Begrüßung, setzte sie sich neben Serena. Nach einer Weile fragte sie: „Wie geht es dir?“ Laura spielte mit einer Haarsträhne, zwirbelte sie auf, ließ sie fallen, nur um sie wieder auf ihrem Finger aufzuzwirbeln.
War sie nervös?
„Der Neue sitzt neben dir, nicht wahr?“, platzte sie heraus, wie Laura es immer mit ihrer direkten Art tat. Ihr Blick war jedoch zu Serenas Erleichterung auf den Boden gerichtet. Auch wenn Serena meisterlich die wenigen Gefühle, die hier und da auftauchen, ignorieren konnte, gab es einen Menschen, der sie mit einem Blick, einer Handbewegung, einem Wort in ein für Serena unübliches Gefühlschaos stürzen konnte. Und dieser Mensch war kein anderer als Laura.
Vor allem ihre Augen verwirrten und faszinierten Serena. Das hatten sie schon immer. In ihnen tanzte ein Feuer, das heller leuchtete, als das in den Augen von Serena Vater. Auch nach zehn Jahren sah sie ihn fast jede Nacht noch in ihren Träumen.
Ihr Vater hatte Augen „Fenster der Seele“ genannt. Wenn man sich die Mühe machte hineinzublicken, könne man das Naturell eines jeden erkennen, hatte er gesagt. Tier, Vostoke, Airen, Senjyou oder Sever: In den Augen erkannte man ihren Charakter, ihre Absicht und wenn man genau hinblickte, die Essenz, die das ganze Wesen ausmachte.
Doch Augen veränderten sich mit den Gefühlen und behielten selten einen Ausdruck bei. Serena glaubte den Worten ihres Vaters, konnte jedoch nichts von all dem erkennen.
Plötzlich richtete sich Lauras Blick auf Serena. Sie sah ihr direkt in die Augen und hielt Serena gefangen. Nur mit Mühe konnte Serena sich losreißen und ihren Blick auf den Boden lenken. Früher hatte sie Laura stunden- und tagelang in die Augen sehen können. In ihnen schienen alle Antworten auf Serenas Fragen verborgen zu sein. Fragen, die sie noch nicht kannte und Fragen, die sie ihrem Vater nicht hatte stellen wollen, als sie noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte.
„Hat der Neue was über mich gesagt?“, fragte Laura weiter und Serena verstand, wem und was sie die Ehre von Lauras Besuch zu verdanken hatte. Typisch. Immer nur das eine im Kopf. Serena drehte sich so weit wie möglich von Laura weg und sagte nur kurz: „Nein.“
Laura blieb noch eine Weile schweigend sitzen, rutschte nervös hin und her, erhob sich schließlich und ging ohne ein weiteres Wort zu den anderen Schülern zurück.
„Was ist denn heute los? Sonst beachtet mich keiner und heute stört man mich gleich zweimal“, murmelte Serena leise vor sich hin. Warum war sie so von Lauras Frage aufgewühlt? Aus irgendeinem Grund wollte Serena nicht, dass Laura sich für den Neuen interessierte. Warum nur? Sie verstand sich selbst nicht und schob den Gedanken einfach beiseite. Darin war sie gut. Darin hatte sie Übung.
Es war schon spät, der Mond stand hoch am Himmel. Nur sein Licht und Sterne beleuchteten den kleinen Pfad, den Serena entlangschlenderte. Das Training mit Zorghk hatte sich in die Länge gezogen. Es war spät geworden. Aber das machte nichts. Es gab niemanden, der auf Serena wartete. Natürlich war Alara da, sie war immer da, wenn sie nicht gerade wegen einem Notfall gerufen worden war. Doch Alara schien die An- oder Abwesenheit des Mädchens, das bald zur Frau herangewachsen sein würde, nicht wahrzunehmen. Daher kam und ging Serena bereits in jungen Jahren, wie es ihr beliebte.
Sie ging morgens kurz nach Sonnenaufgang in die Schule, verbrachte dort ihre Zeit bis kurz nach Mittag und machte sich danach auf zu Zorghk. Um zu seiner abgelegenen Hütte zu gelangen, musste Serena die Sicherheit der Stadtmauern verlassen.
Die Mauer war vor etwa dreißig Jahren im härtesten und längsten Winter aller Zeiten erbaut worden, um die wilden Tiere fernzuhalten. An den kältesten Tagen sollen Wölfe, Marder, Wildkatzen und manchmal Bären auf die Höfe gekommen sein und hier und da ein Huhn oder ein Schaf gerissen haben. Das war die offizielle Version. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man von Räubern, Dieben, Severen, Ghröfle und unbekannten scheußlichen Wesen, die keine Namen hatten. Nach Sonnenuntergang wurde sowohl das östliche als auch das westliche Tor von Krems Stadtmauer geschlossen und niemand wurde hinein- oder hinausgelassen.
Ausgetrampelt von kleinen Füßen, die mit der Zeit immer größer geworden waren, führte ein schmaler Pfad vom östlichen Stadttor zu dem abgelegenen kleinen Häuschen, in dem der grummelige Airen wie ein Einsiedler lebte. Man musste etwa vierzig Minuten durch den dichten Wald laufen, bis man das Häuschen erreichte. Nur noch die mutigsten Holzfäller des Dorfes trauten sich so tief in den Wald. Und davon hatte Krem nicht mehr viele. Mehr als einmal von einem grummeligen kleinen Männchen mit Schimpftiraden von seinem „Grundstück“ verscheucht, mieden sogar diese das Gebiet um das kleine Haus.
Das überzeugende Argument in dieser ungleichen Grundstücksdiskussion war die riesige Streitaxt gewesen. Fast doppelt so groß, wie das kleine aber breite Kerlchen, ließ sie die Arbeitsgeräte der Holzfäller wie Kinderspielzeuge aussehen. Jeder, der solch eine Waffe mit Leichtigkeit über seinen Kopf wirbeln lassen konnte, ohne ihn sich von den Schulterblättern zu trennen, hatte den Respekt der größten und kräftigsten Dorfbewohner in Krem verdient.
Die Zunge nach ein paar Bierchen über den Durst gelockert, entstanden in „Longershot“, der einzigen Taverne in Krem, bunte Legenden über das Ungeheuer des Ostwaldes. In den Erzählungen der Holzfäller, ein jeder eifrig darauf bedacht, die Beschreibungen des anderen zu übertreffen, lebte dort mal ein drei Meter großer Morph mit einer Axt so lang wie der Baumstamm einer fünfzigjährigen Eiche, der bei Bedarf sein Äußeres verändern konnte. Mal war es ein kleines Wesen, so breit wie lang, mit einer riesigen Axt als Kopf, das wie ein Huhn nach Körnern, nach seinen Gegnern pickte und jeden Unglücklichen in zweiteilte, der das Pech hatte, ihm über den Weg zu laufen. In Krem passierte selten etwas Interessantes oder gar Ungewöhnliches und so kamen sogar die Kinder in die Schenke, um den wundersamen Erzählungen zu lauschen.
Jeder wusste, dass die Holzfäller übertrieben und der größte Teil ihrer Geschichten erfunden war. Manche kannten sogar den muffeligen Einsiedler, der ab und an auf den Markt kam, um seine Vorräte mit Lebensmitteln aufzufüllen, die er nicht im Wald fand. Doch wie alle Geschichten, beflügelten auch diese die Fantasie der Bewohner und keiner ging mehr in den Ostwald, wenn er es irgendwie vermeiden konnte.
Dem einsiedlerischen Zorghk war das nur recht. Wie die meisten seines Volkes, war er schweigsam, unfreundlich und so gut wie immer schlecht gelaunt. In den Landen traf man selten auf Airen außerhalb des Teffelof Gebirges, ein karges Bergland, das nur wenig Raum zum Leben bot. Die Airen waren seit Zeitgedenken dort zuhause. Ein Volk so hart wie das Gebirgsgestein selbst und auch so unbeugsam. Sie lebten dort seit ihrer Geschichtsschreibung, die bis zur Entstehung des Gebirges zurückreichte. Und die Airen würden dort bleiben, bis die Erde sich unter ihnen auftun und sie mit den Bergen verschlingen würde.
Klein gebaut, aber kräftiger als jeder durchtrainierte Schmied des Vostokenvolkes, konnten die meisten ihrer Art einen durchgehenden Ochsen mit bloßen Händen in den Boden stampfen. Sie lebten mehr als doppelt so lang wie die Bewohner des Ostens und wurden häufig von den Vostoken spöttisch Zwerge oder Liliputaner genannt. Einigen, die politisch korrekt sein wollten, bezeichneten sie als kleinwüchsig. Würde man einem Airen die einzelnen Begriffe erklären, wäre es wohl der politisch korrekte Begriff, der den meisten Unwillen erzeugen würde. Genauer betrachtet, traf bei den Airen so gut wie alles auf Unwillen. Was man auch tat oder sagte, es hatte Grummeln, Schimpfen und Zanken zur Folge.
Airen waren keine beliebten Gäste und keine guten Gastgeber. So schliefen ihre wenigen diplomatischen Beziehungen meist schnell wieder ein oder endeten durch ein unbedachtes Wort hier und eine Schimpftirade da in Kriegen. Viele hielten die Existenz des Airenvolkes im Teffelof Gebirge für Legenden und man traf nur selten einen Airen, der dies widerlegen wollen würde. Hatte jemand das Glück, auf einen Vertreter dieser übellaunigen Rasse zu stoßen, wurde er an einem guten Tag ignoriert und an jedem anderen beschimpft und fortgejagt. Wenn er die Begegnung überleben sollte.
Zorghk war durch und durch ein Airen, wenn auch sehr weit weg von zuhause, hielt er all diese Traditionen in Ehren. Mit niemandem reden und wenn doch, dann so viele Schimpfwörter dazwischen packen, dass man nicht wusste, wo der Satz anfing und die Beschimpfungen aufhörten. So kam es nicht selten vor, dass ein Besucher vergaß, aus welchem Grund er oder sie eigentlich gekommen war und so schnell wie möglich das Weite suchte.
Auch vom Äußeren war Zorghk durch und durch Airen. Nicht viel größer als ein zwölfjähriges Kind der Vostoken, war er um einiges breiter und dehnte sich in einer Kugelform dreidimensional in den Raum aus. Sein Gesicht war vom vielen Grummeln von tiefen Falten durchfurcht. Sein volles, feuerrotes Haar schien fast jeden Zentimeter seines Körpers zu bedecken. Den dichten roten Bart hatte Zorghk nach Airentradition vorne zu zwei Zöpfen und den hinteren Teil zu einem dicken Zopf geflochten. Wenn ein Airen das Mannesalter erreichte, wurden seine Haare zum ersten und einzigen Mal von der Frau seines Herzens geflochten.
Nur Zorghks Augen waren nicht braun wie die Erde oder grau wie das Gestein, das die Airen ihr Zuhause nannten. Sie hatten die Farbe des Waldes und des Mooses, blitzen jedoch so selten unter den buschigen Augenbrauen hervor, dass es fast niemandem auffiel. Im Vergleich zu den abgerundeten Ohren der im Osten lebenden Vostoken, liefen seine kleinen Ohren oben spitz zu. Da sie aber in dem Gebüsch von Haaren kaum zu erkennen waren, wirkte Zorghks im Großen und Ganzen wie ein zu klein geratener, runder, wunderlicher und immer schlecht gelaunter Vostoke.
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Zorghk war ein Jahr nach dem Verschwinden ihres Vaters aus dem Nichts vor Serena aufgetaucht und hatte ihr mit seiner tief grollenden Stimme klar und deutlich gemacht, dass er sie nachmittags am östlichen Tor der Stadtmauer erwarten würde. Dann war er so schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.
Die damals sechsjährige Serena hatte den übellaunigen kleinen Mann ein- oder zweimal mit ihrem Vater sprechen sehen. Er hatte ihr damals einen abschätzenden Blick zugeworfen und sie danach vollkommen ignoriert. Mit ihrem Vater hatte der kleine Mann seltsame Grunzlaute ausgetauscht, die für Serena keinen Sinn ergeben hatten.
Aber das alles war nicht wichtig.
Die kleine Serena wäre allem, was sie an ihren Vater auch nur im Entferntesten erinnerte, solange gefolgt, bis ihre kurzen Beinchen unter ihr nachgegeben hätten. So lief sie direkt zum Osttor und wartete, bis der kleine Mann, dessen Namen sie nicht kannte, wieder auftauchen würde.
Er kam um die verabredete Zeit, gab Grunzlaute von sich, drehte sich um und lief los. Zu schnell, als dass die kleine Serena ihm ohne Weiteres hätte folgen können, doch langsam genug, damit sie ihn nicht aus den Augen verlor. Sie lief ihm nach, wie sie zuvor ihrem Vater nachgelaufen war. Das Mädchen ließ die Stadtmauer hinter sich und betrat den Wald, der mit jedem Schritt dichter und dunkler wurde, als hätte die Sonne Schwierigkeiten, sich durch die vielen Bäume zu kämpfen.
Nach einer langen Zeit kam eine Lichtung in Sicht, auf der eine kleine Holzhütte stand. Zorghk ging hinein, ohne sich umzudrehen oder sich zu vergewissern, dass ihm das kleine Mädchen folgte. Er ließ die Tür jedoch offen stehen.
Als Serena hineinstolperte, saß der kleine Mann in einem Schaukelstuhl, hatte die Augen geschlossen und wippte hin und her. Das Mädchen stand einfach nur da und schaute ihm zu, ohne einen Laut von sich zu geben.
Der Airen, von Natur aus immer die Stille suchend, empfand diese zum ersten Mal als unangenehm. Er hätte sich jedoch nie eingestanden, dass ihn der Kurzwuchs nervös machte. Um das Gefühl loszuwerden und nur deshalb, blaffte er sie an, sie solle sich gefälligst hinsetzen.
Serena folgte gehorsam.
Sie tat eigentlich immer, was man ihr sagte, doch seit ihr Vater weggebracht worden war, machte sich keiner die Mühe, etwas zu ihr zu sagen. Nur, um die Stille zu füllen, begann der sonst so schweigsame Airen zu reden. Bevor er sich versah, erzählte er dem kleinen Mädchen, in einer Sprache, die nicht seine war, von seinem Volk. Er sprach von den Legenden, den Geschichten, der Gegenwart, der Traditionen, den Sitten und Bräuchen der Airen.
Kurz bevor es dunkel wurde, erhob sich Zorghk aus seinem Schaukelstuhl, ging, ohne ein Wort zu sagen, zur Tür und trat in den Wald.
Wieder folgte Serena dem kleinen Mann, dessen Namen sie nicht kannte. Sie lief ihm bis zur Stadtmauer nach, dann verschwand er so plötzlich, wie er gekommen war. Da das kleine Mädchen nur einen Ort kannte, an den es gehen konnte, kehrte es zurück in das kleine Holzhaus mit dem Fass an der Wand, über dem ein kleiner verrosteter Spiegel hing.
Auch am nächsten Tag begab sich die kleine Serena gegen Mittag zum Osttor. Wieder tauchte das runde Männlein auf und wieder folgte Serena ihm tief in den Wald bis zu seiner kleinen Holzhütte.
Ohne dass er sie diesmal aufforderte, setzte sie sich auf den kalten Boden und sah dem Mann beim Schaukeln zu. Auch diesmal erzählte der Mann von einem weit entfernten Gebirge, in dem das Volk der Airen lebte. Der Klang seiner Stimme war tief und fremd und manchmal gab der kleine Mann Laute von sich, die Serena nicht verstand, sagte dann aber ein Wort, das sie kannte und wiederholte den gleichen Laut. Nach einer Weile versuchte das kleine Mädchen die fremden Laute nachzusprechen. Was ihr gut genug zu gelingen schien, da der kleine Mann zufrieden grunzte.
Und so kam es, dass Serena Tag für Tag zum Osttor ging. Die ersten Male tauchte der kleine, runde Mann hinter dem Tor auf, doch eines Tages kam er nicht mehr. Das kleine Mädchen ging jedoch unbeirrt den Weg zu der kleinen Hütte, den es sich schon beim ersten Mal eingeprägt hatte. Es trat durch die offene Tür und fand das runde Kerlchen in seinem Schaukelstuhl auf und ab wippen.
Neben ihm, auf dem Boden, an der Stelle, an der Serena die letzten Male gesessen hatte, lag ein Kissen, auf dem sie sich, ohne ein Wort zu verlieren, niederließ.
Einige Tage später befand sich neben dem Kissen ein kleiner Tisch. Dem Tisch folgte ein Buch, dem Buch ein anderes. Mal hatte es Zeichen, die Serena in der Schule lernte. Mal war es voller seltsame Muster mit abgehackten, groben Figuren, die sich hier und da wiederholte, aber keinen Sinn für Serena ergaben.
Eines Tages fand sie ein Blatt auf dem Tisch. Auf dem waren Schriftzeichen untereinander aufgelistet, die sie kannte und dahinter Teile des Musters. Daneben lag ein leeres Blatt Papier und ein dünnes Stück Kohle.
„Hanjian - Schreib!“, grunzte der Mann. Langsam wiederholte Serena das Gesagte und griff nach dem Kohlestift. Wie zuvor die Laute, kopierte sie nun die Linien und prägte sich das dazugehörige Zeichen ein, das sie aus der Schule kannte.
So lernte Serena nicht nur die Geschichte der Airen, sondern auch deren Sprache und Schrift. Bald erzählte der kleine Mann nur noch in den seltsamen Grunzlauten, die dem kleinen Mädchen, einst so fremd, vertraut geworden waren. Nach einiger Zeit konnte Serena ein paar der Zeichen in den Büchern mit den seltsamen Mustern erkennen und bald schon lesen.
Der runde Mann saß immer im Schaukelstuhl und wippte mit geschlossenen Augen hin und her, bis er eines Tages plötzlich aufstand und schweren Schrittes in die Mitte der kleinen Hütte ging, die nur aus einem Raum bestand. Er hob ein paar Bretter an und eine Treppe kam zum Vorschein, die ins schwarze Nichts führte.
Als er die Stufen hinunterging, folgte ihm die kleine Serena, ohne auch nur einen Gedanken an die Gefahr zu verlieren, die sie erwarten könnte.
Da ihr nie jemand gesagt hatte, dass sie nicht mit Fremden mitgehen solle, folgte sie dem kleinen Mann ohne Namen. Der runde Mann schritt ohne Probleme, ohne zu zögern oder zu tasten, in die Dunkelheit hinein. Obwohl Serena die Hand nicht vor den Augen sehen konnte, tapste sie eine Stufe nach der anderen hinunter, bis sie eine verpasste und die nächsten fünf hinunterpolterte.
Hätte sie die Augen eines Airen gehabt, hätte sie gesehen, wie der Kopf des kleinen Mannes herumwirbelte und sich seine Augenbrauen sorgenvoll zusammenzogen, als das kleine Mädchen, ohne zu weinen oder auch nur zu stöhnen, wieder aufstand und die nächsten Stufen hinunterging.
Serena hörte den Airen auch nicht leise seufzen.
Ein Seufzer, der seinen inneren Zweikampf verriet. Er war sich nicht sicher, ob er sich in dem kleinen Mädchen, das ihrem Vater äußerlich so ähnelte, nicht irrte und sie mehr von ihrer Mutter geerbt hatte, als gut für sie war. Aber er musste es darauf ankommen lassen. Das war er ihrem Vater schuldig.
Also griff er nach einer Fackel und entzündete sie, indem er zwei Steine aneinanderschlug, bis das Öl getränkte Tuch Feuer fing. Seine Augen schrien vor Schmerz und er kniff sie zusammen, zwang sie jedoch, sich an den Schein zu gewöhnen.
Serena ging mit sicherem Schritt unbeirrt die restlichen Stufen hinunter. Hätte sich das kleine Mädchen in dem Raum umgesehen, der dreimal so groß war wie das Haus, und etwas Menschenverstand besessen, wäre es um sein Leben gerannt.
Der kleine Mann ging von Wand zu Wand und entzündete eine Fackel nach der anderen, bis der ganze Raum erhellt war.
Außer einer Kiste befand sich nichts in dem seltsamen, zu großgeratenen Keller. Äxte, Schwerter, Schlagstöcke, Morgensterne, abgenutzt von jahrelangem Gebrauch. Während der Inhalt der Kiste jeden ausgewachsenen Mann die Flucht hätte ergreifen lassen, blieb Serena am Fuße der Treppe einfach stehen und schaute auf den kleinen Mann, der neben ihr groß aussah.
Das flackernde Licht der Fackel warf tanzende Schatten auf sein Gesicht und ließ die Falten um Lippen, Nase und Stirn wie sich bewegende Wellen aus Stein erscheinen.
„Grecht - Komm!“, sagte der Mann und Serena gehorchte. Sie standen sich in der Mitte des Raums gegenüber. Er hatte zwei Stöcke in der Hand und warf ihr einen zu. Geschickt fing das kleine Mädchen ihn auf und der kleine Mann nickte zufrieden. Sie würde schnell lernen. Ihr Instinkt würde sie leiten, wo ihr junger Geist versagte. Er ging auf sie zu, holte zum Schlag aus, hielt jedoch inne, kurz bevor der Stock sie traf. Diese Bewegung wiederholte er so oft, bis Serena sie nachahmte.
Mit keinem Blick würdigte Serena die Kiste oder deren Inhalt, mit dem sie in den kommenden Jahren noch schmerzlich Bekanntschaft schließen würde.
Ganz oben, auf dem Waffenhaufen lag eine Axt, die größer war als der kleine Mann. Die groben Verzierungen am Schaft unterstrichen die furchteinflößende Wirkung der Klinge. Sowie den Namen des kleinen Mannes, würde Serena den Namen der Waffe erst viel später erfahren: Zorghk - Bringer der Stille. Namensgeber des Airen, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Serena auszubilden. Auch wenn er dafür in der Nähe des kleinen, unbekannten Dorfes im Vostokenreich, umgeben vom Dunkelwald, leben musste.
In Krem herrschte keine Diskriminierung, auch nicht gegenüber dem Bergvolk, das mehr Legende war als alles andere. Nein, man pflegte etwas, das man nicht verstand oder nicht kannte, einfach zu ignorieren, eine praktische Nihilierung alles Unbekannten. Natürlich trieb man Handel mit Händlern von außerhalb, auch mit zu klein geratenen. Und so auch mit Zorghk. Man verkaufte ihm Waren und erwarb die seltenen und seltsamen Dinge, die er anbot. Was gut für den eigenen Geldbeutel war, war gut für das Dorf und gut für die Familie.
Danach wurden die Abnormitäten ignoriert. Sie wurden unsichtbar. Die Dorfbewohner nahmen sie wie Geister wahr, die nur sichtbar wurden, wenn sie magische Gegenstände in der Hand hielten wie Geld, Gold oder interessante Waren. Wenn diese nicht mehr Thema waren, verschwanden die Geister auf eine andere Existenzebene und wurden für die Bewohner Krems unsichtbar.
Wo sich andere diskriminiert gefühlt hätten, empfand Zorghk Wohlwollen. Genau so wollte er es und nicht anders. Niemand stellte Fragen, niemand erzählte herum, dass ein Airen in dem östlichen Teil des Dunkelwaldes gezogen war. So erfuhr niemand, dass er noch am Leben war und vor allem nicht, wo er sich befand. Einer der Gründe, warum er sein Heim eben hier errichtet hatte.
Es war ein Heim, auch wenn sich dort Holz befand, wo Stein hätte sein sollen. Auch wenn sich jede Faser seines Körpers nach dem harten Gestein seiner Heimat sehnte, war dieses Holz, umgeben von noch mehr Holz, einem Zuhause am nächsten, an das er seit Jahren gekommen war und vielleicht je wieder kommen würde. Das Teffelof Gebirge war in jener Nacht für immer ein Tabu geworden, als ein nie ausgesprochenes, aber dafür umso endgültigeres Exil über ihn verhängt worden war. Der Airen, der sonst immer allem und jedem widersprach, konnte sein Schicksal nur stillschweigend akzeptieren, denn er wusste, er hatte es verdient.
Serena wurde ein Teil dieses kleinen Zuhauses, wie Zorghk ein großer Teil ihrer Welt wurde. Sie wusste nicht, wieso er damals auf sie zugekommen war. Sie fragte auch nie. Es war einfach so. Zorghk nahm das riesige Loch ein, das beim Verschwinden ihres Vaters entstanden war, und füllte es durch seine breite, kugelige Gestalt fast vollkommen aus.
Zorghk brachte Serena alles Mögliche bei. Lesen und Schreiben in der Airensprache, viel über die Geschichte der Landen, von den unterschiedlichen Völkern, Rassen, ihren Traditionen, der Flora und Fauna, Mythologien, Sagen und Legenden. Er zeigte ihr auch, wie sie in der Wildnis überleben konnte, wie man sich im Wald orientierte, lehrte sie Selbstverteidigung und den Umgang mit verschiedenen Waffen. In letzterem zeigte Serena die meiste Begabung. Sie behielt auch all das Wissen, das er ihr beibrachte, sog es wie ein Schwamm in sich auf, als wolle sie damit eine Leere in ihrer Seele füllen.
Doch obwohl sie alles gleich nach dem ersten Mal Durchlesen behielt, schien etwas in ihrem Gehirn nicht richtig zu funktionieren. Sie war wie ein Ding, das Informationen in sich speicherte und dieses Wissen abrief, wenn es die Situation verlangte. Sonst tat sie nichts.
Sie schien die Ideen und Theorien aufzunehmen, aber nicht fähig zu sein, etwas weiterzuentwickeln oder einer Situation angepasst das Wissen übergreifend anzuwenden. Für sie waren alles Fakten. Nicht mehr und nicht weniger. Dinge, die sie nicht verstand, wurden zwar wahrgenommen, jedoch fallen gelassen, wenn sie für Serena keinen Sinn ergaben.
Aber was hätte Zorghk anderes erwarten können? Äußerlich erinnerte alles an ihren Vater, innerlich schien ein dunkles und tiefes Nichts zu sein wie bei ihrer Mutter.
Zorghk hatte schon aufgeben wollen. Das schwarze Loch verschlang, was er ihm anbot, erschuf nichts. Als wäre es Serena nicht gegeben, Dinge oder Ideen zu entwickeln. Frustriert von dem Gefühl, seine Zeit zu verschwenden, und der Angst, eine kalte Kampfmaschine zu erschaffen, verlor er eines Tages die Beherrschung.
Innerlich aufgefressen von der jahrelangen vergeblichen Suche nach etwas, das Serena von ihrer Mutter unterschied und dem Frust, nach all der Zeit nichts finden zu können, ging er zu weit. Er würde es sich selbst und nie jemand anderem je eingestehen, aber er ging zu weit.
Bei einer von vielen Übungsstunden kamen seine Angriffe immer schneller und härter, als hätte er einen ausgewachsenen Severen vor sich und kein kleines neunjähriges Mädchen. Seine Hiebe hätten viel erfahrenere und fähigere Männer zu Boden geschickt. Doch Serena war schnell und wendig, duckte sich unter den Schlägen durch, sprang zur Seite, rannte mit ihren kurzen Beinen aus der Reichweite des hölzernen Schwertes. Ihr gelang es sogar, einige Schläge zu parieren, wenn ihre Arme auch unter dem Aufprall erzitterten.
So schnell und wendig sie auch war, war Serena doch nur ein neunjähriges Mädchen und ihr Körper wurde bald langsamer, ihre Bewegungen steifer, ihre Hände klamm und zittrig unter der Anstrengung.
Dann kam das Schwert mit einem Schwung aus einem toten Winkel und Serena schaffte es nicht rechtzeitig auszuweichen. Vom Aufprall mit voller Wucht an die Wand geschleudert, wurde jedes bisschen Sauerstoff aus ihren Lungen gepresst. Ein lautes Knacken war zu hören, als der Schmerz sich in ihren Lungen wie eine Explosion ausbreitete und ihre Kehle in einem Schrei verließ.
Das kleine Mädchen brüllte den ihr unbekannten Schmerz heraus, während ihre Wangen Tränen hinunterliefen. Zorghk war sofort bei ihr und untersuchte sie. Schuldbewusst wich er ihrem Blick aus. Als er ihre Rippen entlang tastete, um zu sehen, ob etwas gebrochen war, wimmerte das kleine Mädchen auf. Ihr Blick war verklärt von einem Schleier aus Schmerz.
Ein jubelndes Gefühl des Triumphs breitete sich in Zorghk aus. Er wollte es hinausschreien. Sie hatte Schmerzen! Sie empfand SCHMERZEN ...
Sie EMPFAND ...
Auch wenn er Serena danach noch oft an ihre Grenzen trieb, ließ Zorghk es nie wieder so weit kommen. Es war schwer zu erkennen, wo sich die Grenzen befanden, da die Anzeichen der Übertretung erst auftraten, wenn es bereits zu spät war.
Manchmal, wenn Zorghk in die leeren Augen des Kindes blickte und wieder die Befürchtung hochkam, eine gefühllose Kampfmaschine zu trainieren, zwang er sich an das kleine Mädchen zu denken, das mit feuchten Wangen gekrümmt und wimmernd am Boden lag.
Um sich und sein Gewissen zu beruhigen, war er gekommen und unterrichtete die Tochter des Mannes, dem er so viel zu verdanken hatte und der ihm doch so viel schuldig war. Um sich und sein Gewissen zu beruhigen, sagte er sich immer wieder, er erschaffe keine eiskalte Tötungsmaschine, Serena wäre nicht wie ihre Mutter, hätte Gefühle. Eine seltsame Argumentation für einen Airen, in der Tradition erzogen nie Gefühle zu zeigen, die über schlechte Laune hinausgingen. Und doch erwischte sich Zorghk Jahr um Jahr immer wieder bei der gleichen Rechtfertigung.
Mit diesen Gedanken formte Zorghk Serenas Geist und ihren Körper, gab ihr all sein Wissen weiter, so wie er es bei seiner eigenen Tochter getan hätte. Und Serena wuchs zu einer starken, jungen Frau heran. Mit Erleichterung stellte Zorghk fest, dass Serena ihre Überlegenheit nie gegenüber irgendjemandem im Dorf zeigte. Auch nicht, wenn man sie beschimpfte, anspuckte oder absichtlich anrempelte. Nach jahrelangem Training in den Kampfkünsten der Airen gab es in Krem niemanden, der sich mit ihr hätte messen können. Selbst Zorghk hätte Schwierigkeiten, sie zu bändigen, was er jedoch weder sich noch einer anderen Seele je eingestehen würde.
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So lief Serena auch heute, wie an jedem anderen Abend, nachts durch den Wald auf dem kleinen Trampelpfad in Richtung Krem. Sie brauchte den Mond und die Sterne nicht, um den Weg zur Stadtmauer zu finden. Sie ging diesen Weg schon über acht Jahre lang täglich und hätte ihm auch blind folgen können. Ihr Körper kannte jede Biegung, jeden neuen Ast, der aus den alten riesigen Kiefern spross. Und so kam sie zur üblichen Stelle der Stadtmauer. Seit die Trainingsstunden mit Zorghk sich bis nach Sonnenuntergang zogen, war Serena gezwungen, sich nach der Schließung der Stadttore ins Dorf zu schleichen. Und der Weg hinter die Mauer führte nur über die Mauer. Die Stelle war gut gewählt. Weit genug vom Tor entfernt, sodass sie die Wache nicht sehen würde, sollte sie sich ausnahmsweise nicht im Land der Träume befinden.
Automatisch fanden Serenas Füße und Hände die kleinen Vorsprünge und Lücken in dem Mauerwerk, als sich ihr Rücken vertiefte, sie sich so nahe wie möglich an die kalten Steine presste und Schutz in der Dunkelheit suchte.
Sie war nicht alleine.
Nicht weit von ihr waren Männerstimmen zu hören. Serena konnte nur Bruchstücke der Unterhaltung ausmachen.
„ ... alles nach Plan, im Nu wird mir die Kleine aus der Hand fressen ...“
„Beeil dich, der Boss wird ungeduldig ...“ Ein heiseres Krächzen entrang sich einer Kehle, das im Entferntesten einem Lachen ähnelte. Aus dem folgenden Geflüster konnte Serena nur den letzten Satz deutlich ausmachen: „Allaba, bis zum Wiederseh‘n!“ Rascheln von Blättern und Ästen, die zertreten und umgeknickt wurden, folgten. Den Geräuschen nach zu urteilen, floh gerade ein riesiger Bär panisch in den Wald.
Dann sah Serena, wie eine Gestalt im Schutze der Dunkelheit geschickt über die Mauer kletterte. Ohne weiter darüber nachzudenken, setzte auch Serena ihren Weg fort, nachdem der Schatten verschwunden war.
Nicht weit von der Stadtmauer lag das Holzhaus mit dem Fass an der Wand, über dem der rostige Spiegel nach neun Jahren immer noch hing, obwohl ihn keiner mehr benutzte. Serena steuerte es wie jeden anderen Abend an. Wo sollte das Haus
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2015
ISBN: 978-3-7396-0840-2
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