Cover

Hiltrud und Helene - Ein Milieu-Bild von 1922

 

Am Sonntag, dem 5. Februar 1922, pfiff in Schöneck ein ungemütlich kalter Wind die Friedrichstraße entlang. Die Temperaturen sackten seit Wochenbeginn kontinuierlich ab und hatten jetzt, am späten Vormittag, die 15 Grad Reichsmarke unter null erreicht. Es fühlte sich aber bedeutend kälter an. Aus dunklen Wolken wirbelten seit zwei Tagen dicke Schneeflocken herab und ließen die weißen Massen auf den dürftig geräumten Fußwegen schnell anwachsen. Wer nicht hinaus musste, blieb zu Hause.

 

Die schnurgerade, drei Kilometer lange, Friedrichstraße nach Bad-Elmen war fast menschenleer. Selbst in der Nähe der katholischen Kirche St. Marien war am frühen Vormittag niemand zu sehen. Der Gottesdienst hatte eben erst begonnen. Die einzigen Passanten waren zwei kleinen Mädchen, die sich eng aneinanderschmiegten. Sie kämpften sich mühsam durch den Schnee und froren in ihren dünnen Jäckchen. Hiltrud war 7 Jahre alt und Helene 9. Sie trugen abgetragene Halbschuhe, in die der Schnee bei jedem Schritt feucht hineinrieselte. Ihre langen braunen Strümpfe endeten bereits eine Handbreit über den Knien, obwohl die Strumpfhalter sie straff nach oben zogen. Ein Stück Haut am Oberschenkel blieb aber immer frei. Die Kinder teilten sich ein Paar Wollhandschuhe, dass ihnen die Mutter mitgegeben hatte. Mehr hatte sie nicht für die zwei, um sie vor der Kälte zu schützen. Sie mussten zu Fuß gehen, denn die Pferdebahn, die dort einmal fuhr, ging vor zwei Jahren in Konkurs. Die Gleise wurden abgebaut. Auch wenn die Bahn noch fahren würde, sie hätten ohnehin kein Geld dafür.

 

Die Mädels trugen beide einen großen Stoffbeutel mit den illustrierten Zeitschriften für die nächste Woche, die sie bis zum Mittag an die Kunden ihres Vaters ausliefern mussten. Ich Vater betrieb als eingetragener Kaufmann ein Ladengeschäft für Tabak-, Papier- und Schreibwaren, sowie Briefmarken. Dazu gehörte auch der Verkauf von Zeitungen und Büchern inklusiv die Zustellung für einige Abonnenten bis in die Nebenorte. Das mussten die Kinder abwechselnd an jedem Sonntagvormittag übernehmen. In einem Heftchen hatte der Vater die entsprechenden Namen und Lieferadressen der meist wohlhabenden Kunden notiert. Sie mussten in einer festgelegten Route abgegangen werden. Die Kinder hatten Order, die Zeitungen persönlich zu übergeben, entweder an die Herrschaften selbst oder an einen Bediensteten. Nur wenn das nicht möglich war, durften sie in den Briefkasten gesteckt werden, wobei Beschädigungen oder Durchnässungen zu vermeiden waren. Der Vater war darin sehr streng und fragte hinterher danach.

Inzwischen waren Hiltrud und Helene an der Kirche angekommen. Sie hatten damit zwei Drittel des langen Weges nach Bad-Elmen hinter sich. Vor der Kirche standen am Straßenrand zwei Automobile, was damals noch eine Seltenheit war. Leise Orgelmusik drang durch die Mauern des Gotteshauses nach draußen. Hiltrud und Helene schauten sich neugierig die schwarzen Karossen an. Respektlose Schneeflocken wirbelten um sie herum und setzen sich frech auf die Motorhauben, Frontscheiben und Verdecke. Zwei bärtige Männer in schwarzen Gehröcken und Zylindern eilten herbei. Sie standen geschützt im Eingang zur Kirche. Wahrscheinlich waren es die Fahrer, meinte Helene. Einer forderte die Kinder auf, weiterzugehen: "Jeht mal da wech!" Er machte mit beiden Händen eine schnelle Bewegung, als wollte er Fliegen verscheuchen.

 

Nachdem die beiden in Bad-Elmen angekommen waren, bogen sie in die erste Straße ein, in der zehn Kunden auf ihre Lektüre warteten. Die Kinder brauchten nicht groß zu suchen. Sie hatten fast alle Hausnummern und Namen im Kopf. Sie wussten auch schon, wer ihnen aufmachen würde und wer nicht, wer ihnen einen Groschen gab, einen Bonbon oder bei wem es nur an der Gardine wackelte. Dann gab es noch ein paar gefährlich anmutende große Hunde, vor denen man aber keine Angst haben musste und kleine Kläffer, die sich jedes Mal aufgeregt gebärdeten und kläfften, was das Zeug hielt. Neu war heute, dass vor der Villa „Rosenstolz“ das größere der zwei Autos stand, das sie schon an der Kirche gesehen hatten. Die "Markenburgische Zeitung" steckte Hiltrud in den Briefkasten, weil niemand aufmachte.

 

In der nächsten Straße gab es nur vier Kunden zu bedienen. Im Viertel zwischen Bornstraße und Ritterstraße hingegen waren es noch einmal acht. Den Schluss bildeten zwei Kunden, die ausgerechnet an der an der weitesten entfernten Parkstraße wohnten. Dann hatten sie es geschafft und zählten ihre paar Münzen ab. Es waren 60 Pfennige. Danach machten sich wieder auf den langen Rückweg, denn sie wurden zu Hause zum Mittagessen erwartet und mussten pünktlich sein. Ihr Vater war auf Pünktlichkeit bedacht.

 

Als die zwei Mädels müde und erschöpft zu Hause ankamen, saß die Mutter am Küchentisch vor einer Zigarrenkiste, in der sie ihr Haushaltsgeld in verschiedenen Fächern aufbewahrte. Die hatte ihr der Vater mit Pappstreifen gebastelt und fest eingeklebt. Die Mutter stellte den Einkaufszettel für den nächsten Tag zusammen, nahm aus dem einen oder anderen Fach Geldstücke heraus und notierte etwas auf einem Zettel. Dann schüttelte sie den Kopf, gab zwei kleinere Geldstücke in die Kiste zurück und strich auf dem Zettel etwas durch. Hiltrud legte die 60 Pfennige wortlos dazu und sah, wie sich die Mutter freute. Sie bekam jeden Tag von ihrem Mann zwei Reichsmark und musste damit 15 Mäuler stopfen. Hering war zum Glück billig, Kartoffeln und Brot erschwinglich. Ein Pfund Brot kostete damals noch 1,20 RM, erhöhte sich aber bald auf 2,00 RM bis dann 1923 die alles hinwegraffende Inflation kam, weil man zur Begleichung der Kriegsschulden die Banknotendrucker in rasende Umdrehungen versetzte, sodass der Gegenwert der Papier-Reichsmark immer mehr fehlte, was das Leben noch schlimmer machte.

 

Ein riesiger Suppentopf brodelte inzwischen auf dem Herd leise vor sich hin. Der große Esstisch in der Küche war noch nicht gedeckt. Dort saßen die Brüder Ewald und Erwin, sowie Gertrud, eine Schwester von Hiltrud und Helene, vor einer großen Wasserschüssel, in der eine Unmenge von Briefmarken schwamm, die sich vom Umschlagpapier gelöst hatten. Sie wurden von den Dreien vorsichtig herausgefischt, zwischen Zeitungspapier gelegt, anschließend in alten Büchern gepresst und getrocknet. Die Reichsmarkenzähne durften auf keinen Fall beschädigt werden. Der Vater sortierte die Briefmarken später in Tütchen ein, schrieb je nach Inhalt und Art unterschiedliche Preise darauf und verkaufte sie an Sammler. Er selbst kaufte abgestempelte Reichsmarken für einen geringeren Preis auf, verrechnete sie auch mit dem Einkauf. Vor allem arme Leute machten regen Gebrauch davon.

 

Jetzt aber drängte die Mutter, den Tisch freizumachen und begann mit Tellern und Löffeln zu klappern. Es war ein großer Esstisch mit zehn Stühlen für drei Erwachsene, die Oma mitgerechnet, und sieben Kindern, wobei die älteste Tochter Elisabeth mit 18 schon eine Weile „in Stellung“ war", wie es damals hieß. Die Mädchen mussten damals schon mit 14 Jahren bei bemittelten Leuten den Haushalt für Kost, Logis und ein kleines Taschengeld besorgen und fielen damit ihren Eltern nicht mehr zur Last. Manche drückten das auch rabiater aus und sprachen von „Fressern“, die dadurch weniger wurden. Es war aber nicht so gemeint, wie es klang. Der zweitälteste, Fritz, war mit 17 auch schon außer Haus. Die Eltern gaben ihre Kinder nicht gern weg. Es waren die Umstände, die sie dazu zwangen und es war damals so üblich. Zwei Kinder, Lieselotte und Heinz, waren noch zu klein für den großen Tisch und zwei Kinder waren schon kurz nach der Geburt gestorben. Elf Kinder zu haben, war damals nicht ungewöhnlich. Das zwölfte Kind war unterwegs und wurde Ende Juni erwartet. Die Eltern hatten zudem ihre Mutter aufgenommen, die aufgrund ihres Alters und der einsetzenden Demenz pflegebedürftig wurde. Sie stammte aus Schlesien und brachte Geschichten und Rezepte der dort üblichen Speisen mit, wie z.B. süßsaure Birneneintöpfe, schlesisches Himmelreich, Himmel und Erde, schlesische Gurkensuppe – was auch später immer wieder einmal gekocht wurde.

 

Hiltrud und Helene wurden nach dem Essen müde. Das Austragen der Zeitungen und der lange Weg nach Bad-Elmen und zurück forderten ihren Tribut. Bei der Erledigung der Hausaufgaben in Lesen und Schreiben fielen den beiden immer wieder die Augen zu. Sie waren froh, dass der Tag bald zu Ende ging und freuten sich auf ihr Bett in der Dachkammer. Die Kammer verdiente eigentlich ihren Namen nicht. Sie war nur ein mit Leichtbauplatten abgeteilter Bereich unterm Dach, der vier Betten Platz bot. Erwin lag als Ältester allein in einem Bett. Sonst mussten sich zwei Kinder ein Bett teilen. Hiltrud und Helene lagen schon immer zusammen, auch wegen ihrer ähnlichen Mentalität und ruhigen Art. In der Kammer gab es keinen Ofen. Mit dem Kerzenstummel musste sparsam umgegangen werden. Wenn die Kinder auf dem Rücken lagen, sahen sie durch die Dachziegelritzen die Sterne blinken. Jetzt aber sahen sie keinen, denn es lag dicker Schnee auf dem Dach. Er hielt dafür die Kälte ein wenig davon ab, mit unter ihre Bettdecke zu kriechen.

 

E N D E

Impressum

Texte: Wolf Rebelow
Cover: Rebelow KI Copilot
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2025

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /