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Der Adler und der Spatz

 

Zwischen Treseburg und Thale hatte der Teufel im Bunde mit der vom Brocken kommenden "Wilden Bode" die mächtigste Felsenschlucht des Harzgebirges ausgespült, nachdem ihm die Bäuerin und ihr dummer Hahn die Sache mit der Teufelsmauer gründlich versaut hatten. Diesen Misserfolg musste er erst einmal verkraften. Irrtümlicherweise krähte damals der Hahn schon, bevor die Mauer, die sein Reich umschließen sollte, fertig war. Daraufhin zerschlug der Teufel wütend die halbfertige Mauer, tat sieben Jahre lang dumm und schloss dann den Bund mit der Wilden Bode, damit diese ihm ein tiefes Tal in die Felsen ausspülte, genau dort, wo sie am mächtigsten waren. Da wollte er mit seinen Hexen künftig wohnen und Ausflüge zum Hexentanzplatz und zum Brocken unternehmen. Riesige Wände, mehrfach höher als der höchste Kirchturm, ließen kaum das Sonnenlicht bis zum Grunde der Schlucht durch, wo sich die Gischt der Bode wild drehend und schäumend austobte. Man sprach von Hexenkesseln und von unheimlichen Steingebilden, die wie Geister aussahen. Kaum ein Mensch betrat diese unwirtliche Gegend. An stürmischen Abenden aber erzählten sich die Bergbauern die schauderhaftesten Geschichten, die sich in diesem Teufelstal Nacht für Nacht angeblich abspielten.

 

Neben den Hexen, den Geistern und dem Teufel, hatten sich in der tiefen Schlucht auch die mutigsten Tiere und Vögel Felshöhlen gesucht. In einer dieser Höhlen lebte ein mächtiger Adler. Er war schnell, stark und stolz und es ärgerte ihn, wenn der Teufel ihn wie ein Untertan behandelte. Wenn er Adler durch die Lüfte schoss, blickten alle Tiere zu ihm auf. „Ich bin der Beste, der Schnellste, der Höchste!“, rief er immer wieder, wenn der Teufel nicht da war. Kein Tier wagte, zu widersprechen. Ein paar Bäume weiter wohnte auch ein kleiner Spatz. Er war unauffällig, nicht besonders stark, aber freundlich und klug. Er zwitscherte friedlich, sammelte Futter, baute ein Nest und lebte ohne großes Aufheben so vor sich hin. Der Adler hatte den kleinen Vogel, wie auch viele andere, bisher nicht beachtet. Sein Stolz ließ es nicht zu.

 

Was anfangs gefällt, kann später missfallen, sagt ein Sprichwort. So ging es auch dem Teufel. Eines Tages nervte ihn die Dunkelheit in seinem Reich. Die Sonne schickte nur täglich einmal kurz einen hellen Lichtstrahl zum Grunde der Schlucht. Der Teufel musste sich jedes Mal sputen, diesen Lichtstrahl zu erreichen. Eine Hexe hatte ihm nämlich das Sonnenbaden aus gesundheitlichen Gründen dringend angeraten. So stand er denn mittags beizeiten da, schaute hoch zum schmalen Himmelsband zwischen den Felsriesen und erwartete seine "Sonnenfeder", wie er den kurzen Lichtstrahl liebevoll nannte. Nun hörte der Teufel von diesem Adler, der sich in seinem Reich so rüde, vorlaut und ohne Achtung benahm, sich sogar über ihn, den eigentlichen Herrscher, lustig machte. Eine Hexe berichtete ihm, dass er sich als der Beste, schnellste und höchste bezeichnete. Das war dem Teufel zu viel. Er überlegte, wie er diesem Gernegroß beikommen konnte und kam auf die Idee, mit dem Adler einen Vertrag zu schließen. Er sollte zur Sonne fliegen und ihm eine Sonnenfeder holen, womit der sein dunkles Tal etwas erhellen könnte. Zum Lohne wollte er dem Adler ein gutes Stück seiner Schlucht überlassen, in dem er nach Gutdünken herrschen konnte. Natürlich war der Teufel von der Erfolglosigkeit des Adlers überzeugt. Er rechnete damit, dass er sich an der Sonne verbrennen und tot herabstürzen würde. Dann wäre er diesen Konkurrenten auf einen Schlag los. Der Adler aber vertraute dem Teufel blind. Er prahlte vor allen Tieren: „Ich fliege morgen bis zur Sonne! Dann wird jeder sehen, wie außergewöhnlich ich bin.“ Die Tiere staunten – und der Spatz fragte vorsichtig: „Aber … ist das nicht ein bisschen zu viel? Die Sonne ist gefährlich nah.“ „Pah!“, rief der Adler. „Du bist nur neidisch, weil du niemals so weit und so hoch fliegen kannst.“

 

Am nächsten Morgen hatten sich am tiefsten Punkt der Schlucht die Tiere des Tales versammelt, um den Start des Adlers und seinen Flug zur Sonne zu beobachten. Eine pfiffige Hexe hatte dem Teufel geraten, ein abschreckendes Exempel für alle zu statuieren. Alle sollten sehen, was dem passiert, der sich gegen den Teufel auflehnt. Doch zunächst veranstalteten drei Hexen, eine Flugschau auf neuartigen Besen. Dann eröffnete der Teufel das eigentliche Ereignis. Der Adler schritt auf den Startpunkt zu, öffnete wie ein Pfau seine Flügel und verbeugte sich. Dann startete er unter Beifall der Anwesenden seinen Rekordflug. Er schraubte sich höher und höher in den Himmel. Bald hatte er die Felsengipfel erreicht. Erst fühlte er sich fantastisch. Doch dann wurde die Luft dünner, die Sonne blendete, und plötzlich – wurde es heiß. Zu heiß! Seine Federn begannen zu brennen, er verlor die Kontrolle und stürzte ab.

 

Als er unten aufschlug, war er schwer verletzt. Der Teufel und seine Hexen hatten den Ort des Geschehens bereits verlassen. Die anderen Tiere trauten sich kaum zu ihm – nur der Spatz kam angeflogen. Ohne ein Wort brachte er Wasser, ein paar Körner, und blieb an seiner Seite. Tag für Tag. Der Adler wurde wieder gesund. Doch er war nicht mehr derselbe. Er flog wieder – aber tiefer, bewusster, dankbarer. Und wenn er den Spatzen traf, nickte er ihm freundlich zu. Er hatte verstanden: Du wirst im Leben Höhen und Tiefen erleben, Erfolge und Misserfolge haben. Fehler bringen dich oft weiter als ein perfekter Plan. Wer prahlt oder sich mit dem Bösen einlässt, wird keinen Erfolg haben. Und manchmal sind die stillen Menschen im Leben diejenigen, von denen du am meisten lernen kannst. Dieses Mal hatte der Teufel fast gesiegt, war aber nicht erfolgreich. Sein Plan ging nicht auf. Die begehrte Leuchtfeder, die sein Reich erhellen sollte, bekam er nicht von der Sonne. Adler und Spatzen fliegen noch heute im Bodetal, Teufel und Hexen sieht man nur noch selten. Sie leben im Dunkeln.

 

 

 

E N D E

 

Impressum

Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: chatGPT
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2025

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