Verließ man die Stadt Tasselburg in Richtung Brinkenwalde, musste man einen großen Wald durchqueren, ehe dieser dann nach etwa fünf Kilometern in eine offene Landschaft überging. Man nannte ihn offiziell "Brinkenwald". Kurz hinter dem Ortsausgang zweigte allerdings schon eine schmale Straße nach links ab. Auf dem Wegweiser stand "MANKOSANZ". Eine Schranke versperrte die Zufahrt. Nur für die Mitarbeiter von "MANKOSANZ" öffnete sie sich morgens und abends wie von Geisterhand und gab ihnen den Weg frei bis zum Haupteingang des fast viereckigen Areals, das von einer gewaltigen grünen Mauer umgeben war. Man sah aber nur jeweils ein kurzes Stück dieser Mauer beiderseits vom Eingang, weil sie im weiteren Verlauf im Grün des Waldes aufging. Schilder verboten in kurzen Abständen das Betreten dieses Waldteiles. Kameras überwachten Tag und Nacht, ob das Verbot eingehalten wurde. Sie registrierten alles, was sich in der Nähe bewegte.
Was bei "MANKOSANZ" produziert oder getan wurde, lag im Dunkeln, wobei am Haupteingang auf einem ovalen Schild zu lesen war:
MANKOSANZ
Institut für Mankos und Brisanz
Erforschung von Zuständen, Aufgaben,
Maßnahmen, Vorhaben und Reaktionen.
So richtig konnte sich niemand etwas darunter vorstellen. Man nahm es in Tasselburg zur Kenntnis oder nicht. Es war eben ein Sperrgebiet, ein wohl wissenschaftliches, vermutete man. Außerdem war es relativ klein im Verhältnis zum ganzen Wald, etwa so wie eine Briefmarke zum Umschlag.
Einige Ältere kannten noch das DAMW aus ihren Zeiten. Dort prüfte man Material und Waren. Jetzt sind es eben Zustände, usw., schlussfolgerte man und kümmerte sich nicht weiter darum. Der Jugend ging ohnehin alles hinten vorbei. Wer am Haupteingang oder an einer anderen Stelle doch einmal einen Blick über die Mauer werfen konnte, sah nur dichte Büsche und Bäume, die alle Gebäude im Inneren verdeckten. Neben dem Haupteingang gab es auf den anderen drei Seiten des Mauer-Vierecks noch kleine eiserne Türen, die aber meistens verschlossen waren.
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Der Brinkenwald war auch ein beliebtes Ausflugsziel mit vielen Wanderwegen. In der Mitte kreuzten sich die Straße nach Brinkenwalde mit einer anderen. Auf den Landkarten sah darum der Wald wie eine vierfach geteilte Torte aus. An der Kreuzung lud die Ausflugsgaststätte "Zum Brinkerkreuz" zu Speise, Trank und Unterhaltung ein. Der Wirt, Waldemar Wuschke, verstand sein Geschäft. Der beliebte Biergarten grenzte an den großen Parkplatz. Besonders an den Wochenenden, zu Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten war dort immer viel los.
Die Tiere des Waldes, bis auf ein paar Vögel, mieden diese Kreuzung allerdings. Wildschweine, Mufflons, Füchse, Dachse, Marder, Hasen, Igel, Eichhörnchen, Rothirsche und Rehe teilten sich die stilleren Gebiete. Zur Paarungszeit endeten allerdings die Rangkämpfe oft blutig. Die Muttertiere hatten zu tun, um ihre Jungen zu schützen und mit Nahrung zu versorgen.
Wie alle Rehe, lebte auch die Ricke "Feline" fast das ganze Jahr über allein im Brinkenwald. Ende Juli machte ihr ein hübscher Rehbock den Hof. Er konnte gut pfeifen, was Feline so sehr beeindruckte, dass sie sich auf ihn einließ. Das Jahr verging, ein neues kam. Nach ein paar weiteren Monaten merkte sie, dass sie kurz vor einem freudigen Ereignis stand. Die Bekanntschaft mit dem hübschen Bock blieb nicht ohne Folgen. Nachwuchs meldete sich an.
Der Frühling war schon eine Weile ins Land gezogen als Feline begann, sich am nördlichen Rand des Brinkenwaldes, dort wo die Gräser und Gebüsche am dichtesten waren, einen geeigneten Platz zu suchen. Feline war sehr wählerisch, denn ihr "Setzplatz" musste hohen Anforderungen genügen, vor allem aber ruhig und sicher sein. Sie brauchte auch in der Nähe genügend Nahrung für sich, denn sie musste bis zum Herbst mehrmals täglich ihre Kleinen säugen. Während sie die nahrhaften Gräser und Planzen äste, blieben ihre Babys "Tambo" und "Tambi" die ersten drei Wochen ruhig in ihrer Kuhle liegen, selbst wenn über ihnen der "Rote Milan Greif" gefährlich kreiste oder "Fuchs Rambo" durch den Wald strich. Die Kuhle hatte die Mutter sorgfältig und tief genug mit ihren Vorderläufen ausgescharrt. Sie entfernte auch pieksende Ästchen und Wurzeln. Nach vier Wochen begannen "Tambo" und "Tambi" ringsherum auch ein paar saftigen Gräser abzurupfen, so wie sie es bei ihrer Mutter gesehen hatten. Das war ihnen eine willkommene Abwechselung zur täglichen Muttermilch und wurde schließlich im Spätherbst ihre Hauptnahrung. Bei Gefahr blieben sie nun auch nicht mehr reglos in ihrer Kuhle liegen. Sie waren nun stark genug, um gegebenenfalls schnell die Flucht zu ergreifen. Vorher bellten sie kurz, um andere Rehe zu warnen. War die Gefahr vorbei, fiepten sie leise, damit die Mutter sie finden konnte. So verging die Zeit. Es wurde Winter. Feline zeigte ihren zwei Kindern wohlschmeckende Brombeerbüsche, Winterkräuter und Schachtelhalme sowie auch Pflanzen, die verboten waren. Tambo und Tambi lernten, wie man eine Schneedecke aufscharren kann und was man tun muss, um in den Winternächten nicht zu frieren.
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Der Fuchs Rambo war kein Fuchs, wie es sich eines Tages herausstellte, sondern ein Goldschakal. Seine ungewöhnlich langen Beine, das goldgelbe Fell und die dunkle Spitze seines buschigen Schwanzes machte Feline misstrauisch. Sie hatte hier im dichten Wald so ein Tier noch nie gesehen, geschweige denn gerochen, und alarmierte mit einem kurzen Bellen ihre Kitze Tambo und Tambi, die ein Stück weiter friedlich ästen. Sofort stellten diese ihre Lauscher auf und bemerkten auch gleich den Geruch dieses fremden Hundetieres. Doch schon sprang Feline flüchtend an ihnen vorbei. Die zwei Kitze folgten ihr unverzüglich. Der Schakal konnte das Tempo nicht mithalten, gab schließlich auf und begnügte sich mit ein paar Mäusen, die seinen fuchsähnlichen Sprüngen nicht ausweichen konnten. Dann verschwand er aus dem Wald. Schakale fühlen sich in einem offenen Gelände wohler.
Die kleine Rehfamilie hatte auch bald eine sichere Lichtung erreicht. Feline blieb stehen und sicherte nach allen Seiten. Ihre Lauscher drehten sich abwechselnd in jede Richtung. Mit ihrem ausgezeichneten Geruchssinn prüfte sie die Düfte im Umkreis von 300 m. Erst dann gab sie ihren Kitzen ein Fiep-Zeichen, was bedeutete, es sich hier zwischen den dichten Gebüschen für die Nacht gemütlich zu machen.
Noch vor Sonnenaufgang wurden sie durch ein lautes Gebell aufgeschreckt und mussten wieder die Flucht ergreifen. Ein frei umherlaufender Hund hätte bald Tambi erwischt. Er stürzte außer Rand und Band mit gefletschten Zähnen auf das Rehkitz zu und ließ sich von den Rückrufen seines Herrchens nicht beeindrucken. Kurz bevor der Hund zuschnappen konnten, entwischte die zu Tode erschrockene Tambi seinen Zähnen und konnte fliehen. Der etwas beleibte Hund erkannte die Sinnlosigkeit einer Verfolgung und ließ sich widerstandslos anleinen.
Auf ihrer Flucht mussten die drei Rehe auch die Straße in der Nähe der Gaststätte "Brinkerkreuz" überqueren. Feline ließ sich trotz des morgendlichen Verkehrs nicht davon abhalten. Sicherlich steckte auch noch der Schreck in ihren Gliedern. Tambi und Tambo vertrauten ihrer Mutter und folgten ihr nacheinander mit kurzem Abstand. Zum Glück gelang ihnen das gefährliche Vorhaben, weil in letzter Sekunde ein heranrasendes Auto nach einer gewagten Notbremsung gerade noch so zum Stehen kam. Der Fahrer hatte, wie die meisten anderen auch, die Begrenzung der Geschwindigkeit und das Wildwechsel-Schild nicht beachtet.
Auf der Suche nach einem sicheren Platz kamen die drei an den Rand einer weiteren Lichtung. Die Rehmutter kannte sie und blieb misstrauisch hinter einem Gebüsch stehen. Tambi und Tambo kuschelten sich ins hohe Gras. Vorsichtig ging Felina ein Stück um das Gebüsch herum und blickte durch einen Spalt über die fette Wiese, an deren Ende ein hölzerner Turm stand. Der Wind stand ungünstig, so dass keine Gerüche herüberwehten. Die Rehricke war skeptisch. Dann krachte ein Schuss, der offensichtlich nicht ihnen sondern einem anderen Tier galt. Schnell verließen sie diesen Ort.
An diesem Tage, wie auch an weiteren, mussten die drei noch viele gefährliche Situation meistern. Sie alle zu erwähnen, würde den Rahmen dieser Kurzgeschichte sprengen. Nachts schliefen sie nur drei bis vier Stunden, wobei sie zwischendurch mehrmals wach wurden. Sie waren immer auf der Hut vor ihren Feinden und wechselten mehrfach ihre Schlafplätze. Neben den Wildschweinen, Füchsen, Schakalen und den Raubvögeln waren die Menschen ihre ärgsten Feinde. Feline nannte sie "Kugelköpfe". Überall lauerten sie mit ihren Flinten. Sie selbst würden das umgekehrt nicht aushalten und sich eine ruhigere Gegend suchen. Sie warnte ihre Kitze Tambi und Tambo, nicht in die Nähe der großen grünen Mauer zu kommen.
Eines Tages aber geschah das aber doch. Als ob sich alle tierischen Räuber des Brinkenwaldes verabredet hätten, jagten sie die kleine Rehfamilie kreuz und quer durch den Brinkenwald. Immer wieder musste Feline mit ihren Kindern die Flucht ergreifen. Kaum waren sie zur Ruhe gekommen und wieder vereint, drohte eine neue Gefahr. Sie wurden so getrieben, dass sie dem Sperrgebiet der Kugelköpfe immer näher kamen und sich zudem noch voneinander entfernten. So kam es, dass Tambo plötzlich ganz allein vor der grünen Mauer stand. Hinter ihm näherte sich die Meute. Die Sache wurde für den jungen Rehbock gefährlich. Im gleichen Augenblick öffnete sich in der grünen Mauer eine kleine Tür. Ein Kugelkopf erschien, ging ein paar Schritte in den Wald und blieb suchend stehen. Das war die Rettung für Tambo. Er sprang auf, sprintete mit letzter Kraft durch die angelehnte Tür und verschwand unbemerkt im Inneren des Sperrgebietes.
Tambo verstand es, sich eine geraume Zeit lang in dem abgesperrten Wäldchen zu verstecken. Er hatte dafür sehr viel von seiner Mutter gelernt. Er passte seinen Tagesrhythmus so an, dass ihn niemand bemerkte. Tagsüber versteckte er sich und nachts suchte er sich Fressbares, was genügend vorhanden war. Irgendwann wurde er jedoch entdeckt, was sich im ganzen Institut herumsprach. Er ließ sich jedoch nicht fangen. Im Gegenteil, es entwickelte sich eine Art Fan-Gemeinschaft, die ihn mit frischen Wasser versorgte.
Die Geschichte endete glücklich. Der Direktor veranlasste ein Prüfung der Lage. Schließlich war das die ureigenste Aufgabe dieser Einrichtung, nämlich die Prüfung von Zuständen aller Art auf Schwachstellen und Brisanz. Das Gutachten kam zum Schluss, dass die Duldung des Rehbockes im Sperrgebiet keine Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit des Institutes hat. Und so leben sie heute noch friedlich nebeneinander.
Ende
Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: Coverbild Microsoft Designer
Cover: Wolf Rebelow
Lektorat: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2025
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