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Die Aufbruchstimmung

Die Aufbruchstimmung

eine satirische Humoreske

 

Es war zur Tradition geworden, dass sich die fünf alten Haudegen jeden Freitag um 18 Uhr im Gasthaus "Zur Post" trafen. Sie saßen stets am gleichen Tisch, tranken eine selbstkreierte, fast alkoholfreie Bierbowle und diskutierten angeregt Themen, die offensichtlich nach keinem bestimmten Ritual ausgewählt wurden. Freilich fehlten auch einmal ein oder seltener zwei der alten Herren aus gesundheitlichen oder anderen Gründen, wie das bei älteren Leuten so ist, die schon länger ein "a.D." vor ihrer ehemaligen Berufsbezeichnung führten. Das tat aber der Sache keinen Abbruch. Alle freuten sich auf das wöchentliche Treffen, bei dessen Gründung sicherlich Heinrich Spoerls berühmte "Feuerzangenbowle" eine Rolle spielte oder auch Loriots "Vereinssitzung".

 

Jetzt saßen sie alle pünktlich um sechs Uhr abends auf ihren Plätzen. Ihr Stammtisch, es gab noch einen allgemeinen, stand etwas geschützt vor neugierigen Augen und Ohren in einer Art Loge, an deren Wand ein paar Garderobenhaken die Mäntel, Gehstöcke und Schirme der Herren aufgenommen hatten. Der Wirt stellte das gefüllte gläserne Bowlengefäß mit seinem üppig geschliffenem Muster samt Deckel und Kelle zeremoniell auf den Tisch, was durch freudige Wohllaute einiger Herren begleitet wurde. Berthold Blaffke, Studienrat a.D., der heute den Vorsitz innehatte, gab nach einer kurzen Begrüßung das Zeichen zum Füllen der Gläser in der üblichen Reihenfolge. Mit dem Anstoß und dem ersten Schluck wurde der Stammtischabend eröffnet. Das leise Rülpsen von Alfred Amsel, Oberrat a.D., wurde geflissentlich überhört, weil Amtsrat a.D. Christian Chorast gleichzeitig laut in sein Taschentuch schneuzte.

 

Blaffke ergriff das Wort: "Meine Herren, sie haben sicherlich auch die gestrige Antrittsrede des neuen Regierungschefs gehört oder heute in der Zeitung gelesen. Mir ist besonders der Optimismus aufgefallen, den seine Rede ausstrahlte. Aber nicht nur das, sondern auch der wiederholte Hinweis des neuen Chefs, dass mit der richtigen Aufbruchstimmung, die jetzt allgemein herrscht, unser Land und die EU aufblühen werden. Diese Formulierung lässt vermuten, dass es auch eine falsche Aufbruchstimmung geben muss. Aber das nur nebenbei. Wir werden später darüber reden." Amsel räusperte sich kurz und fuhr fort: "Ich habe mich mal schlau gemacht, was eine "Aufbruchstimmung" überhaupt ist, woher sie kommt, was sie bewirken kann, wer sie hat oder wer nicht und was wir hier an diesem Tisch bewirken können. Ich dachte mir, dass diese und natürliche weitere Fragen in diesem Zusammenhang eine interessante Diskussionsgrundlage für unseren heutigen Stammtisch sein könnte." Amsel blickte ein paar Sekunden in die Runde.  Der mittlere und der einfache Dienst schwiegen. Der gehobene Dienst wackelte prüfend mit dem Kopf und der höhere Dienst raschelte mit Papier. Amsel nahm es als schweigende Zustimmung zum Thema und zitierte zunächst eine KI, was diese unter "Aufbruchstimmung" versteht, nämlich eine kollektive positive Atmosphäre des Neuanfangs, der Hoffnung und der Veränderungsbereitschaft. Alle schrieben mit, besonders Erwin Emslich, der heute für das Protokoll verantwortlich war. Amsel eröffnete dann sogleich die Diskussion und schaute erwartend in die Runde.

 

Herr Dalke meldete sich und fragte etwas unsicher: "Sehen das alles so? Empfindet ihr alle diese Aufbruchstimmung? Ich frage mich, woher sie auf einmal gekommen ist oder ob sie hereingetragen wurde? Wenn ja, von wem jetzt und warum nicht schon eher; oder hat sie sich aus bestimmten Umständen selbst ergeben, welche Umstände wären das? Wer entscheidet, ob wir jetzt so eine Stimmung haben oder nicht? Gibt es welche, die sie verneinen?" Er schluckte: "Ich meine, dass man sich eine Stimmung auch einreden kann. Wie oft kann der Mensch einen Neuanfang überhaupt vertragen? Wie viele sind ihm in seinem Leben zumutbar? Es gab ja schon einige. Sagt uns nicht die Erfahrung, dass ein häufiger Neuanfang Geld und Gut vergeudet? Sprach nicht schon oft nur von einem Neuanfang, der die Macht gerne hätte. Wie erschöpft griff Dalke zum Glas und nahm sich einen größeren Schluck. Ein wenig erschrocken war er schon über seine eigenen Worte. Es waren ja nur Fragen, die ihn beschäftigten und die man wohl einmal stellen kann, beruhigte er sich. Herr Blaffke dankte für den Beitrag, ohne ihn zu kommentieren.

 

Oberrat Amsel hatte einen roten Kopf bekommen, sagte aber nichts. Chorast meldete sich, Blaffke nickte ihm zu. "Eine Aufbruchstimmung kann auch negativ sein, wenn jemand zum Aufbruch gezwungen wird. Ich meine damit, dass die KI nur eine Seite erfasst hat. 1936 gab es auch eine Art Aufbruchstimmung und einen wirtschaftlichen Aufschwung. Wie das endete, wissen wir alle. Es sollte uns eine Lehre bleiben. Die Flüchtlinge nach diesem "Aufschwung" mussten sich notgedrungen auch in eine Aufbruchstimmung versetzen, allerdings in eine traurige, gefährliche, die ihre natürlichen Abwehr-Reflexe ankurbelte. Napoleon zog auch seinen Schwanz ein, nachdem sein Aufbruch in die Heimat im Frost steckenblieb. Lest Tolstoi. Mich beschäftigt auch, wie lange so eine Stimmung überhaupt anhält und was sie beeinflusst, denn Stimmungen sind flüchtig. Was ist, wenn auch unser Aufbruch aus irgendwelchen Gründen kränkelt? Hatten wir das nicht schon. Hat man für einen solchen Fall Gegenmaßnahmen vorbereitet? Stimmung und Erfolg sind Zwillinge. Es genügt nicht zu wollen, man muss es auch tun, sagte Goethe."

 

Amsel griff ein: "Ich denke man sollte nicht so viel philosophieren, sondern pragmatisch an die Sache herangehen. Lasst uns lieber nach vorn schauen und beraten, wie wir diese Prozesse konkret unterstützen können. Was nützt uns diese Wortspalterei. Man weiß doch, worum es geht." Er hob sein Glas und prostete der Runde zu.  Emslich schrieb emsig mit, bemerkte aber beim Absetzen seines Stiftes: "Wer Gesagtes mit Ungesagtem verknüpft, kommt zu neuen Erkenntnissen." Der Studienrat a.D. nickte.

 

Der Wirt, Alois Bauchspeck, stand schon eine Weile mit einem neuen Bowle-Topf drei Meter vor dem Tisch und traute sich nicht heran. Blaffke, der über eine kleine Pause erfreut war, winkte ihn heran. "Ich habe jetzt wie üblich ein paar Klare und richtiges Bier hineingetan - ist es recht so?", murmelte er Blaffke ins Ohr. Der nickte geistesabwesend und forderte alle auf, sich neu einzuschenken. Der rege Wortwechsel während der Diskussionspause wurde nicht mitprotokolliert. Jeder war mit seinem Glas beschäftigt und dachte wohl über das Gesagte nach.

 

Der Wirt nutzte die Gelegenheit, um diskret jedem eine Speisenkarte unterzujubeln. Es war eigentlich nur ein bescheidenes A5-Blatt in einer durchsichtigen Plastikhülle. Alfred Amsel war der erste, dem das mickrige Angebot und die sagenhaften Preise auffielen. Es wurde getuschelt. Tasächlich gab es nur fünf Gerichte, wobei drei nicht einmal diese Bezeichnung in Anspruch nehmen konnten. Bauchspeck wartete mit Block und Bleistift. Als es ihm zu lange dauerte, fühlte er sich aufgefordert, eine Erklärung abzugeben. Er bedauerte, durch die steigenden Betriebskosten, zu einer radikalen Kostensenkung gezwungen worden zu sein. Er wirkte sichtlich berührt als er weitersprach: "Ich führe jetzt in vierter Generation die Gaststätte ‚Zur Post‘, die mein Urgroßvater vor über ‚hundertfuffzich‘ Jahren eröffnet hat. Nicht immer waren die Zeiten gut, doch es ging immer weiter. Jetzt aber musste ich einen gelernten Koch und zwei Küchenhilfen entlassen. Der Umsatz deckt nicht mehr die Kosten, die Rücklagen sind aufgebraucht. Die Teuerung der einzelnen Positionen will ich hier nicht näher erläutern, den stets steigenden Mehraufwand für die Ämter und ihre Schrullen auch nicht. Alles wurde schon oft in den Medien genannt, ohne dass sich etwas geändert hat. Eigentlich sollte dieses Jahr der Biergarten erweitert werden. Das und weitere Vorhaben musste ich aufgeben. Jetzt halten mit mir noch meine Frau, ein Koch und eine Küchenhilfe den Notbetrieb aufrecht." Dem Wirt standen die Tränen in den Augen. Dann nahm er die Bestellungen auf und empfahl einen Kesselgulasch für "neunzehnfuffzich", der angeblich heute besonders gut gelungen war. Vier der Herren bestellten das Gericht, einer eine Bratwurst auf Brot mit Senf für "siebenfuffzich". Der Wirt eilte in die Küche, nachdem er seine Hoffnung zur Kenntnis gab: "Wir bleiben zuversichtlich. Es soll ja nun mit der verkündeten Aufbruchstimmung wieder besser werden."

 

Tatsächlich war der Gulasch ein Genuss. Der Oberrat lobte auch die Bratwurst, als Alois Bauchspeck das Geschirr abräumte. Die verstärkte Bierbowle machte sich bei einigen schon bemerkbar. Studienrat Blaffke eröffnete die letzte Diskussionsrunde: "Wie wir gehört haben, kann der eine Aufbruchstimmung bekommen, der es sich leisten kann. Wir sollten einmal über die Rahmenbedingungen für eine Aufbruchstimmung, konkret über die materiellen Voraussetzungen, sprechen." Oberrat a.D. Amsel griff mit rotem Kopf ein: "Wollen wir jetzt in Richtung Marx abdriften?", fragte er etwas pikiert und ergänzte: "Wohin der uns geführt hat, haben wir ja gesehen. Ein Mann, der nie in einer Werkhalle war, kann den dort Schaffenden keine Ratschläge geben. Ich denke, wir sollten den Marxismus außen vorlassen." Der Studienrat beschwichtigte ihn: "Die Zeit ist für Themen dieser Art schon zu weit fortgeschritten, weshalb ich eine Vertagung vorschlage." Alle waren einverstanden. Allerdings hatte die Motorik der Diskussion einen Knacks bekommen. Eine Pause trat ein, die überbrückt werden musste. Blaffke überlegte krampfhaft. Eine Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse könnte den schweigenden Motor wieder ankurbeln, dachte er sich. Er begann: "Fassen wir kurz zusammen, was bisher gesagt und nicht gesagt wurde. Aufbruchstimmung ist ein Begriff, der eine Atmosphäre des Neuanfangs beschreibt. Es gibt die positive Aufbruchstimmung und die negative. Eine positive hat der, der bereit ist ...“

 

An dieser Stelle wurde der Studienrat vom Amtsmeister Emslich unterbrochen, weil er mit dem Protokoll nicht nachkam. Seine Schrift hatte sich auch verdächtig verändert. Er rief alle auf, weniger zu reden und mehr zu handeln und endete mit: "Lasst uns in Horn stoßen und aufbrechen oder ins Horn brechen und aufstoßen!"  Das letzte Wort hatte der Oberrat. Zu Emslich gewandt sagte er: "Manche Sprüche sind so alt und so unbeliebt, wie jene, die sie immer wieder hervorkramen." Blaffke beendete vorzeitig den Stammtisch.

 

 

Ende

 

Aphorismen zum Thema

Ein Vorteil wird zum Nachteil, wenn sich das Blatt wendet und man sich nicht mit wendet.
Ein häufiger Neuanfang vergeudet Geld und Gut.
Im Alten steckt immer etwas für das Neue.

 

In der Politik spricht auch der von einem Neuanfang, der die Macht gerne hätte.
Lieber einen guten alten als einen schlechten Neuen.
Was müssen die alten Geister doch so gut gewesen sein, dass die neuen so schlecht von ihnen sprechen.

 

Wenn neue Umstände dein altes Glück nicht zerstören, hast du Glück gehabt.
Wer als Erfolgloser einen Neuanfang verspricht, will oft nur bleiben.
Wer das Alte verhöhnt, kann mit dem Alten nichts Neues beginnen.

 

Wer Gesagtes mit Ungesagtem verknüpft, kommt zu neuen Erkenntnissen.
Wer nichts auf die Reihe bringt, erfindet neue und die anderen haben Schuld, was sich als Irrtum erweisen wird.
Wird ein Neuanfang akzeptiert, braucht das Alte nicht beleidigt zu werden.

 

Der Frühling erneuert die Natur. Die Menschheit muss ihre Erneuerung selber tun.
Jede Repristination ist eine Melange von Altem und Neuem.

Stammtisch

 

Ort:

Gasthaus zur Post in einer Mittelstadt
Wirt Alois Bauchspeck

Stammtisch:

Oberrat Alfred Amsel (Höherer Dienst)
Studienrat Berthold Blaffke (Höherer Dienst)
Amtsrat Christian Chorast (Gehobener Dienst)
Amtsinspektor Dieter Dalke (Mittlerer Dienst)
Amtsmeister Erwin Emslich (Einfacher Dienst)

Zeit:

egal

 

Impressum

Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Lektorat: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 09.05.2025

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