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Selbstsicher

Elias war immer das leise Kind in der Klasse. Er saß im Klassenzimmer allein auf dem Wandplatz der hintersten Bankreihe, vom Fenster abgewandt. Dort fühlte er sich geschützt und unbeobachtet. Doch das machte ihn nur noch interessanter für diejenigen, die wie Kai und seine Freunde, die sich "Kailer" nannten und vorn saßen, Freude daran fanden, Schwächere zu mobben. Tag für Tag wurde er von ihnen verspottet – seine Kleidung, seine schüchterne Art, seine Leidenschaft für Bücher und Musik. Hinter Elias und rechts von ihm saß niemand mehr. Die übrigen Schüler vor ihm waren ihm ein Schutzwall zwischen ihm und der "Kailer-Truppe" sowie dem Lehrer. Tatsächlich nahm Herr Flunsch auffallend Elias wenig "dran", was allerdings auch daran liegen konnte, dass er sich kaum meldete. Er fühlte sich in der Schule nicht mehr wohl, besonders seitdem kurz vor Beginn des neuen Schuljahres aus irgendwelchen Gründen der Klassenlehrer gewechselt wurde. Man sagte, dass Herr Heining eine neue Aufgabe in einer anderen Schule übernommen hat. Herr Heining war ein sogenannter Neulehrer. Er gab Deutsch sowie Russisch und verstand es, die Kinder der 5a einfühlsam und gut zu unterrichten. Er lobte sie oft und tadelte, wenn es sein musste, sachlich und mutmachend. Er dachte sich auch Förderungsmaßnahmen aus, die gern angenommen wurden und spannte dabei die Leistungsstärkeren mit ein. Den Zwist zwischen den "Kailern" und den schwächeren Schülern verstand er auf Sparflamme zu halten. Elias war nicht dumm aber zurückhaltend, beinahe schüchtern und traute sich nicht viel zu. Er wusste bei Fragen zwar die Antworten, hatte aber Angst, sich zu melden, weil er nicht gern in der Öffentlichkeit stand und wurde unsicher, wenn ihn andere anstarrten. Darum wollte er auch immer schnell mit den Antworten fertig werden. Hastig und viel zu leise sprudelten die Worte aus seinem Mund, wobei er auch stotterte und Buchstaben verschluckte. Ein drückender Ring legte sich um seinen Brustkorb, das Herz klopfte viel zu schnell. Die Schüchternheit ärgerte ihn selbst. Aber er machte Dank des pädagogischen Geschickes von Herrn Heining Fortschritte.

 

Jetzt war auf einmal alles anders. Herr Flunsch, der bisher ihr Turn- und Physiklehrer war, übernahm die 6a als Klassenlehrer. Er gab nun auch Deutsch. Physik übernahm Herr Schönborn, ein junger und sympathischer Lehrer. Herr Flunsch hingegen betonte oft, dass nun ein neuer Wind wehen würde. Zudem waren neue Schüler dazugekommen, weil einige plötzlich fehlten. Alte Freundschaften zerbrachen deshalb, neue bildeten sich nur langsam heraus. Man musste sich erst wieder kennenlernen. So war das fast immer nach den großen Ferien. Das hatte natürlich Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Klasse und musste durch die Lehrer gefühlvoll kompensiert werden. Herrn Flunsch gelang das nicht besonders. Elias Entwicklung bekam einen Knacks. Seine Unsicherheit wuchs wenn die "Kailer" sich tuschelnd über ihn amüsierten und der neue Klassenlehrer nervös mit seinem Stift auf seine Bank trommelte. Herr Flunsch rief sie kaum zur Ordnung. Es schien, als ob er an ihnen einen Narren gefressen hatte. Er bevorzugte sie oft. Sie kamen immer wieder dran, wenn sie sich meldeten und heimsten Lob ein. Ab und zu forderte der Lehrer Elias aber direkt zur Antwort auf. Seine dabei süffisant klingende Frage: "Was sagt denn unser weiser Elias dazu?" wirkte auf den Jungen wie eine Ohrfeige. Vor ihm drehten sich ein paar "Kailer" herum und grinsten ihn an, als ob sie etwas Lustiges erwarten würden. Es waren immer die gleichen. Ein paar andere schauten hingegen nach unten, als wenn sie sich kleiner machen wollten. Elias tat ihnen leid. Sie waren froh, dieses Mal davongekommen zu sein.

 

Ein Riss ging durch die Klasse. Herr Flunsch merkte es nicht. Nicht im Klassenzimmer und auch nicht in der Turnhalle. Sein Sportunterricht war stets mit Wettbewerben gespickt und endete mit einem Mannschaftspiel. Flunsch bestimmte die Manschaftskapitäne, die dann wechselseitig ihre Spieler aufriefen. Die "Unsportler" blieben übrig. Sie saßen dann auf der langen Turnbank und schauten unbeteiligt zu. Der Lehrer nannte sie "Turnbanksitzer", die mit Sport nicht viel am Hut haben. Noch schlimmer war es, wenn er einen der besten Spieler spontan und eigentlich ohne Grund auswechselte. Dann forderte er einen "Unsportler" auf, ihn zu ersetzen. Oft traf es Elias. Die Mannschaft murrte natürlich. Sie fühlte sich nun gegenüber der gegnerischen Mannschaft benachteiligt und ließ ihrem Unmut mit entsprechenden Bemerkungen freien Lauf. Bei jedem Fehler des "Deppen", brauste Gelächter auf. Ihm war es ein Spießrutenlauf. Des Lehrers Trillerpfeife hatte Hochkonjunktur.

 

Im Verlauf der Zeit verhärteten sich die Zustände in der 6a. Die "Turnbanksitzer" rückten näher zusammen. Eines Tages standen Elias mit einigen anderen zusammen in einer Ecke des Schulhofes. Die Deutschstunde vorher war für sie ein Martyrium, weil einige ihre etwas unglücklich formulierten Aufsätze vorlesen mussten. Während sie jetzt ihre Pausenbrote aßen, gab ein Wort das andere. Manche hörten nur zu und nickten hin und wieder zustimmend. Keiner wusste, was man tun könnte. Mit dem Lehrer zu sprechen, traute sich keiner. Vom Direktor erwarteten sie auch keine große Hilfe. Beide Varianten könnten ins Gegenteil umschlagen, befürchtete man. Dann hätte man ihn sicher "auf dem Kieker". Wer sollte das auch machen, wer war so mutig? Am Ende einigten sie sich alle, zunächst mit den Eltern darüber zu sprechen. So konnte es nicht weitergehen. Es klingelte; die Pause war vorbei. Lustlos trotteten die "Turnbanksitzer" in ihr Klassenzimmer. Herr Flunsch forderte Elias auf, "nach vorn zu reiten" und den Erlkönig vorzutragen. Einer von den "Kailern" wieherte, was dem Anführer Kai natürlich gefiel. Er prustete los. Herr Flunsch überhörte es geflissentlich.

 

An diesem Abend schmeckte Elias nicht einmal die leckere Bratwurst. Nach dem Abendbrot fragte ihn seine Mutter: "Dich bedrückt doch etwas. Willst Du mit mir sprechen?" Elias nickte und begann stockend zu erzählen. Die Mutter hörte ihm aufmerksam zu. Sie nahm Elias und seine Gefühle ernst. "Mache dir keine Vorwürfe. Du hast keine Schuld, wenn dich andere ärgern und wenn du dich in der Schule nicht wohlfühlst." Elias blickte sie an. Er war erleichtert, dass die Mutter ihn verstand und so reagierte. "Aber was soll ich denn tun, damit das aufhört?", fragte er. "Du musst deutlich sagen, was dir nicht gefällt. Elias hatte einen knallroten Kopf bekommen, seine Ohren glühten. Seine Hände schwitzten bei der Vorstellung, mit seinen zwölf Jahren so aufzutreten. Doch schon kam die Frage: "Schreibst du dir alles auf, was dir widerfährt?" Elias schüttelte mit dem Kopf. "Dann mache es bitte ab jetzt, aber so, dass es niemand merkt und lesen kann. Es sind deine ganz persönlichen Notizen, so etwas, wie ein vertrauliches Tagebuch." Die Mutter beruhigte ihn: "Mache dir heute keine Gedanken mehr, sonst kannst du nicht schlafen. Wir reden morgen nocheinmal über diese Sache und finden auch eine Lösung, wie du deine Unsicherheit überwinden kannst. Sie spielten noch ein paar Runden "Mensch ärgere dich nicht" und hörten klassische Musik. Ludwig van Beethovens Romanze in G-dur gefiel Elias am besten. Sie wirkte beruhigend und irgendwie auch befreiend auf ihn. Er konnte gut schlafen.

 

Am nächsten Morgen gab die Mutter ihrem Sohn ein Halsband aus Leder, an dem ein grüner Stein hing. Sie hatte es vor langer Zeit von einem Mönch bekommen, der als Eremit oft mit klugen Ratschlägen half, Sorgen und Nöte zu bewältigen. Auch sie nahm es einmal in Anspruch, um sich und ihren Sohn zu schützen. Als sie Elias das Halsband gab, sagte sie: "Hänge es dir am besten um den Hals und trage es unter deinem Hemd. Es muss ja keiner sehen. Der Stein ist ein Malachit. Er wird dich beschützen und dir Mut und Kraft geben. Sie zitierte den Mönch:

 

"Was dich stört, verliert die Kraft;

was dir droht, es niemals schafft.

Er schützt an allen Tagen,

alle, die ihn tragen."

 

Elias besah sich den glänzenden Stein. Er sah schön aus, hatte ein feines Muster und strahlte etwas Beruhigendes aus. Dann band er ihn um seinen Hals und bedankte sich bei seiner Mutter. Bevor Elias das Haus verließ, gab sie ihm noch ein paar Ratschläge mit auf den Weg: "Du hast keine Schuld, wenn du dich so gibst, wie du bist. Mache dir keine Vorwürfe. Ich stehe immer auf deiner Seite. Sage den Übergriffigen, egal wer es ist, ruhig aber deutlich, dass du ihr Verhalten nicht richtig findest und es nicht wünschst. Fordere sie auf, es zu lassen. Antworte auf unangenehme Fragen, dass sie dir unangenehm sind und sage, dass du sie nicht beantworten wirst. Weigere dich zu tun, wenn etwas verlangt wird, was du nicht kannst. Habe vor Drohungen keine Angst. Es kann dir nichts passieren. Sage, dass du dich hier und jetzt nicht wohl fühlst. Wenn alles nichts hilft, sage, dass du jetzt gehst. Stehe auf und gehe tatsächlich. Zwinge dich nicht, etwas Unangenehmes auszuhalten. Vertraust du einem Lehrer oder einer anderen Person, informiere sie und bitte sie um Hilfe. Bereite dich für einen eventuellen weiteren Fall vor, was du sagen willst und übe das. Du musst deutlich, langsam und sachlich sprechen und sicher auftreten. Sprich nicht soviel drumherum, sage in wenigen Sätzen nur, was im Augenblick notwendig ist. Denke an dein Tagebuch und schreibe auch auf, was ich dir eben gesagt habe." Elias hatte aufmerksam zugehört. Auf dem Weg zur Schule ließ er sich noch einmal alles durch den Kopf gehen, was ihm die Mutter gesagt hatte. Danach war er entschlossen, sich nichts mehr gefallen zu lassen.

In der ersten großen Pause standen die "Turnbanksitzer" zusammen in einer Ecke und berieten sich. Auch die "Kailer" hockten zusammen in einer anderen Ecke und schauten herüber.

 

Zwei Tage vergingen. Elias hatte sich ein paar Redewendungen aufgeschrieben und übte sie immer wieder vor dem Spiegel. Seitdem er wusste, wie er sich im Falle eines Falles verhalten sollte und seitdem er den grünen Stein trug, war er tatsächlich ruhiger, vielleicht sogar etwas selbstbewusster geworden. Und wenn er ehrlich war, wartete er innerlich auf eine neue Gelegenheit, fast wie ein Schauspieler auf den Auftritt. Nicht etwa, um sich zu beweisen, sondern um endlich seine Ruhe zu haben. Die paar Spitzen, die im Augenblick von den "Kailern" kamen, reichten dazu nicht aus.

 

Eines Tages aber war es soweit. Die Schüler bekamen ihre Aufsätze zurück, die sie zwei Tage vorher geschrieben hatten. Herr Flunsch kam mit einer vollen Aktentasche, theatralisch schwer schleppend, ins Klassenzimmer. Damit wollte er offenbar andeuten, dass das Ergebnis schwer wog, also schlecht war. Er teilte die Arbeiten aus und nannte jeweils Name, Punktzahl und Note. Fast alle bekamen ein "Gut", zwei "Befriedigend". Zum Schluss kam Elias dran. Flunsch machte ein böses Gesicht und sagte laut: "Von zwölf möglichen Fehlern, elf erreicht!" Dann ließ er den Aufsatz auf Elias Tisch fallen. Die "Kailer" bogen sich vor Lachen. Das sah nach einer Fünf aus. Elias aber blieb ruhig und sah auf der Rückseite unten eine rote "Eins" stehen. Herr Flunsch löste seinen Gag nicht auf, sondern ging nach vorn. Elias meldete sich. "Ich weiß, ich weiß, du willst mich korrigieren", sagte Flunsch. "Nein", sagte Elias mit fester Stimme, "ich möchte Ihnen sagen, dass es mir nicht gefällt, wie sie meine Leistungen vor der Klasse lächerlich machen. Unterlassen Sie das künftig!" Im Klassenzimmer herrschte Totenstille. Flunsch war baff und brachte keinen Ton hervor. Sein Gesicht rötete sich. Er wollte sich mit "das war doch nur ein Spaß" herausreden, unterließ es aber. Zu oft hatte er solche "Späße" gemacht. Elias ging nach vorn, ohne zu fragen. Ein "Turnbanksitzer" stand auf und stellte sich demonstrativ neben Elias. Es folgten zwei weitere. Während Elias die Wärme des Steines auf seiner Brust bemerkte, trafen seine deutlichen Worte den Lehrer wie Ohrfeigen. Es war wie eine Abrechnung. Elias spürte eine Erleichterung. Inzwischen standen neben Elias alle "Turnbanksitzer" mit ihren Schultaschen. Die "Kailer" schielten erschrocken zu ihrem Anführer. Die neuen Schüler schauten verdutzt. Flunsch sah sich in die Ecke getrieben und versuchte mit lauten Worten den aufmüpfigen Schüler Elias zu unterbrechen und die, die neben ihm standen auf ihre Plätze zu verweisen. Elias aber ließ sich nicht unterbrechen und sagte etwas lauter: "Unterbrechen Sie mich nicht! Sie müssen sich das anhören. Wir sind nicht mehr bereit für Ihre Art zu spaßen, uns die Schule schwer zu machen und wir werden jetzt gehen!"

 

Wie die Sache weiterging, ist nicht so wichtig. Man kann es sich aber vorstellen. Wichtig zu wissen ist aber, dass es für Elias und seine Freunde keine bösen Folgen gab. Im Gegenteil, alles ging weiter seinen Gang, nur nicht den bisher gewohnten, sondern einen besseren. Der alte Klassenlehrer, Herr Heining, war zurück.

 

E N D E

 

Anmerkung:

Die fiktive Geschichte spielte natürlich in keiner Schule. Eine solche musste nur stellvertretend für sie herhalten. Aber was geschah, geschieht so oder so ähnlich anderswo noch zu oft.

 

Impressum

Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Korrektorat: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2025

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
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