Zwei Tage vor dem 1. Advent war die Weihnachtsdekoration in der Stube komplett. Die Bücher hatten ihre Stammplätze in den drei Fächern des großen Stubenbuffets aufgeben müssen. Nun standen dort die Engelskapelle sowie die Krippe und die Himmelspforte. Die vier Schwibbögen behaupteten sich wie jedes Jahr vor den Fenstern, Bergmann und Engel, mit Duldung des Vaters vor der Hausbar und die Pyramide auf dem Fernseh-Recorder. Der Bergmann hieß Benno. Er trug ein schwarz rotes Wams und weiße Strümpfe. Engel Enrike hatte ein weiß goldenes Kleid an.
Vor dem TV-Bildschirm, der etwas höher als die darunter stehende Anrichte angebracht war, hatten die Kurrende und die Seiffener Kirche Aufstellung genommen. Die freien Flächen und jede Aufhänge-Möglichkeit waren besetzt mit Schleifchen, Zweigen, Kugeln, Sternchen und Figürchen, die einen Bezug zu Weihnachten hatten. Nur der Spalt zwischen Anrichte und Buffet war noch frei. Der Aufbau der gesamten Weihnachtsdekoration dauerte zwei volle Tage. Jetzt waren die leeren Kartons wieder im Keller und die Eltern erschöpft.
Die fünf großen Nussknacker, Blaffke, Blase, Roland, Roman und Robert, standen dieses Jahr erstmals in Reihe zu einem Glied, also nebeneinander, ganz oben auf dem doppelten Wandbücher-Bord. Ganz rechts war noch Platz für den kleinen Robby der Zwergknacker. Die Kinder hatten sich die Namen nach den ersten zwei Buchstaben ihrer Farbe ausgedacht, also mit „Bl“ wie Blau bzw. mit „Ro“ wie Rot begannen.
Alle Nussknacker schauten nun gemeinsam mit strengen Blicken von oben herab auf das weihnachtliche Geschehen in der Stube. Bisher standen die zwei roten (Roland mit gelben Hosen und Roman mit grünen Strümpfen) sowie die zwei blauen (Blaffke und Blase) in ihren Fantasieuniformen und den Tarbusch artigen Hutkappen jeweils zusammen an verschiedenen Orten. Der fünfte hieß Robert. Er stand allein woanders, weil er zwar eine rote Uniform, jedoch keine Beine hatte, sondern nur einen säulenartigen Ständer, auf dem sein Rumpf und alles was dazugehörte, befestigt waren. Aus der Reihe fiel auch der kleinste. Er hieß „Robby der Zwergknacker“ und stand bisher ebenfalls stets allein, dort wo mal eben noch Platz war. Die zwei Sonderlinge waren immer schon irgendwie ausgeschlossen.
Die neue Reihenformation wurde aus Platzmangel infolge vieler Geschenke von Bekannten und Verwandten erforderlich. Die Eltern getrauten sich nicht, diese Geschenke wegzuwerfen, um den Familienfrieden nicht zu stören, wie sie sagten. Aber so in Reihe zu einem Glied sahen die Nussknacker auch ganz gut aus, fanden sie, was auch die zwei Kinder bescheinigten, bevor sie ins Bett mussten. "Sie werden sich da oben schon vertragen", sagte abschließend der Vater, nicht ahnend, dass er kein Recht behalten sollte.
Als die Familie am nächsten Morgen in die Stube kam, standen nämlich nur noch die zwei blauen Nussknacker auf dem Bord. Die zwei roten hockten beleidigt mit dem Zwerg auf dem Fußboden vor der Anrichte und der beinlose Sonderling lugte ängstlich aus dem Spalt zwischen Anrichte und Buffet hervor. Der Vater schaute zu den zwei Blauen hoch: "Na, ihr duldet wohl keine anderen neben euch?" Er bekam keine Antwort. Dann aber wandte er sich an seine Kinder: "Habt ihr die drei Roten und den Zwerg heruntergenommen?" Die aber beteuerten ihre Unschuld. Es blieb dem Vater also nichts weiter übrig, als sie wieder mit auf den Bord zu stellen. Dabei glaubte er ein Murren von den zwei Blauen zu hören. Und weil das nicht sein konnte, überhörte er es und glaubte, sich getäuscht zu haben.
In der nächsten Nacht wachten die Kinder durch ein Stimmengewirr auf, das aus der Stube zu kommen schien. Es klang wie ein Streit und weil mehrere Stimmen auf einmal zu hören waren, verstanden sie nichts. Sie schlichen sich neugierig, leise und ohne Licht zu machen, in die Stube und stellten sich mucksmäuschenstill und wie erstarrt gleich neben die Tür. Nach einer Weile sahen sie dank einer etwas entfernten Straßenlampe auch etwas. Sie hörten jedoch deutlich, wie sich die Nussknacker da oben auf dem Bücherbord um ihre Plätze stritten.
Es musste wohl Blaffke gewesen sein, der da sagte: "Die Menschen haben uns blaue zuerst vom Weihnachtsmarkt geholt. Alle hier in diesem Raum haben mich demokratisch zum Stubenältesten und Blase zum Stellvertreter gewählt. Als Zeichen dafür tragen wir schließlich die goldene bzw. silberne Kette. Dieser Bücherbord ist nun gewissermaßen unsere Regierungsbank. Von hier oben haben wir alles unter Kontrolle. Wir brauchen auch den ganzen Platz. Sucht euch gefälligst einen anderen!"
Daraufhin wurden die vier anderen Nussknacker tieftraurig. Roland schien der Wortführer der roten zu sein. Weinerlich fragte er: "Wo sollen wir denn hin? Es gibt doch in der Stube für uns keinen anderen Platz mehr. Warum wollt ihr uns nicht neben euch haben? Da oben ist doch für alle Platz." Während Roman, Robert und Robby der Zwergknacker sich die Tränen abwischten, belferte Blase: "Wir brauchen niemand neben uns. Das ist auch laut Gesetz, das wir für euch geschaffen haben, nicht vorgesehen. Eine Gesetzesänderung ist auch nicht geplant. Und außerdem können wir mit dem Beinlosen und dem Zwerg sowieso nichts anfangen." Blaffke nickte nur: "Damit ist die Diskussion beendet! Geht jetzt und nehmt den da mit!" Dabei zeigte er auf den unglücklichen Robert, der ja auf seiner Säule nur hüpfen konnte.
Es blieb den vier roten Nussknackern nichts weiter übrig, als das Bücherbord zu verlassen. Roland und Roman nahmen Robert in ihre Mitte und kletterten gemeinsam an einer Seite hinunter. Robby der Zwergknacker folgte etwas ungeschickt. Er war auch ein wenig zu dick für so etwas. Robert verkroch sich schluchzend in den Spalt zwischen Buffet und Anrichte und die drei anderen setzten sich davor.
Die Kinder hatten trotz der schwachen Beleuchtung genug mitbekommen, wollten am nächsten Morgen mit den Eltern über alles sprechen und schlichen sich unbemerkt davon. Lange konnten sie nicht einschlafen. Sie merkten aber auch nicht, was sich nachts in der Stube noch alles abspielte.
Engel Enrike und Bergmann Benno hatten von ihrem Platz vor der Hausbar alles beobachtet und waren entsetzt über das Verhalten der zwei blauen Nussknacker. "Die waren eigentlich schon immer etwas eigenartig", meinte der Engel und ergänzte: "Aber nun haben sie die Grenze des Anstandes eindeutig überschritten." Der Bergmann schaute grimmig, nickte zustimmend und schimpfte: "Man sollte denen die Leviten lesen!"
Jetzt bemerkten die beiden, dass auch die anderen weihnachtlichen Figuren sehr aufgebracht waren. "Wir haben die blauen Nussknacker damals nicht gewählt", riefen die vier roten Nussknacker wie im Chor. Roland, Roman und Robby der Zwergknacker erhoben sich dabei vom Fußboden. Robert versuchte auf seiner Säule mühsam, sich hochzustemmen, was ihm schließlich mithilfe seiner zwei großen Freunde auch gelang. Nun riefen etliche Figuren: "Ich habe sie auch nicht gewählt ... ich auch nicht ... ich auch nicht!"
Bergmann Benno fuhr dazwischen: "Ruhe, Ruhe! Wie es scheint, wurde sogar ihr Wahlergebnis manipuliert!" Er hatte seine zwei Kerzen kurz abgestellt und zeigte mit dem Finger hoch zum Bücherbord, auf dem die zwei blauen Missetäter nur schemenhaft zu sehen waren und sich vor Schreck nicht bewegten, als er laut und deutlich sagte: "Wir werden uns das nicht gefallen lassen!" Alle Figuren wiederholten diesen Satz im Chor.
In diesem Augenblick flog ein großes Etwas rauschend durch die dunkle Stube auf den Bücherbord zu. Die zwei blauen Nussknacker gingen in Deckung. Dann landete Engel Enrike zwischen ihnen und nahm die Halunken so ins Gebet, dass ihnen Hören und Sehen verging und ihre schlechten Manieren ein für alle Mal aus ihren Köpfen verschwanden. Sie baten danach kleinlaut alle Weihnachtsfiguren um Verzeihung und versprachen, sie künftig gleichermaßen zu achten. Ein tosendes Gelächter setzte ein, erstarb aber sehr schnell, als der Engel Enrike plötzlich oben auf dem Bücherbord in einem hellen Licht zu sehen war. Er breitete die Flügel aus, hob beide Arme und rief: "Friede, euch allen!".
Wie durch ein Wunder standen alle Nussknacker plötzlich wieder auf dem Bücherbord, als wenn nichts geschehen wäre. So fanden es auch die Kinder mit ihren Eltern vor, als sie am nächsten Morgen, es war der 1. Advent, die Stube betraten. Nur der Vater bemerkte, dass der Engel Enrike nun eine goldene Kette trug und der Bergmann Benno eine silberne.
Es wurde eine schöne Adventszeit und ein sehr schönes gemeinsames Weihnachtsfest. So etwas hatten die blauen und die roten Nussknacker, vor allem aber Roland und Robby, die immer etwas abseitsstanden, noch nicht erlebt. Ihre unterschiedlichen Farben, Größen und Besonderheiten spielten keine Rolle mehr. Auch nicht, wo sie hergestellt oder gekauft wurden. Der Bergmann wurde der gerechteste Stubenälteste, den man je erlebt hatte. Engel Enrike schaute zufrieden auf das bunte Völkchen in der Stube. Beide verzichteten auf den Bücherbord-Platz. Sie behielten lieber ihren angestammten vor der Hausbar und rückten gern ab und zu einmal zur Seite.
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Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 28.11.2024
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