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Das Träumeli

Der kleine Tamino konnte nicht einschlafen. Er war aufgeregt, weil morgen der Nikolaus kommen sollte. Tamino durfte heute extra eine halbe Stunde länger aufbleiben, um seine Schuhe besonders gründlich zu putzen. Nun standen sie blitzblank auf dem Abtreter vor der Wohnungstür. Vieles ging dem Jungen durch den Kopf: 'Wann wird er wohl kommen? Ob er so aussieht, wie auf dem Bild, das ihm die Mutter gezeigt hatte? Wo kommt er her? Was macht er im Sommer? Ob er wohl meine Schuhe findet?' Tamino wälzte sich im Bett herum. Lag er auf der rechten Seite, wollte sein Körper links liegen. Kaum lag er links, wollte er sich auf den Rücken drehen. Dort kribbelte es auch bald wieder. Jedes Mal knarrte das Bett leise vor sich hin, als wollte es sagen: 'Nun bleibst du aber mal liegen!'

 

Nach einer Weile öffnete sich die Tür zum Kinderzimmer. Ein Lichtschein drang herein. Die Mutter erschien und fragte: "Du kannst wohl nicht schlafen? Dein Träumeli ist sicher schon gegangen, weil du heute zu spät in dein Bett gekommen bist. Schlafe jetzt, vielleicht kommt es noch einmal zurück!" Sie strich ihrem kleinen Sohn zärtlich über den Kopf, zog die Bettdecke glatt und ging leise aus dem Zimmer. Tamino schloss die Augen. Er wünschte sich das Träumeli her. 'Wo mag es nur sein?', ging es ihm durch den Kopf, 'warum kann es nicht auf mich warten?' Obwohl er es noch nie sah, kam es jeden Abend kurz nach dem Einschlafen zu ihm und brachte seine Träume mit. So sagte es die Mutter jedenfalls. Waren die Träume schön, bedankte sich Tamino am nächsten Morgen beim Träumeli, waren sie nicht so gut, sagte er es ihm einfach, dabei schimpfte er auch manchmal ein wenig. Im Großen und Ganzen war er aber mit seinem Träumeli zufrieden.

 

Während er das dachte, hörte er ein vorsichtiges Kratzen an der Tür. Eine leise Stimme rief:

 

"Such mich doch, such mich doch!
Ich bin doch hier im Hause noch."

 

Tamino rief:

 

"Bist du das Träumeli?
Komm herein, du weißt doch wie!"

 

Es kam aber keine Antwort. Da schlug Tamino seine Decke zurück, schlüpfte in seine Pantoffeln, zog sich den kleinen Bademantel über und öffnete seine Zimmertür. Auf dem Wohnungsflur war es fast dunkel. Er tappte leise zur Wohnungstür, öffnete sie und schaute in den ebenso dunklen Hausflur. Gegenüber wohnte der „Epa Oberhart“, zu dem er eigentlich Opa Eberhart sagen sollte. Tamino hatte das aber einmal verwechselt. Nun blieb es so im gegenseitigen Einvernehmen. Er klopfte leise an dessen Wohnungstür und hörte innen auch gleich schlurfende Schritte.

 

Der „Epa“ öffnete und schaute Tamino an: "Was machst du denn hier mitten in der Nacht, Junge?"

"Ich suche das Träumeli, ist es bei dir?"

Der alte Mann schüttelte den Kopf: "Nein, hier ist kein Träumeli, geh nur wieder in dein Bett!" Damit schloss er die Tür.

 

Der Junge aber gab nicht auf. Er ging eine Treppe tiefer zu den Leuten, die dort wohnten. Die konnten aber auch nicht helfen und schüttelten auf seine Frage hin ihre Köpfe.

 

Jetzt blieb nur noch der Keller. Ob sich das Träumeli dort verbarg, glaubte Tamino zwar nicht, wollte aber sichergehen. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen. In den Keller ging er nämlich nicht so gern. Eigenartigerweise war die Kellertür nicht verschlossen. Er rief in die Dunkelheit hinein: "Hallo Träumeli, bist du hier unten?" Es kam aber keine Antwort, selbst als er seinen Ruf wiederholte. Er knipste das Kellerlicht an, rief noch einmal nach dem Träumeli, was aber auch vergebens war. Persönlich nachsehen wollte er aber doch lieber nicht, machte schnell das Licht wieder aus und zog die Kellertür hinter sich zu.

 

Als er wieder an der Haustür vorbeikam, kam ihm der Gedanke, auch im Vorgarten, ebenso auf der Straße nachzusehen. Komisch -auch diese Haustür war nicht verschlossen. Da hatte wohl jemand das Abschließen vergessen, dachte er sich und ging hinaus. Inzwischen begann es zu schneien. Er sah die dicken Flocken ganz genau, spürte sie aber nicht auf seiner Haut. Tamino schaute links und rechts die nur spärlich beleuchtete menschenleere Straße entlang. Vergebens! Dann ging er zur Haustür zurück. Er wollte sie gerade öffnen, als er ein leises Schluchzen hörte. Dann entdeckte er ein kleines Mädchen mit Flügeln, das zusammengekauert in einer Ecke des Hauseinganges saß und vor Kälte zitterte.

 

"Bist du das Träumeli?", fragte der Junge. Die Kleine nickte mit dem Kopf. Tamino setzte sich neben sie auf eine Stufe. "Warum bist du so traurig?" Das Träumeli schaute ihn an und sagte:
"Hier im Hause wohnt ein Junge, dem ich wie vielen anderen Kindern auch jeden Abend einen Traum bringe. Heute war er aber zur üblichen Schlafenszeit nicht da. Ich hatte keine Zeit, musste doch weiter zu den anderen Kindern und pünktlich sein. Nun muss der Junge ohne Traum schlafen. Das tut mir so leid."


Tamino gab sich zu erkennen, dass er der Junge sei und erzählte dem Träumeli, warum er heute nicht pünktlich in seinem Bett sein konnte. "Weißt du was", sagte er dann, "ich nehme dich mit, damit du dich aufwärmen kannst. Dafür gibst du mir doch noch einen Traum." Das Träumeli war einverstanden. Tamino nahm das Träumeli auf den Arm und ging mit ihm in das Haus zurück und die Treppen zur Wohnung hoch. Im Kinderzimmer angekommen, legte er das Träumeli in sein Bett und sich dazu. Die Decke wärmte beide tüchtig durch. Schnell war der Junge eingeschlafen. Er hatte in dieser Nacht einen besonders schönen Weihnachtsraum.

 

Jeder Traum hat ein Anfang und ein Ende. Für Tamino begann er damit; dass er mitten in der Nacht plötzlich auf der Straße vor dem Haus stand, in dem er und seine Eltern wohnten. Ringsherum war es völlig dunkel. Sie Straßenlampen brannten nicht; kein Fenster war erleuchtet. Die Nachbarhäuser waren nur schemenhaft im diffusen Mondlicht zu erkennen. Tamino bemühte sich vergebens, das Dunkel mit den Augen zu durchbohren. Er hatte keine Angst, denn es war still und warm. Auf beiden Straßenseiten reihten sich große Platanen aneinander. Tamino konnte die Umrisse der nahestehenden Bäume sehen. Dann geschah etwas Seltsames. Die erste Platane schrumpfte in ihrer Größe und verwandelte sich in eine weihnachtlich geschmückte Tanne mit bunten Kugeln, Lametta und einer hellen Lichterkette. In Windeseile machten es die anderen ihr nach. Nein, nein, nicht alle auf einmal, sondern eine nach der anderen. Und das auf beide Seiten der Straße, die eigentlich nur bis zur nahen Kurve einsehbar war und wie ein Wunder plötzlich schnurgerade bis zum Horizont reichte. Tamino konnte nur über die Lichterpracht staunen. Es reizte ihn, der langen weihnachtlichen Allee zu folgen, denn er wollte wissen, was ihn am Ende erwartete. Und wie schon oft konnte er auch jetzt im Traum fliegen. Er breitete die Arme aus, erhob sich über die Spitzen der Tannen und kam gut voran. Solange er auch flog, das Ende der Allee kam nicht in Sicht. Es schien sich von ihm fortzubewegen. Plötzlich tauchte neben Tamino das Träumeli auf und sprach: "Du kannst es nicht erreichen, die Zeit ist noch nicht reif." Tamino antwortete: "Ich will doch nur wissen, was es ist" und flog weiter. Dann folgte er aber doch ihrer Bitte zum Landen. Unten angekommen, fasste das Träumeli den Jungen an die Hand und forderte ihn auf, die Augen zu schließen. Als er sie wieder öffnen durfte, standen sie vor einer gewaltigen Mauer und einem geschlossenen Tor zwischen zwei mächtigen Türmen. "Dahinter befindet sich das Weihnachtsland, das Land, das sich die Menschen wünschen", sagte das Träumeli und ergänzte: "Hier wohnt alles Gute der Welt. In der Weihnachtszeit kommt es zu den Menschen. Dann öffnet sich auch das Tor. Jetzt sind sie alle mit den Vorbereitungen auf diese Zeit beschäftigt und dürfen nicht gestört werden." Tamino entdeckte ein großes Schlüsselloch im Tor. Ein heller Lichtschein von innen verriet es ihm. Als er durchschaute, sah er ein hellerleuchtetes Schloss, schmucke Häuser, prächtige Gärten, grüne Wälder sowie eine bunte Ansammlung von Menschen, Tieren und märchenhaften Wesen, die gemeinsam, einvernehmlich und rege umher wuselten. All das zog wie ein Film an seinem Auge vorbei. Das Träumeli lächelte und sagte ein wenig stolz: "Hier wohne ich auch."

 

Am nächsten Morgen, dem Nikolaus-Tag, sah Tamino, dass das Träumeli verschwunden war. Er ging vor die Wohnungstür. Dort standen seine geputzten Schuhe, die mit allerlei schönen und nützlichen Sachen gefüllt waren. Die Eltern wussten nichts von seiner angeblich nächtlichen Suchaktion nach dem Träumeli. Sie hätten es auch sicher gemerkt. Als Tamino die Geschichte seiner Mutti erzählte, lächelte sie nur. Sie wusste, dass er alle nur geträumt hatte. Draußen fielen die ersten dicken Schneeflocken vom Himmel. Und als Tamino seine Hand aus dem Fenster streckte, spürte er sie auf seiner Haut.

 

E N D E

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IM BUCHHANDEL

 

Der Appelzappel und andere Geschichten

Wolf Rebelow

ISBN 9783743883369 / 36 Seiten / EPUB / ab 6 Jahren

 

Eine kleine Apfelmade hört nicht auf die Eltern und wird von einem riesengroßen Regentropfen am Kopf getroffen, kriecht neugierig auf einen Kirchturm und muss einen Sturm über sich ergehen lassen. Eine Igelfamilie sucht im Garten nach einem Winterquartier, muss aber ihren Kleinsten vorher noch zur Kur schicken. Eine Haselmaus will die Welt erkunden und das Glück finden. Eichhörnchen und Marder streiten sich im Park und liefern sich einen Wettkampf, bei dem die Marder schummeln. Franz, der Regenwurm, erlebt allerhand in und über der Erde. Ein Elsterpärchen baut sich ein Nest ganz oben in einer Birke und muss mächtig auf der Hut sein und die Hamster auf dem Feld erleben auch aufgeregte Zeiten und eine schaurige Gespensternacht. All das und noch mehr wird in sieben gereimten Tiergeschichten für Kinder erzählt.  

 

Impressum

Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2024

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