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Abenteuer Ochsenkopf

 

Die Sandsteinfelsen auf dem Ochsenkopf, dem ersten Berg der Hügelkette "Seweckenberge", wirkten von Weitem wie eine Krone. Für die Freunde Wolle und Kochi waren das geheimnisvolle Reste einer alten Burg, ein idealer Abenteuerspielplatz, wo sie in Gedanken Räuber, Ritter, König, Musketier oder Kanonier sein konnten. Heute waren sie nur zu zweit dort. Bübi, Eka und Ulf der Boxerhund hatten keine Lust mitzukommen. Fremde Kinder waren zum Glück nicht da, so dass die "Burg" an diesem sonnigen Oktobertag des Jahres 1955 nur ihnen gehörte. Schnell kletterten sie in das Innere der "Krone" hinein. Dort befand sich ein kleiner Raum, der ringsherum von Felsen umgeben und somit nicht einsehbar war. Allerdings konnte man von dort auch nicht in die Gegend hinausblicken. Dazu musste man zwei-drei Meter hochklettern, was an vier Stellen möglich war. Dann konnte man den herrlichen Ausblick in das Land genießen, eventuelle Angreifer ausmachen und sie mit der Muskete verjagen. Ein passender Holzstock war in der Umgebung schnell gefunden.  Heute konnten Wolle und Kochi allerdings infolge des Personalmangels nur zwei dieser Aussichtspunkte besetzen. Trotzdem war am Ende die Verteidigung ihrer Burg wieder erfolgreich. Die Schergen des Raubgrafen Albrecht von Regenstein mussten sich geschlagen geben und sich in die Harzberge zurückziehen. Die Jungen gönnten sich daraufhin eine Pause, ehe sie erneut Posten bezogen. Sie ließen sich aber Zeit dabei und machten es sich zunächst auf ihren "Sesseln", zwei  Felsbrocken, auf denen man gut sitzen konnte, bequem. Ach, wie war es doch gemütlich hier oben. Bübi, Eka und Ulf der Boxerhund bereuten bestimmt, heute nicht mitgekommen zu sein.

 

Das Zwitschern der Vögel im leisen Säuselwind wurde plötzlich von lautem Gepolter abgelöst. Ganz in der Nähe musste etwas passiert sein. Erschrocken sprangen die beiden aus ihren steinernen Sesseln und erstarrten mit weit aufgerissenen Augen. Das Geräusch wurde immer heftiger. Es klang, als würden hundert Topfdeckel und Blechbüchsen den Berg hinabstürzen. Wolle und Kochi flüchteten sich in eine enge Felsspalte und krochen dort eng zusammen. Zum hochklettern und nachschauen fehlte ihnen der Mut. Wenn sie hochblickten, sahen sie den Himmel nur als Ausschnitt. Dort war niemand. Das Blechgetrommel wurde jetzt noch lauter. Ein Erdbeben konnte es nicht sein. So etwas war hier auch nicht üblich. Die Felsen, wie auch der gesamte Höhenzug, bestanden aus festem Muschelkalk. Die Jungen hatten keine Erklärung. Das Elend nahm kein Ende, denn jetzt knallte es auch noch mehrmals hintereinander. Das waren eindeutig Schüsse. Aus rauhen Kehlen tönte lautes Gebrüll. War aus ihrem Spiel ernst geworden? Die zwei zogen die Köpfe ein. Dann trat schlagartig Ruhe ein. Sie schmerzte regelrecht. Wolle schaute nach oben. Dort standen jetzt ein paar Gestalten, die im Gegenlicht des blauen Himmels nur schemenhaft zu sehen waren. Sie schauten auf die zwei Jungen in ihrer Felsspalte, zeigten auf sie und schienen sich zu amüsieren. Wolle und Kochi krochen aus ihrem Versteck, das von oben anscheinend doch einfacher als angenommen einsehbar war. Sie erkannten nun, dass sie von etwa zehn jungen Männern in khakifarbenen Uniformen und Käppies völlig eingekreist waren. Einer von ihnen, wahrscheinlich der Anführer, winkte sie zu sich heran und rief im Befehlston: "Idi sjuda!". Das war unmissverständlich eine Aufforderung, sofort aus ihrem Loch zu kriechen und hoch zu kommen.

 

Wolle flüsterte Koch zu: "Das sind russische Soldaten, die kommen bestimmt von den Kasernen des ehemaligen Fliegerhorstes." Kochi nickte: "Hoffentlich nehmen sie uns nicht mit!" Wolle war es auch etwas unwohl bei der ganzen Sache. Beide erwarteten nichts Gutes, kletterten aber schnell nach oben, weil der Anführer schon ungeduldig wurde. Es wurde ja so viel über diese Menschen gesprochen. Und meistens nichts Gutes, obwohl Gegenteiliges nicht bekannt war. Man musste aber besser mit allem rechnen. Zudem sahen die zwei nun, dass die Russen nicht nur leere Büchsen bei sich trugen, sondern auch noch Maschinenpistolen. Zögernd gingen Wolle und Kochi in Erwartung einer Strafe oder was auch immer auf den Anführer zu, der recht streng blickte; etwas übertrieben streng, fand Wolle. Die anderen Soldaten hielten sich zurück, schauten nur und grinsten. Die Jungen erwarteten ein Donnerwetter. Dann aber geschah etwas Unerwartetes.

 

Der Anführer wurde freundlich, gab den beiden sogar die Hand zur Begrüßung und sagte kurz auf deutsch: "Moment bitte!" Dann wandte er sich an die Soldaten und kommandierte etwas, was die zwei nicht verstanden. Daraufhin stellten sie sich in einem Abstand von etwa drei Meter nebeneinander auf. Wolle und Kochi wurden kurzerhand eingegliedert, wobei der Anführer sich an den Kopf griff, zwei lange Ohren andeutete und dabei "Ochotka" sagte. Die Jungen hatten allerdings schon begriffen, dass die Gruppe auf Hasenjagd war und ihre Treiberkette mit ihnen verstärken wollten. Kochi meinte: "Die wollen sich bestimmt einen Hasenbraten machen." Wolle entgegnete: "Oder im Auftrag der Offiziere Hasen für ein Prassnick schießen." Prassnik galt so etwas wie Festessen oder Völlerei, wussten sie. Im Augenblick aber war es aber den beiden egal. Sie waren froh, dass die Geschichte eine gute Wendung genommen hatte.  

 

Laut schreiend und mit dem Krawall ihrer Blechbüchsen ging die Jagd auf dem Kamm der Seweckenberge weiter in Richtung Gersdorfer Burg. Hier oben gab es fast nur saftige Wiesen. Wenige Bäume und Büsche lockerten die almenartige Landschaft auf. Ein kleiner Trampelpfad war nur schwer zu erkennen. Seltene Wandergesellen hatten ihn getreten. Ansonsten kam kaum jemand hierher. Es war ein Paradies für Hasen, die sich im Gras sowie in den Furchen und Vertiefungen gut verstecken konnten. Jetzt wurden sie aufgeschreckt, versuchten zu entkommen und schlugen dabei aufgeregt ihre Haken. Sie konnten aber den Schützen oft nicht entkommen.

 

Nach ungefähr einer Stunde war die Treibjagd zu Ende. Sie waren ein gutes Stück vorangekommen. Nicht nur Kochi und Wolle waren erschöpft. Auch die Soldaten waren froh, sich setzen zu dürfen. Am Ende lagen etwa zwanzig Hasen oder ein paar mehr nebeneinander auf dem Boden. Das schien genug zu sein. Der Gruppenführer verabschiedete sich mit einem Lob von den Jungen. Ein Soldat übergab ihnen als Treiberlohn zwei Hasen. Es waren große Hasen von etwa drei bis vier Kilogramm, nicht etwa nur dürre Wildkaninchen. Den beiden war das natürlich recht. Sie bedankten sich und waren auch ein wenig stolz auf die Beute. Dann ließ man sie ihres Weges ziehen. Kochi wollte noch einen dritten Hasen für Bübi und Eka herausschlagen, bekam aber nur die kurze Antwort: "Njet!" und ein Kopfschütteln.

 

Der Rückweg mit den schweren Hasen war sehr anstrengend. Vor ihnen lagen gut zwei Kilometer bis zum Ochsenkopf-Felsen.  Dort wollten sie nur eine kurze Rast machen. "Hoffentlich will uns unterwegs niemand die Hasen streitig machen", unkte Kochi und ergänzte: "Ich glaube nicht, dass man uns die Geschichte mit den Russen abnehmen würde. Wilderei ist eigentlich verboten." Wolle schaute seinen Freund an: "Aber nicht doch für die Russen." Kochi zuckte mit den Schultern: "Wir können ja nicht beweisen, dass sie uns die Hasen geschenkt haben." Sie einigten sich darauf, dass es jedenfalls besser wäre, wenn keiner ihre "Beute" sehen würde. "Notfalls müssen wir unsere Jacken ausziehen und die Hasen darin verstecken", meinte Wolle.

 

Sie hatten ihre Hasen an den Löffeln gepackt und mussten bald die Tragehand wechseln. Der Wechsel wurde immer öfter notwendig. Aber sie kamen gut voran. Nach einer halben Stunde sahen sie die Felsenformation, ihre "Burg", wo alles begann. Der Pfad verlief aber daran vorbei, so dass sie ihre kurze Rast gleich hier machten. Hundert Meter weiter würde es dann wieder abwärts gehen. Danach waren es nur noch dreißig Minuten bis nach Haus.

 

Wolle war der erste, der die Gestalt am dunklen Waldrand kurz vor dem Abstieg erblickte. Sie musste von unten gekommen sein, stand unbeweglich da und schien die beiden noch nicht bemerkt zu haben. "Wir müssen uns verstecken", flüsterte Kochi und zeigte hinüber zu den Felsen. Wolle nickte. Beide nahmen schnell ihre Hasen und liefen geduckt los. Ein paar kleinere Büsche verdeckten nur teilweise ihre Flucht. Sie hofften aber, dass sie auf dem kurzen Weg nicht gesehen wurden und versteckten sich zwischen den Steinen, die sie ja gut kannten. Die Geschichte schien sich zu wiederholen, denn plötzlich polterten ein paar kleinere Felsbrocken neben ihnen herunter. Dann rutsche ein Mann nach und hatte Mühe, unten nicht hinzufallen. Er stand nun unmittelbar vor den beiden. Sein kurzes "Kommt raus!" wirkte nicht gerade freundlich. Als er die Hasen sah, schaute er die Jungen streng an, öffnete seine schwarze Kartentasche, holte eine rote Armbinde mit der Aufschrift "Helfer der Volkspolizei" heraus und streifte sie sich über den linken Arm. Den beiden rutschte das Herz in die Hose. "Auch das noch!", murmelte Wolle. Der Helfer griff erneute in sein Tasche und förderte ein Notizbuch und einen Bleistift zutage. Dann begann die Befragung zur Person und zur Herkunft der Hasen, wie er ankündigte. Natürlich kam es so, wie es kommen musste. Er glaubte den beiden nichts und forderte sie schließlich auf, ihm zum "Abschnittsbevollmächtigten" zu folgen. Der würde schon die Wahrheit herausfinden.

 

Der "ABV" hatte sein Dienstzimmer im Erdgeschoss eines Wohnhauses ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Es war quasi um die Ecke. Ein schwarzes Schild am Hauseingang wies auf die Polizeidienststelle hin. Als der Helfer mit den zwei Deliquenten und den Hasen ankamen, saß der Polizist hinter seinem Schreibtisch leicht nach vorn gebeugt und schrieb etwas. Die Schulterstücke auf seiner offenen Uniformjacke waren silbern und hatten einen goldfarbenen Stern. Der Helfer und die Kinder warteten. Dann legte der Offizier seinen Stift zur Seite, schloss seine Jacke und blickte hoch. Sein Gesicht verfärbte sich, als er die zwei Hasen sah. Der Helfer gab seinen Bericht, der mit seinem Verdacht auf Wilderei (zum Glück nicht in der Schonzeit) endete. Die Kinder beteuerten ihr Unschuld. Schließlich griff der ABV zum Telefon und rief seinen Vorgesetzten an. Die Klärung konnte nur auf höherer Ebene erfolgen. Es dauerte fast eine Stunde, eine Ewigkeit für die zwei, bis das alte W38-Telefon schrillend die Antwort ankündigte. Der ABV riss den Hörer an sein Ohr, meldete sich, hörte eine Weile zu, nickte, schnarrte dann "Zu Befehl" und legte den Hörer wieder auf. Er sah die zwei Jungen kurz an und sagte: "Ihr könnt gehen. Nehmt eure Hasen mit!"

 

Gegen halb Sieben, als es langsam dunkel wurde, kamen die zwei endlich zu Hause an. Die Eltern hatten sich schon Sorgen gemacht. Jetzt aber war die Freude, sowohl bei Wolles, als auch bei Kochis Eltern, groß. Als die zwei ihre Hasen stolz auf die jeweiligen Küchentische legten, schauten sie doch etwas besorgt und hatten viele Fragen. Ihre anfänglichen Bedenken, lösten sich jedoch nach und nach auf. Sie wichen in beiden Familien der Vorfreude auf einen leckeren Sonntagsbraten, zu dem es dann grüne Klöße und Rotkohl gab.

 

Ein paar Tage später klingelte der ABV, um angeblich etwas mit den Eltern zu besprechen. Es ging ihm wohl um die Art und Weise der Jagd und die von ihr ausgehende Gefährdung. Von diesem Gespräch bekamen Wolle und Kochi jedoch nichts mit. Sie sollten sich aber vorübergehend bis zur Klärung einer gewissen Sache einen anderen Abenteuerplatz suchen. Von einer weiteren Hasenjagd auf dem Ochsenkopf hatte man auch später nichts mehr gehört. 

 

Ende

 

Impressum

Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: KI Microsoft Designer, pixabay.com, Rebelow
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2024

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