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Verbotene Zwiebeln

 

Es war Anfang September 1955. Die Sommerzwiebeln auf den Feldern begannen ihre oberirdischen grünen Teile abzuknicken. Sie signalisierten damit den Bauern ihre Ernte-Reife. Die Winterzwiebeln hatten das bereits vor ein paar Wochen hinter sich gebracht. Die Zeiten waren damals noch so, dass die gesamte Ernte abgeliefert werden musste, um sie gerecht verteilen zu können. So lautete die offizielle Begründung. Das galt auch für alles andere, was im Lande hergestellt wurde. Da es aber unter den Verteilern oft unterschiedliche Auffassungen über eine gerechte Verteilung gab, bekamen die einen mehr, die anderen weniger und die noch anderen manchmal nichts. Oft war etwas knapp. Jetzt waren es wieder einmal die Zwiebeln. Die Verkäufer in den Gemüseläden schüttelten ihre Köpfe, wenn danach gefragt wurde oder bückten sich für Stammkunden oder Bekannte unter den Ladentisch und holten eine anonyme Tüte hoch. Die Hausfrauen und Köche entwickelten spezielle Rezepte, um fehlende Zutaten geschmackvoll zu ersetzen. Aber ganz ohne Zwiebeln, war es besonders schwer, einen Zwiebelkuchen zu backen.

 

Darin waren sich die vier Nachbarinnen bei ihrem nachmittäglichen Plausch auf der Plauderbank im Hof des Hauses in der Bergstraße 1 einig. "Die letzte Zwiebel habe ich vor zwei Wochen verbraucht", sagte die eine: "Ich verstehe nicht, wo das Zeug bleibt. Ringsherum gibt es doch riesige Felder", meinte die andere. Die dritte ergänzte: "Ich frage täglich nach, bekomme aber stets ein Schulterzucken und den Rat, morgen wiederzukommen." Die vierte berichtete, dass Leute vor zwei Tagen gesehen haben wollen, wie ein ganzer LKW mit Hänger voller Zwiebeln von der Sammelstelle weggefahren ist. "Wahrscheinlich nach Berlin", vermutete sie. Eine Frau hielt ihre Hand vor dem Mund und flüsterte: "Es soll ja auch viel an die Russen gehen!"

 

Eka und Wolle wohnten auch in der Bergstraße 1, die anderen in der Nähe. Sie gingen zusammen zur Schule und trafen sich hier nach den Schularbeiten, um am Zickzack-Berg oder auf dem Ochsenkopf den Nachmittag zu verbringen. Ulf, ein kräftiger und gefährlich aussehender Boxerhund, gehörte zu Eka. Er war immer dabei. Sie war die Jüngste in der Runde und hieß eigentlich Erika, konnte aber diesen Namen als Kleinkind nicht so richtig aussprechen. Nun blieb es so. Wolle und Kochi waren schlicht maulfaule Verballhornungen. Aber im Alter von 10 oder 11 Jahren fragt niemand danach. Alle nahmen es so hin.

 

Der Zickzack-Berg war ganz in der Nähe, nur ein paar Häuser weiter. Das war eigentlich nur ein frei zugängliches unbebautes Hang-Grundstück zwischen zwei bebauten. Ein schmaler Trampelpfad führte nach oben. Er glich einer Schurre, darum der Name. Im Winter konnte man dort prima Schlitten fahren, wobei manche kühne Fahrt unten an einer verzierten Gaslaterne endete. Von oben waren der Ochsenkopf und ganz hinten der Brocken zu sehen. Darum hieß der anschließende Weg auch Brockenblick. Auf dem kurzen Weg zum Ochsenkopf passierte man Gärten, Felder und ein sumpfiges, düsteres Urwäldchen. Einer Sage nach soll in diesem Wäldchen im 14. Jahrhundert der düstere Raub-Graf von Regenstein durch aufgebrachte Bürger festgenommen worden sein. Die Leute erzählten sich, dass der Geist des Raubgrafen noch heute in den Nächten dort umherreiten würde. Sie mieden diesen Ort und mahnten ihre Kinder, den Sumpf nicht zu betreten. Die ganze Gegend um den Ochsenkopf, mit seinen wirren Sandsteinfelsen, hatte ohnehin etwas Geheimnisvolles an sich. Darum war dieser Berg bei den Kindern als Abenteuerplatz beliebt. Ging man auf dem Kamm weiter, kam man sogar zu Burgruinen und tiefen Schluchten, in denen angeblich früher ein Einhorn hauste.

 

Auch heute wollten die Kinder wieder zum Ochsenkopf gehen, hörten aber noch, wie sich die Frauen auf der Plauderbank über die Zwiebelflaute im Lande unterhielten. Kurzerhand beschlossen sie heimlich, von einem Zwiebelfeld ein paar dieser begehrten Knollen mitzubringen. Sie wussten, dass eines dieser Felder zwischen dem Sumpfwäldchen und dem Aufstieg zum Ochsenkopf lag. Oft waren sie dort vorbeigekommen. Sie wussten auch, dass ihr Vorhaben eigentlich Diebstahl war und einigten sich auf 3 Zwiebeln je Familie und hofften, dass es im Falle der Entdeckung als Mundraub galt. Damit trösteten sie sich. Was sollte auch passieren. So ein paar Zwiebeln würde den Zwiebelbauer sicher nicht ärmer machen. Außerdem hatten sie ja den Ulf mit, der schon von seinem Aussehen her, jeden Fremden abschrecken würde. Schließlich wusste keiner, dass er in Wirklichkeit keiner Fliege etwas antun konnte. "Lieber hält er jedem Dieb die Lampe", witzelte Bübi. Eka holte noch schnell einen Stoffbeutel aus der Wohnung. Dann zogen sie los. Eka's Mutti rief die übliche Mahnung hinterher: "Macht keine Dummheiten und kommt nicht so spät zurück!" Ulf, der es sich neben der Plauderbank bequem gemacht hatte, stand auf, gähnte, schüttelte sich und ließ sich das Halsband überstreifen. Sein Stummelschwanz wackelte aufgeregt hin und her.

 

Der Trupp zog los. Als sie den "Zickzack" erreicht hatten, äußerte Bübi erste Bedenken, weil das betreffende Feld unmittelbar an das Sumpfwäldchen grenzte, in dem der Raubgraf angeblich immer noch sein Unwesen trieb. "Ich glaube nicht daran", beruhigte ihn Wolle, selbst nicht ganz überzeugt, und ergänzte: "Außerdem soll er ja nur nachts herumgeistern. Du brauchst keine Angst zu haben! Ob er damals wirklich ein Raubgraf war, ist nämlich nicht bewiesen. Und ob ihn die Bürger in einem Kasten auf dem Markt zur Schau gestellt haben, auch nicht." Die anderen nickten zustimmend, obwohl sie sich, ihren Gesichtern nach, nicht so sicher waren. Allerdings hatte bisher auch niemand überhaupt einen Geist gesehen. Schweigend gingen sie entlang einer ausgedehnten Kleingartensparte weiter, an deren Ende schon das Zwiebelfeld und das Raubgrafen-Wäldchen zu sehen waren. Auf dem ganzen Weg war ihnen niemand begegnet. In den Gärten werkelte auch keiner. Die Stille ringsum war fast unheimlich.

 

Dann standen sie am Feldrand und sahen ein bereits abgeerntetes Zwiebelfeld. Die Zwiebeln hatte man für den Abtransport reihenweise aufgeschichtet. Es waren etliche lange Reihen, die bis zum Sumpfwäldchen reichten. Tausende, wenn nicht gar hunderttausende Zwiebeln aller Größen lagen friedlich beieinander. Die Kinder schauten sich nach allen Seiten um. Sie waren allein. Viel Zeit hatten sie nicht. Sie mussten damit rechnen, dass der Traktor mit dem Anhänger bald auftauchen könnte. Kochi gab das Kommando zum Sammeln: "Nehmt nicht die größten und jeder nur drei Stück gleich hier vorn. Das geht schnell." Ulf legte sich hin und seine Schnauze auf die Vorderpfoten. Die anderen begannen, die Zwiebeln zu begutachten, auszuwählen und in Eka's Beutel zu stecken. Plötzlich hörten sie ein Pferd wiehern. Sie erstarrten und schauten wie auf Kommando rüber zum Sumpfwäldchen. Dort stand tatsächlich ein Pferd mit einem Reiter. Die Entfernung war aber zu groß, um ihn genau erkennen zu können. "Der Raubritter kommt!", schrie Eka. Auch die Jung's wurden blass. Ulf machte nur "Wuff" und blieb am Feldrand liegen. Noch einmal wieherte das Pferd. Dann sahen die Kinder, wie der Reiter zwischen zwei Zwiebelreihen langsam näherkam. Eka versteckte schnell den Beutel mit den zwölf Zwiebeln in einem nahen Gebüsch.

 

Der Reiter entpuppte sich beim Näherkommen als Zwiebelbauer. Er hatte am Waldrand auf seine Transportleute gewartet. Jetzt wollte der Mann natürlich wissen, was die Kinder hier zu suchen hätten. Eka fing zu weinen an. Bübi kehrte seine Hosentaschen um. Die anderen taten es ihm gleich. Und wie sie alle so dastanden, fing der Bauer an zu lachen: "Und wo habt ihr die Zwiebeln?" Er zeigte ihnen sein Fernglas, mit dem er sie auf frischer Tat ertappt hatte. Ehe aber einer von den Kindern antworten konnte, stand ULf plötzlich auf, lief zum Gebüsch, schnappte sich den Zwiebelbeutel aus dem Versteck und legte ihn mit einem treuen Blick dem Zwiebelbauern vor die Füße. Jetzt war das Gelächter groß. Die Kinder mussten ihm nun alles erzählen. Während sie von den leeren Gemüseläden und ihren Müttern berichteten, wurde der Mann immer nachdenklicher. Am Ende füllte er ihren Zwiebelbeutel bis zum Rand auf und erlaubte ihnen, zusätzlich ihre Hosentaschen zu füllen.

 

Zu Hause war die Freude groß, dass die Geschichte ihr gutes Ende fand. Die Zwiebeln wurden gerecht verteilt. Jemand bekam den Namen und die Adresse des Zwiebelbauern heraus, sodass er zum gemeinsamen Zwiebelkuchenessen eingeladen werden konnte. Irgendwann konnte man die Knollen auch wieder im Gemüseladen kaufen. Ob der Bauer einen Anteil daran hatte, ist nicht überliefert.

 

Ende

 

 

 

 

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IM BUCHHANDEL

Heute schon nachgedacht? - 60 Gedichte

ISBN 9783755483168 / ePUB / ab 12 Jahre

Impressum

Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: KI Microsoft Designer, pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 15.09.2024

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