Der Weihnachtsurlaub war zu Ende. Werner musste wieder an die Front. Als er sich von seiner Frau Hiltrud verabschiedete ahnte sie, dass er nicht wiederkommen würde. Die Russen hatten im Januar 1945 die Oder erreicht und bei Küstrin einen Brückenkopf gebildet. Im Februar kam Werners Sohn Wolter zur Welt. Werner hatte die Nachricht von der Geburt noch erhalten und Hiltrud daraufhin auch eine Feldpostkarte von ihm. Das war sein letztes Lebenszeichen. Im April begann die Panzerschlacht. Werner, der Militärmusiker, überlebte sie nicht. Er kam nie wieder und hinterließ Geige, Bratsche, Trompete, Klarinette, Taktstock und einen Notenständer, verpackt auf dem Boden des großen Kleiderschrankes, tabu für seine Kinder Rosalie und Wolter.
Die nächsten fünf Jahre hatte es Hiltrud schwer. Vielen jungen Frauen ging es ebenso. In den städtischen Werken fand sie eine Halbtagsstelle als Näherin beim Betriebsschneider, der den Krieg zum Glück überlebt hatte und bereits aus der Gefangenschaft gekommen war. Ihre Tochter Rosalie musste sich während ihrer Arbeitszeit um Wolter kümmern und so auf viele gemeinsame Stunden mit ihren Freundinnen verzichten. Sie tat das ohne Murren und hatte mit dem zappeligen Bruder eine Engelsgeduld. Es kam so, wie es oft kommt: Hiltrud war 1950 erst 35 und freundete sich mit dem Schneider an. Warum sollte sie auch nach der 5-jährigen Trauerzeit und vergeblicher Suche auf eine neue Partnerschaft verzichten? Nicht jeder in der Familie hatte dafür Verständnis.
Eines Tages erfuhren die Kinder, dass der Schneider Herbert Röcker ihr neuer Vater werden sollte. Hiltrud mietete zusätzlich eine leerstehende Mansarde, eine Treppe höher, als Kinderzimmer an. Ein paar Möbel fehlten. IKEA gab es nicht, die Russen hatten nichts, es gab überhaupt nichts, aber eine Schwester von Hiltrud, die Lenchen, hatte die fehlenden Stücke übrig und in ihrer Bodenkammer eingelagert. Man warf damals nichts weg. Die Tante aber wohnte im 65 Kilometer entfernten Schönebeck. Heute ist das ein Klacks. Damals war es eine Herausforderung von Quedlinburg aus überhaupt dahin zu kommen. Der Zug brauchte schon 3 Stunden, vorausgesetzt, man erreichte in Blumberg den Anschluss. Das Vorhaben, die Möbel herzubekommen, schien zu scheitern.
Wenn man denkt: Es geht nicht mehr, kommt von irgendwo die Hilfe her. Und die kam schließlich aus einer benachbarten Gärtnerei. Der Eigentümer, Herr Kloßmann, hatte einen ganz alten Lastkraftwagen aus den 20er Jahren, der hin und wieder noch kleinere Strecken auch ohne Panne bewältigen konnte, wie er versicherte. Er hatte geschäftlich in der Nähe von Schönebeck zu tun und wollte an einem bestimmten Tag dorthin fahren. Wie Hiltrud das erfahren hatte, blieb ihr Geheimnis. Vielleicht steckte auch ihr Schneider dahinter, der auch privat fleißig, preiswert und gut nähte.
Der besagte Tag kam heran. Er war ein wolkenbehangener und kühler Apriltag. Pünktlich um 8 Uhr stand Hiltrud, mit ihrem kleinen Sohn Wolter an der rechten Hand, vor dem doppelflügeligen Holztor der Gärtnerei Kloßmann. Die war gleich um die Ecke. In der anderen Hand hielt sie ihre Einkaufstasche mit Verpflegung, einen Regenschirm, Papiere und was man an einem solchen Tag noch so brauchte. Als sie das nur angelehnte Tor aufmachte, sah sie, wie sich der Gärtner bereits bemühte, den Motor des alten Lastwagens zu starten. Er saß im Auto und fummelte am Anlasser herum. Der schaffte jedoch stets nur ein paar schlappe Umdrehungen. Herr Kloßmann gönnte ihm eine kleine Pause und versuchte es erneut. Dann winkte er Hiltrud zu und sprang mit einer Kurbel in der Hand von seinem Sitz herunter, steckte sie vorn in die betreffende Öffnung und kurbelte kraft- und schwungvoll den müden Motor an. Das gelang ihm mit dem dritten Versuch. Ungleichmäßig und wie zögernd begannen die Kolben ihre tuckernde Arbeit. Es konnte losgehen.
Hiltrud saß ganz rechts neben dem Fahrer, der kleine Wolter dazwischen. Rumpelnd setzte sich der mit irgendwelchen Pflanzen, Dünger und Gerätschaften halb beladene und mit einer Plane bedeckte Kastenwagen in Bewegung. Wolter schaute interessiert nach vorn, wenn er nicht gerade den Fahrer beobachtete. Er fand alles interessant. Der Gärtner hatte ihm noch eine zusammengelegte Decke und ein flaches Kissen spendiert, damit er die Straße besser übersehen konnte. Hiltrud sah nicht so glücklich aus. Sie hatte wohl ein Stück Vertrauen zu diesem Gefährt eingebüßt und nickte höflich, als Herr Kloßmann sagte: "Er wird uns schon nicht im Stich lassen. Bisher hat er es immer geschafft, obwohl er schon über 30 Jahre alt ist und den Krieg überlebt hat." Hiltrud schaute ihn betroffen kurz von der Seite an. Er hatte offensichtlich seinen Fauxpas bemerkt.
Auf dem Weg nach Schönebeck muss man das nordöstliche Harzvorland durchqueren, das hinter Quedlinburg beginnt und bis Heteborn oder gar Kroppenstedt reicht. Große Berge gibt es da nicht mehr, aber die Natur hatte beim Bau des Harzes hier noch einen letzten Klops platziert, den 245 m ü. N. hohen "Hakel", einen 1400 ha großen und bewaldeten Höhenzug, den letzten oder ersten im Harz, abhängig von wo man kam, und natürlich neben dem noch größeren Huy bei Halberstadt.
Die flickenreiche Chaussee stieg vor Heteborn immer mehr an. Obwohl nur ein relativer Höhenunterschied von 22 m zu bewältigen war, begann das alte Auto zu schnaufen und Geräusche von sich zu geben, die es vorher nicht gab. Die Tachometer-Nadel sank von bisher um die 40 auf unter 20 Kilometer pro Stunde und zitterte dort vor sich hin. Das Fahrerhaus schüttelte sich. Herr Kloßmann schaltete zweimal herunter und vermied, auf Hiltruds besorgten Blick zu reagieren. Wolter umklammerte krampfhaft die Kante der Sitzbank. Mühsam kroch der Wagen die Kehren hoch. Heteborn war bald erreicht. Danach sollte es wieder zügig abwärts gehen, hinein in die flache Magdeburger Börde.
Doch kurz vor dem Ortseingang von Heteborn schoss mit einem lauten "Puff" ein Dampfstrahl aus der Motorhaube. Alle erschraken. Herr Kloßmann fuhr rechts heran, hielt an, schaltete den Motor ab und ließ ihn ein paar Minuten auskühlen. Dann sah er sich die Bescherung an: Ein Keilriemen war gerissen, einer, der für die Lüftung des Kühlwassers zuständig war. Herr Kloßmann grinste und kramte in einer Kiste herum. Er ersetzte den Keilriemen durch ein Stück Fallschirmseil, das vom ehemaligen Fliegerhorst stammte, verriet er beim Zusammenknoten. Fallschirmseile waren durch neuartige Kunstfasern reißfest, biegsam und stabil. Später musste manch ein Damenstrumpf dafür herhalten. Die Fahrt konnte weitergehen.
Hinter Heteborn ging es kurvenreich abwärts. Dann lag nur noch flaches Land vor ihnen. Hinter Altenweddingen begann es zu regnen. Die Frontscheibe des Fahrerhauses bestand aus zwei Teilen, die durch einen Mittelsteg getrennt waren. Die linke Fahrerscheibe wurde durch einen sich ruckweise bewegenden Wischer durchsichtbar gehalten. Die Beifahrerseite hatte keinen. Durch die Kastenform des Fahrerhauses waren die zwei Scheiben auch viereckig und plan. Sie wurden, wie bei Fenstern üblich, hauptsächlich durch Verkittung im Rahmen gehalten. Zunächst konnten Hiltrud und Wolter nicht mehr auf die holprige Straße vor ihnen heruntersehen. Alles war verschwommen. Es goss in Strömen. In Bahrendorf löste sich auch noch ihre Scheibe aus dem Kitt und fiel ihnen schmerzhaft und tropfend auf die Knie, was Hiltrud mit einem Schreckens-Schrei quittierte. Herr Kloßmann hielt an, besah sich den Schaden und befestigte die Scheibe provisorisch mit Isolierband. In Stemmern fiel die Scheibe erneut auf die Knie der Beifahrer. Das Isolierband hatte nicht gehalten. Bis Schönebeck waren es noch 15 Kilometer, die Kloßmanns Fahrgäste nun leider ohne Regenschutz überstehen mussten. Sie hielten dabei die Frontscheibe tapfer auf ihren Knien fest, wurden aber trotz zusätzlichem Regenschirm pitschnass. Herr K. wollte seinen Kunden verständlicherweise nicht mehr länger warten lassen, waren sie doch schon fast drei Stunden unterwegs. Die Scheibe sollte auch bei ihm wiedereingesetzt werden. Der Kunde, ebenfalls ein Gärtner, hatte sicher etwas Fensterkitt. Und so geschah es. Nachdem alles erledigt war, fuhren sie zur Tante bzw. Schwester Lenchen, um den Kleiderschrank für das neue Kinderzimmer abzuholen. Sie wurden gut empfangen, mittäglich versorgt und getrocknet verabschiedet.
Die Rückfahrt wäre fast problemlos verlaufen, wenn ein Reifenwechsel kurz vor Heteborn am Hakel nicht nötig geworden wäre. Darüber muss man aber nicht sprechen. Herr Kloßmann hatte ein geflicktes Reserverad und ein Rad-Kreuz mit. Etwas Profil war auch noch auf dem Ersatzreifen. Aber danach schaute damals ohnehin keiner. Und dass beim Transport des Schrankes hoch in die Mansarde zu guter Letzt noch ein rundgedrechselter Fuß abbrach, war dann auch nicht mehr so schlimm. Er wurde durch einen passenden Holzklotz ersetzt. Am Ende sah das neue Kinderzimmer ganz gemütlich aus, zumal die Tante noch einen runden Tisch sowie zwei Stühle mitgegeben hatte. Gardinen, Bilder und ein Teppich verschönerten alles. Die Aussicht von da oben und der neue Stiefvater waren auch in Ordnung.
Ende
IM BUCHHANDEL
Heute schon geschmunzelt? - 60 Gedichte
ISBN 9783743881686 / ePUB / ab 12 Jahre
Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 15.07.2024
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