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Der Bücherturm

Eines Tages waren drei Kinder beim Spielen in einen fast undurchdringlichen Wald geraten und hatten die Orientierung verloren. Stundenlang irrten sie zwischen den dicht zusammenstehenden, grauen und blattlosen Bäumen umher. Der Herbst ging langsam auf den Winter zu. Schließlich fanden sie nicht mehr hinaus. Egal in welche Richtung sie auch gingen, sie kamen immer wieder am gleichen Orte an, mussten also mehrfach im Kreis gegangen sein. Verzweifelt versuchten sie es noch einmal. Da tauchte plötzlich aus dem Gewirr von Baumstämmen und Ästen ein alter Mann wie ein Geist auf. Keiner sah ihn kommen, kein Ast zerbrach unter seinen Füßen. Er war einfach da. Die drei hatten aber keine Angst, denn er schien freundlich und ehrlich zu sein. Der Alte wies mit einer Hand in eine bestimmte Richtung. Dort würden sie auf die Ruine eines alten Turmes treffen, in der sie Hinweise und Zeichen für den Weg nach Hause fänden, sagte er. Die Kinder bedankten sich bei dem Manne, der sodann, genauso plötzlich wie er kam, auch wieder verschwand.

 

Sie gingen los. Nach einer Stunde zeichneten sich, durch kahle Bäume und Äste hindurch, die Reste eines alten Turmes ab. Die Kinder näherten sich der Ruine, die nur noch aus dem Erdgeschoss bestand. Der Verfall war schon weit fortgeschritten. Mutig gingen sie durch die nur angelehnte Tür hinein. Was sie im Inneren sahen, ließ sie erstaunen. Vor der runden Wand standen große Regale, in denen sich wohlgeordnet tausende Bücher ein Stelldichein gaben. Sie strahlten ein Licht aus, das den Raum erhellte. Auf dem Boden hatten unzählige Kartons einen Platz gefunden. Einer war nicht verschlossen und offenbarte seinen Inhalt. Es waren Bücher. In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag, als würde es den Kindern sagen wollen: "Hier findet ihr, was ihr sucht!" Und tatsächlich entdeckten sie zwischen den Seiten eine übersichtliche, schon leicht lädierte, Wanderkarte. Sie brauchten nur dem Wanderzeichen folgen, das wie ein Buch aussah, stand da. Die Kinder waren beruhigt und vereinbarten, noch etwas in den Büchern herumstöbern, bevor sie den Nach-Hause-Weg antraten. Ein Buch wollte sich jedes auswählen und für den Abend mitnehmen. Und so geschah es.

 

Am nächsten Tag gingen die Kinder wieder zu ihrem "Bücherturm". So hatten sie nun "ihre" Ruine genannt. Als sie ankamen, um die ausgeliehenen Bücher zurückzubringen, trauten sie ihren Augen nicht. Der Turm war um eine weitere Etage gewachsen. Im Erdgeschoss fehlten zudem die Kartons. Eine Wendeltreppe, die es gestern noch nicht gab, führte hoch in die neue Etage. Dort bot sich ihnen das gleiche Bild, wie gestern unten. Vor den Wänden standen gut gefüllte Bücher-Regale und auf dem Fußboden lagen unzählige schwere Kartons.

 

Am dritten Tag war es so wie am zweiten. Der Bücherturm war wieder um eine Etage gewachsen. Am vierten Tag betrug er schon drei Etagen und am fünften noch eine mehr. Als die Kinder am nächsten Tag wiederkamen, hörten sie ein Hämmern und Klopfen. Im Erdgeschoss trafen sie auf den alten Mann, der ihnen vor einer guten Woche den rechten Weg zeigte. Er hatte einen blauen Arbeitsanzug an und stand auf einer Leiter, um an einer freien Stelle einen Spruch anzubringen. Der Mann blinzelte den Kindern zu, zeigte auf den Spruch und las ihn vor: " Ein Haus ohne Bücher ist arm, auch wenn schöne Teppiche seine Böden und kostbare Tapeten und Bilder die Wände bedecken." Darunter stand noch "Hermann Hesse". Er blinzelte erneut die Kinder an, hängte den Spruch hin und stieg die Leiter herab. "Ihr könnt mir helfen, die anderen Sprüche hochzutragen", sagte er. Die Kinder ließen sich nicht zweimal bitten. Und so fand ein Spruch von Erich Kästner in der ersten Etage Platz. Er lautete: "Die Erinnerung ist eine mysteriöse Macht und bildet die Menschen um. Wer das, was schön war, vergisst, wird böse. Wer das, was schlimm war, vergisst, wird dumm." In der zweiten Etage lautete der Text: "Man sollte die Bücher und somit unsere Vergangenheit nicht wegwerfen, sondern bewahren". In der dritten Etage konnte man lesen: "Diese Sammlung besteht aus 'weggeworfenen' Büchern."

 

Nach getaner Arbeit räumte der alte Mann sein Handwerkszeug und die Leiter fort, lächelte den Kindern zu und verschwand mit einem Buch in der Hand. Man sah ihn nie wieder. Die Kinder aber besuchten weiterhin „ihren“ Bücherturm und machten ihn im Dorf bekannt. Der Bürgermeister ließ einen Weg mit neuen Wanderzeichen bauen und organisierte Spenden für die Betreuung und den Erhalt des Bauwerkes. Schließlich wurde der Bücherturm im ganzen Land bekannt. Viele Menschen wollten die alten Bücher lesen, die eigenartiger Weise immer frischer aussahen, je mehr sie gelesen wurden. Und als die drei Kinder erwachsen wurden, übergab man ihnen sodann die Leitung dieser besonderen Bibliothek.

 

Es waren bestimmt Sinnestäuschungen, wenn einige Besucher ab und zu eine Gestalt gesehen haben wollten, die zufrieden, mit einem Buch in der Hand, durch die Regalreihen wandelte. Sogar den Titel konnten sie lesen. Er lautete: "Steppke geht in die Welt" von Ilse Dore Tanner.

 

ENDE

 

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Impressum

Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 10.06.2024

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Idee zu dieser kleinen Geschichte kam dem Autor bei einem Besuch der Peter-Sodann-Bibliothek in Staucha (Sachsen) und ist ihm (Peter Sodann) und allen Bücherfreunden gewidmet.

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