Vor ungefähr so und so vielen Jahren lebten am Fuße des Harzes, am Rande einer Waldlichtung, der Bergmann Anton mit seiner Frau Berta und ihre zwei Töchtern Celine und Dora in einem bescheidenen Häuschen. Der Mann ging täglich unter Tage seiner schweren Arbeit nach, brachte aber wenig Geld nach Hause. Die Frau besorgte den Haushalt, den kleinen Gemüsegarten und verdiente sich als geschickte Näherin noch etwas dazu, wenn die Leute aus dem nahen Dorf ihr etwas zum Ändern brachten. Ihre jüngere Tochter Celine war fleißig und unterstützte sie bei allem. Die etwas ältere Dora war keine so große Hilfe. Sie drückte sich gern vor der Arbeit und beschäftigte sich lieber mit sich selbst.
Eines Tages beauftragte die Mutter ihre Tochter Dora, eine fertige Änderung in das Dorf zu schaffen und einen neuen Auftrag mitzubringen. Etwas widerwillig machte sie sich auf den Weg und warf ihrer Schwester, die im Garten werkelte, noch einen unfreundlichen Blick zu. Unterwegs ließ sie sich Zeit, weil sie vor dem Mittagessen nicht zurück sein wollte, denn Küchenarbeit liebte sie auch nicht besonders.
Als sie im Dorf die Sachen abgegeben hatte, machte sich Dora wieder gemächlich auf den Rückweg. Weil noch genügend Zeit war, nahm sie aber einen anderen, einen längeren Weg und kam an einem Häuschen mit einem Garten vorbei, in dem eine Unmenge großer roter Erdbeeren wuchs. Sie blieb am Zaun stehen und schaute sich um. Das Häuschen hatte sie noch nie gesehen, obwohl sie diesen Weg kannte und wunderte sich darüber. Ihr lief das Wasser im Munde zusammen, als sie die vielen Beeren hinter dem Zaun sah. Dass sich an einem halboffenen Hausfenster der Vorhang leicht bewegte, bemerkte sie nicht.
Dann entdeckte sie plötzlich vor der Gartentür einen Spankorb voller Erdbeeren. Er stand dort herum, als hätte ihn jemand vergessen. Dora wollte schon rufen, um die Hausbewohner darauf aufmerksam zu machen, besann sich aber eines „Besseren“. Sie vergewisserte sich, dass sie niemand beobachtete, ergriff schnell den Korb und wollte davonlaufen. Da erschien im Fenster zuerst ein Frauenkopf und dann eine Hand, die eine kreisförmige Bewegung machte. Dora blieb wie angewurzelt stehen und konnte keinen Schritt mehr gehen. Es war, als wenn sie jemand festhalten würde.
Plötzlich trat eine ganz alte, aber immer noch schöne Frau, die wie eine Fee aussah, aus dem Haus, schüttelte ihren Kopf und ging auf das Mädchen zu. „Wolltest Du mich bestehlen?“, fragte sie. Dora sah sie mit einem unschuldig gespielten Blick an und verneinte feige die Frage. Ihr war die Sache nun doch etwas peinlich geworden. Die Fee, es war die Erdbeer-Fee, blickte sie ernst an: „Nimm den Korb mit nach Haus und teile den Inhalt mit deinen Eltern und deiner Schwester. Behalte aber sieben der größten und schönsten Beeren und bringe mir den leeren Korb rasch zurück.“ Ohne noch ein Wort zu sagen, drehte sie sich herum und ging in ihr Haus zurück. Dora aber war froh, dass sie so glimpflich davongekommen ist. Sie konnte sich auch wieder bewegen und machte sich gleich auf den Weg, denn sie wollte schnell weg von hier. Dabei vergaß sie auch, sich bei der Fee für die Erdbeeren zu bedanken.
Dora war schon ein Stück des Weges vorangekommen als ihr der Erdbeerduft aus dem Spankorb verlockend in die Nase stieg. Sie setzte sich auf einen Baumstamm, nahm sich eine der größten und schönsten Beeren aus dem Korb und biss herzhaft hinein. Die süße und köstliche Frucht zerging ihr förmlich auf der Zunge und der frische Saft füllte den ganzen Mundraum angenehm aus. Sie konnte nicht widerstehen und nahm eine zweite Beere, dann eine dritte, vierte und fünfte. Auch danach fand sie kein Ende und aß immer weiter, bis der Korb leer war. Was ihr die Erdbeer-Fee gesagt hatte, war vergessen. Und den leeren Korb warf sie gleich hinter einen Busch, um sich den nochmaligen Weg zu sparen. Es wusste ja sonst niemand etwas von diesem Korb. Zu Hause würde sie es einfach verschweigen.
Sie ging weiter und bemerkte nach einer Weile eine aufsteigende Übelkeit. Es waren offensichtlich doch zuviel Erdbeeren, die sie verschlungen hatte. Ihr Magen drückte, ihr Bauch wurde immer dicker und ein Ekel stieg in ihr auf. Sie schleppte sich nur mühsam weiter und kam gerade noch rechtzeitig zum Mittagessen an. Die Mutter schaute erschrocken, denn Dora war im Gesicht ganz grün geworden. „Was ist mit dir, hast du etwas Falsches gegessen?“, fragte sie besorgt und weiter: „Hast Du den neuen Auftrag mitgebracht?“ Dora schüttelte ihren Kopf. Sie hatte auch den vergessen. Die Mutter bereitete ihr noch einen Tee und brachte sie dann ins Bett.
Am nächsten Tag machte sich Celine gleich auf den Weg, um für die Mutter den vergessenen Änderungsauftrag zu holen. Auf dem Rückweg kam sie am Häuschen der Erdbeer-Fee vorbei. Auch sie wunderte sich darüber, es bisher nicht gesehen zu haben. Und als sie vom Zaun aus die vielen Erdbeeren im Garten sah, ging ihr das Herz über. Sie bemerkte nicht, wie sich an einem Fenster der Vorhang bewegte. Dann entdeckte sie an der Gartentür einen offensichtlich vergessenen Spankorb voller Beeren. Sie nahm in hoch und rief laut nach den Bewohnern. Niemand hörte. Dann ging sie zum Haus und klopfte an. Endlich öffnete sich die Tür und es trat eine ganz alte, aber immer noch schöne Frau, die wie eine Fee aussah, aus dem Haus und lächelte sie an. Sie sagte: „Nimm den Korb mit nach Haus und teile den Inhalt mit deinen Eltern und deiner Schwester. Behalte aber sieben der größten und schönsten Beeren und bringe mir den leeren Korb rasch zurück.“ Celine bedankte sich, versprach, den Korb noch heute zurück zu bringen und wünschte der Alten einen schönen Tag.
Zu Hause war die Freude groß. Und als der Vater aus dem Bergwerk kam, stand für jeden ein Schüsselchen Erdbeeren auf dem Tisch. Nur Dora wollte keine essen. Ihr ging es immer noch schlecht. Im kühlen Keller aber stand noch eine weitere Schüssel, in der sieben der schönsten und größten Erdbeeren lagen, die Celine gewissenhaft ausgesucht hatte, so wie es die Alte sagte.
Celine musste, wie versprochen, noch schnell den leeren Spankorb zurückbringen und machte sich schnell auf den Weg. Sie wollte bis zum Abend wieder zu Hause sein. Doch als sie an die Stelle kam, waren das Haus und der Garten der Alten verschwunden. Der Spankorb in ihren Händen aber verwandelte sich plötzlich in reines Gold. Und als sie hineinsah, entdeckte sie ein zusammengerolltes Pergament, auf dem stand, dass sich die bisherige Erdbeer-Fee aus Altersgründen zur Ruhe gesetzt habe und dass sie die Nachfolgerin geworden sei. Sie solle wieder nach Hause gehen und würde schon sehen, was aus den sieben Erdbeeren geworden ist. Celine glaubte zunächst nicht, was sie da las und was ihr geschah, lief aber schnell zum Hause ihrer Eltern zurück. Vor einem neuen und größeren Hause, umgeben von einem riesengroßen Erdbeergarten, standen fassungslos ihre Eltern und ihre Schwester Dora.
In der Gegend sprach sich das Wunder schnell herum. Die Leute kamen mit Eimern und Schüsseln, um die herrlichen Erdbeeren gegen einen Obolus selbst zu pflücken, denn nirgendwo gab es bessere. Der Vater musste nicht mehr im Bergwerk schuften und allen ging es gut. Später gab es neben den Erdbeeren auch Erdbeertorte, Erdbeerwein, Erdbeerbowle, Erdbeerbrause, Erdbeermarmelade, Erdbeermilch, Erdbeereis und eine Menge anderer Sachen nach feinen Rezepten sowie einen Lehrgang, wie man aus den vielen kleinen Nüsschen, die jede Beere hat, neue Erdbeerpflanzen machen kann. Und was ist aus Dora geworden? Sie hat den Hofladen voll in die Hand genommen und bedient jetzt alle Kunden freundlich. Der goldene Spankorb mit dem Pergament wird von Celine sorgsam gehütet.
Aber wusstet ihr überhaupt, dass eine Erdbeere gar keine richtige Beere, sondern eine Sammelnussfrucht ist?
E N D E
Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 05.06.2024
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