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Beim Frühstück

  

Eines Tages geschah etwas Merkwürdiges im ganzen Land. Die Leute standen wie immer morgens auf, gingen ins Bad, zogen sich an und trafen sich danach am Frühstückstisch. So war das auch in der Familie Mümmelmann. Das Radio brachte wie jeden Morgen Musik, Nachrichten und den Wetterbericht. Auf einmal wurde die Sendung wegen wichtiger Eilmeldungen unterbrochen. Am Tisch verstummten die Gespräche und das Klappern der Tassen und Teller. Alle, nämlich der Vater Heinz, die Mutter Hermine sowie die zwei Kinder Hans und Hanna, hörten aufmerksam zu. Der Hund „Flocki“ war mit seinem Futternapf beschäftigt. Was war passiert?

 

Die Grenze zu Brandenland wurde vor einer halben Stunde vorsichtshalber geschlossen, weil man eine Bedrohung für die hiesige Bevölkerung befürchtete. Die Schilder an der Landesgrenze hatte man offensichtlich ausgetauscht, denn statt „Willkommen im Brandenland“ hieß es jetzt „Willkommen im Bandenland“.

 

Des Weiteren wurden die Arbeiten auf der Autobahn wegen eines Streiches eingestellt, den man vermutlich der Baufirma gespielt hatte. Als die Arbeiter in aller Frühe eine neue Teerdecke aufbringen wollten, fanden sie in den Teerfässern nur schwarzen Tee vor. Damit konnte man natürlich nichts anfangen. Die Sache musste erst geklärt werden. Der Sprecher im Radio räusperte sich; der Vater schüttelte den Kopf, weil er nun einen Umweg fahren musste.

 

Die schlimmen Meldungen waren aber noch nicht zu Ende. Die größte Großbäckerei konnte heute Früh keine Brote an die Supermärkte ausliefern, weil alle Brote, die in der Nacht gebacken wurden, auf mysteriöse Art und Weise plötzlich verschwunden waren. An deren Stelle lagen in den Regalen und Transportkisten nun gleichgroße Spielzeugboote. Man rätselte an verantwortlicher Stelle, was das bedeuten könnte, und man vermutete, dass die Brote heimlich in das Branden- oder Bandenland verschleppt wurden. Eine erste diplomatische Rückfrage brachte allerdings kein Ergebnis. Die Botschaft versicherte, damit nichts zu tun zu haben. Eine Umbenennung des Landes sei auch nicht erfolgt.

 

Es folgte Musik. Dann kamen noch weitere Meldungen dieser Art, die das Unverständnis in der Familie Mümmelmann noch verstärkten. Man ging trotzdem wie gewohnt an sein Tagewerk.

 

Auf dem Schulweg

 

Auf dem Schulweg trafen Hans und Hanna noch weitere Kinder. Alle hatten die Meldungen gehört, waren auch sehr verwundert darüber und rätselten, was denn dahinterstecken konnte. Inzwischen hatten sie ihr Klassenzimmer erreicht und grübelten dort weiter. Nach einer Weile hatte Hans eine Idee, denn er war sehr aufmerksam und hatte herausgefunden, dass nur ein kleiner fehlender Buchstabe für das ganze Durcheinander verantwortlich war. Die Kinder scharten sich um ihn, um seine Erklärung zu hören.

 

Hans begann: „Im ersten Fall fehlt der Buchstabe ‚r‘. Statt ‚Brandenland‘ steht jetzt ‚Bandenland‘ auf den Grenzschildern. Im zweiten Fall ist das auch so. Statt ‚Teer‘ war ‚Tee‘ in den Fässern. Im dritten Fall wurde aus einem ‚Brot‘ ein ‚Boot‘. Immer fehlte der kleine Buchstabe ‚r‘.“ 

Die Kinder tuschelten durcheinander. Eines sagte: „Aber wenn aus Brot ein Boot wird, ist da nicht ein ‚o‘ zuviel?“ Hans hatte auch dazu eine Erklärung und meinte: „Ach weißt du, zwischen schreiben, sprechen, schelten liegen große Welten.“ Die Kinder lachten. Sie wussten, dass man Geschriebenes oft anders aussprechen musste. ‚Brot‘ und ‚Boot‘ klingen zudem sehr ähnlich. 

 

Im Klassenzimmer

 

Die Lehrerin, Frau Kluge, betrat das Klassenzimmer und fand einen Haufen aufgeregter Kinder vor. Sie brauchte eine Weile, um die Ruhe wiederherzustellen. Hans meldete sich ungeduldig und erzählte, was er herausgefunden hatte. Frau Kluge hörte sich die Sache aufmerksam an und kam am Ende zu dem Schluss, dass wirklich ein vergessener oder verlorener Buchstabe zu großen Missverständnissen führen kann. „Schauen wir doch einmal nach, ob uns der Buchstabe ‚r‘ abhandengekommen ist“, sagte sie und bat Hans und ein paar andere, mit ihr in das große Lehrmittelzimmer zu gehen, dass sonst nur Lehrer betreten durften.

 

Im Lehrmittelzimmer waren die Übergardinen zugezogen. Die Luft war abgestanden und es roch markant nach alten Sachen, etwas staubig und muffig, etwa so wie in alten Bibliotheken oder bei einem Antiquar. Frau Kluge knipste das Licht an. Das Zimmer war über und über vollgestopft mit alten und neuen Lehr- und Lernmitteln, wie ausgestopften Tieren, eigenartigen Geräten, Laborgläsern, Bildern, Atlanten sowie Schränke, Vitrinen und Regale voller Bücher, Papieren und Tafeln. Viele Sachen wurden sicher nicht mehr gebraucht, aber trotzdem aufgehoben. Frau Kluge bat die Kinder, nach einer großen aufgerollten Lehrtafel aus Leinwand zu suchen, auf der das gesamte Alphabet zu sehen war und zeigte auf ein paar Schränke, in denen sie sein könnte.

 

 

 

Die Lehrtafel

 

Die Kinder machten sich ans Werk, durchstöberten auch Kisten, Kästen und andere Behälter. Nach kurzer Zeit wurden sie fündig und hielten die Lehrtafel triumphierend in die Höhe. Frau Kluge hängte sie vorsichtig an einen Kartenständer und rollte sie auf. Alle schauten auf die großen und kleinen Buchstaben sowie auf die Zahlen und Zeichen für die Interpunktion. Und tatsächlich: die Stelle, wo das kleine „r“ stehen müsste, war leer. „Wenn es in der Schule fehlt, fehlt es überall. Woher soll man es auch sonst kennen?“, meinte Frau Kluge resigniert und ergänzte: „Wir müssen es suchen, es kann ja diesen Raum eigentlich nicht verlassen haben, weil er stets verschlossen war.“

 

Die Kinder nickten und waren eifrig bei der Sache. Sie fanden das ‚r‘ schließlich in einer alten Pudelmütze, die irgendjemand vergessen hatte und sicher schon ewig an einem Haken hing. Hans nahm es heraus und brachten es zur Lehrtafel zurück. Es hätte einfach verschlafen, sagte das „r“ und entschuldigte sich dafür. Dabei wurde es rot, und gab schließlich zu, dass es in Wirklichkeit keine Lust mehr hatte, ständig auf diesem Rollo herum zu hocken. Frau Kluge aber erklärte dem Ausreißer, wie wichtig auch der kleinste Buchstabe an seinem richtigen Platz sei, rollte die Tafel zusammen und verstaute sie wieder im Schrank. Dann gingen alle zum Klassenzimmer zurück und sprachen noch darüber, wie wichtig auch andere kleine Dinge im Leben sind und was ein falsches Wort am falschen Ort alles anrichten kann. Es wurde noch eine interessante Unterrichtsstunde. 

 

 

 

Das gute Ende

Am Ende war alles wieder gut. Die Arbeiter konnten die neue Teerdecke aufbringen, die Bäcker hatten wieder Brot in den Regalen und keine Boote mehr und an der Grenze begrüßten die Brandenländer wieder ihre Gäste wie üblich. Beim Abendbrot sagte Hans zu Flocki: „Da hast du aber Glück gehabt, dass wir dir nicht den Namen ‚Harras‘ gegeben haben, sonst hättest du mit langen Ohren herumhoppeln müssen. Flocki antwortete mit einem langen „rrrrrrrrrrrrrrr“. 

 

 ENDE

Impressum

Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2024

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