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Der Garten

 

Auf dem Grundstück des „Alten Forsthauses“ gab es auch einen ausgedehnten parkähnlichen Garten mit Beeten, alten Bäumen, Beeren- und anderen Sträuchern sowie einen Teich, in dem die Frösche an manchen Tagen laute Konzerte veranstalteten. Aasima und Aaron, die ihre Ferien bei ihren Großeltern verbrachten, hielten sich besonders an heißen Tag gern dort auf und genossen die schattige Kühle unter den Bäumen, lasen, spielten oder machten sich nützlich. Ihr Lieblingsplatz war die Bank am Teich, die von dichten Rhododendronbüschen umgeben war. Obwohl Opa Willm aufgrund seines Alters die Anzahl der Blumen- und Gemüsebeete drastisch reduziert und nur die in der Nähe des Hauses gelassen hatte, war im hinteren Teil, dort wo der Garten in den Park überging, auch immer etwas zu tun. Die Wege wollten geharkt sein, die Vogelhäuschen und die Bänke repariert, gesäubert oder gestrichen werden. Man musste nur die Augen offenhalten, um zu sehen, was notwendig war. Die Großeltern freuten sich, wenn alles in Ordnung kam und bemühten sich im Gegenzug, ihren Enkeln eine schöne Ferienzeit zu bereiten.

 

Aasima und Aaron stellten nach getaner Arbeit die Harken an den Baum neben ihrer Bank und setzten sich hin. Für heute war es genug. In zwei Stunden war Abendbrotzeit. Bis dahin wollten sie noch bleiben. Da tauchte plötzlich Oma Hilda auf. Sie hatte eine Schüssel mit frischen Tomaten für das Abendessen bei sich und setzte sich in ihrer Kittelschürze neben die Kinder, die ihr sofort erfreut berichteten, was sie alles getan hatten. Die Oma lobte ihre Enkel und die den schönen erholsamen Garten, auf den die Oma sehr stolz war. „Schaut euch nur einmal dieses herrlich dichte Grün in den verschiedensten Tönungen an, die alten Bäume, die schönen Büsche und die satten Wiesen mit den vielen Blümchen“, sagte sie immer wieder mit strahlenden Augen. „Hier kann man sich gut erholen und die Seele baumeln lassen.“  Sie hob die Hände hoch als, wenn sie die Bäume umarmen wollte. Ein Frosch quakte in diesem Augenblick wie bestellt, bekam aber keine Antwort von einem anderen. Die Kinder stimmten der Oma zu, indem sie mit den Köpfen nickten.  In Wirklichkeit aber empfanden sie ihre Schwärmerei für den Garten als etwas überzogen. Vielleicht lag es auch am Altersunterschied, denn sie ergänzte ihre bewundernden Worte stets mit dem Hinweis: „Wenn ihr mal älter seid, werdet ihr die Schönheit der Natur auch intensiver empfinden. In der Kindheit und Jugend nimmt man Vieles als selbstverständlich hin.“ Dieser Hinweis war wie eine Initialzündung, den Kindern nun eine Gartengeschichte „von früher“ zu erzählen, was bei den Kindern auf Zustimmung stieß. Sie nahm zwei schöne Tomaten aus dem Korb, wischte sie mit ihrer Kittelschürze ab und gab sie den beiden. Dann stellte sie den Korb ab, zupfte ihre Schürze zurecht und begann zu erzählen.

 

Nicht immer war ein Garten nur Hobby und Erholungsort für die Familie. Das habe ich erst viele Jahre später kennen und schätzen gelernt. Es gab Zeiten, in denen die Menschen aus Mangel an Nahrung hungern mussten. Ich bin in einer solchen Zeit geboren und habe das schon bewusst miterlebt. Es muss so Anfang der 1950er Jahre gewesen sein. Die Russen hatten den Teil des Landes, in dem wir lebten, besetzt und litten selbst am Hunger, weil ihr Land zerstört war. Meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und ich wohnten damals in einer kleinen 2-Raum-Wohnung im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses in Dresden. Wir hatten mit einem Kachelofen in der Stube, einem Kohleherd in der Küche und einem Badeofen eigentliche eine schöne Wohnung, wenn sie auch zu klein für uns war. Aber es ging. Unser Vater war schon seit langer Zeit Invalidenrentner. Er besorgte den Haushalt. Die Mutter, eure Uroma, verdiente als Maschinenbuchhalterin in der Sparkasse sehr wenig und musste gut wirtschaften. Die Eltern waren ausgebombt, wie es damals hieß und mussten wie Viele mit Nichts von vorn anfangen. Meine Schwester ging in die Grundschule und ich stand kurz vor der Schuleinführung. Wir wurden zu Ordnung, Sauberkeit, Höflichkeit, Genügsamkeit und zum schonenden Umgang mit unseren Sachen erzogen. Taschengeld gab es in diesem Alter noch nicht. Nur manchmal bekamen wir sonntags 25 Pfennige für das Kino, später auch 30 Pfennige für den Klingelbeutel im Konfirmandenunterricht, die ich aber meistens für eine Gummischlange und Senf ausgab. Gott möge mir verzeihen. Diese eigenartige Kombination schmeckte mir hervorragend und ich „titschte“ die Schlange sorgfältig in den Senftopf und steckte sie dann in den Mund, biss ab und kaute das Gemisch genussvoll. Das war lecker.

 

Die allgemeine Versorgungslage war nach dem Krieg sehr schlecht. Man musste Schlange stehen, um beim Kaufmann ein paar Grundnahrungsmittel zu bekommen, die mit Lebensmittelmarken zugeteilt wurden und zudem noch sehr teuer waren. Ein Rentner und ein normaler Arbeiter bekamen noch kleinere Zuteilungen als ein Schwer- oder gar Schwerstarbeiter. Was sollte man also tun, um die Familie satt zu bekommen? Die Mutter teilte das wenige Geld sorgsam ein und legte die notwendigen Geldstücke abgezählt in ein Kästchen, das mehrere Fächer hatte. Zu Schluss blieb nichts übrig. Oft wurde aus einem Fach noch etwas herausgenommen, wenn es für eine wichtigere Ausgabe nicht reichte. Wir Kinder saßen dabei und schauten zu. Wir hatten Glück im Unglück, weil unser Kaufmann ein Herz hatte und in Notfällen auch einmal „anschrieb“, was unserer Mutter den Schlaf kostete, solange die minimalen Schulden nicht getilgt waren. Heute würde man über die kleinen Beträge nur schmunzeln.

 

Ratgeber erklärten uns in der Zeitung und im Radio, wie aus alten Sachen neue entstehen können und womit man Fehlendes ersetzen kann. Die Kleidung der Kinder wuchs mit. Es wurde angestrickt, angehäkelt, gestopft, geflickt, mit Zwickeln versehen, aufgetrennt und gefärbt oder gleich neu gemacht. Nichts wurde weggeworfen, weil man es vielleicht doch noch brauchen könnte. Alte Nägel wurden gerade geklopft, man bückte sich nach jedem Schräubchen, nach jeder Unterlegscheibe und sammelte alles nach Größen geordnet in leeren Marmeladengläsern. Dieses Sammeln von Dingen, „die man vielleicht einmal brauchen könnte“, wurde oft zur Marotte. Ganze Lager entstanden in Kellerräumen oder Garagen und man freute sich, anderen helfen zu können. Doppeltes wurde getauscht und man kaufte, wenn es etwas gab, nicht wenn man es brauchte. Verwandte im anderen Teil des Landes hatten diese Probleme nicht. Sie konnten das nicht verstehen. Manche Nachbarn bekamen ab und zu ein „Westpaket“ und schauten auf die herab, die keins bekamen. Wir gehörten dazu. So wurden wir noch einmal geteilt.

 

Die Regierung ließ sich drastische, teilweise kuriose Maßnahmen einfallen, um das allgemeine Elend zu mindern. Eine Verordnung jagte die andere. Auf Plakaten wurde zu Sparsamkeit aufgerufen bzw. um Dieses oder Jenes zu tun oder zu unterlassen. Strafen wurden angedroht. Wer aus der Reihe tanzte, bekam Probleme mit der Obrigkeit.

 

Was waren denn das für Maßnahmen“, wollte Aaron wissen. Die Oma lächelte verständnisvoll und sagte nur: „Warte es ab. Du wirst es gleich hören.“ Und dann setzte sie ihre Geschichte fort.

 

Da fallen mir spontan ein paar Beispiele ein. In den Gewächshäusern der Gärtnereien konnte kein Gemüse angebaut werden, weil der Brennstoff für die Heizungen fehlte. Überall bereitete man Brachland für den Gemüse- und Kartoffelanbau vor. Sportplätze wurden in Gartenland umgewandelt und die Parzellen den Einwohnern übergeben. Bei der Zuweisung von Brachland wurden die „Neubürger“, so hießen damals die Flüchtlinge aus Schlesien oder Pommern, bevorzugt. Und wir hatten viele Flüchtlinge in der Stadt. Den Nutzern der erwähnten Brachen wurde eine fünfjährige Bewirtschaftung zugesichert. Selbst in den Betrieben und Krankenhäusern suchte man nach geeigneten Flächen, um etwas Essbares anzubauen. Betriebsküchengärten, die Gemüse und Kartoffeln lieferten, sollte die Belegschaftsversorgung verbessern. Auch betriebseigene Schuhmachereien und Schneidereien wurden eingerichtet, um Fehlschichten wegen defekten Schuhwerks oder mangelhafter Kleidung zu vermeiden. Die Leute sollten möglichst in der Arbeitszeit ihren Arbeitsplatz nicht für Besorgungen verlassen. Aus dem gleichen Grund mussten Ärzte auch in den Betrieben Sprechstunden abhalten. Hausbesitzer wurden aufgefordert, ihre Blumenrabatten in Gemüsebeete umzuwandeln. Zur Bekämpfung der Feld- und Gartendiebstähle wurde für die Zeit der Ernte bis zum 31. Oktober das Betreten von Feldwegen und Rainen sowie von Gartenanlagen „für alle dazu nicht berechtigten Personen von 20 bis 7 Uhr verboten“. Bei Zuwiderhandlung gab es Geldstrafen bis 150 Mark oder Haft bis 14 Tage. Alle Klein- und Schrebergartenbesitzer und Gärtnereien wurden zudem verpflichtet, ihre Kartoffel- und Tomatenbestände täglich nach den gefährlichen Kartoffelkäfern abzusuchen. Ganze Schulklassen mussten auf den Feldern auch nach diesen Schädlingen suchen. Parolen auf großen Spruchbändern verkündeten: „Nur größte Aufmerksamkeit kann unsere Kartoffelernte auf Dauer vor der Vernichtung retten. Deshalb beteiligt euch alle an den Suchaktionen!“ Darüber hinaus hatte jede Kommune sämtliche nicht gärtnerisch genutzten Flächen über 100 Quadratmeter sofort zu erfassen und der örtlichen Kleingartenhilfe zu melden. Diese Flächen waren umgehend an Interessenten zum Gemüseanbau zu verteilen. Gleichzeitig aber fehlte es an Spaten, Hacken, Gießkannen und Eimern. „Es gilt jetzt für jeden einzelnen“, schrieben die Zeitungen, „Findigkeit und Aktivität zu entwickeln. Jeder Zentner Kartoffeln und jeder Korb Gemüse, die mehr geerntet werden, helfen uns ein Stück weiter, und wir werden mehr zu essen haben.“ Das Saatgut für Kleingärtner und Brachlandbewirtschafter gab es nur gegen Vorlage einer Saatgutkarte.  Die Kinder wurden aufgefordert, Sonnenblumen anzubauen, um zur Verbesserung der Fettversorgung beizutragen. Allerdings, so wurde betont, durfte das nicht während des Unterrichts erfolgen. Auch der Anbau von Maulbeerensträuchern für die Seidenraupenzucht wurde den Schulen übertragen. An dieser Stelle unterbrach die Oma ihre Erzählung.

 

Aasima nutzte die Pause und wollte wissen, ob sie damals auch einen Garten bekommen hatten.

Ja, unser Vater hatte sich darum bemüht. Aber das wird nun noch eine weitere Geschichte.“ Die Oma schaute auf ihre Uhr und nickte. „Zeit hätten wir ja noch. Wollt ihr sie hören?“ Die Kinder riefen: „Oh, ja!“ Sie hörten gern zu, wenn die Oma mit ihrer ruhigen und warmen Stimme von den alten Zeiten erzählte. „Von dem, was früher war ist leider schon vieles in Vergessenheit geraten“, sagte sie bedauernd. „Das ist nicht gut. Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gestalten.“

 

Um die Versorgung der Familie in der Nachkriegszeit zu verbessern, nicht etwa zum Vergnügen, bewarb sich unser Vater für einen Schrebergarten in der 1921 gegründeten Gartensparte „Freudenberg“ zwischen dem Olympia-Kino und der Eugen-Bracht-Straße. Er bekam eine seit längerer Zeit ungenutzte Parzelle ohne Laube zugewiesen und musste daraus nun einen Garten machen. Zäune, Wege und deren Begrenzungen, Lauben, mit und ohne Terrasse, Geräteschuppen, Komposthaufen, Wasserleitung und Wasserfass und so weiter entstanden damals irgendwie im Selbstbau und oft mit einfachsten Mitteln. Es gab keine Baumärkte und die wenigen Baustoffe wurden für wichtigere Dinge gebraucht. Jeder half jedem, es wurde getauscht und organisiert. Wer Beziehungen hatte, hatte Glück. Das Geld war bei den meisten knapp. Dresden war damals noch eine grauschwarze, unheimliche Trümmerwüste. Auch die Straßen mit ihren ehemals stolzen und schönen Villen sahen bedrückend aus und die schwarzen Ruinengrundstücke erzeugten nicht nur Albträume, sie wurden auch zum oft nicht ganz legalen Fundus für Baumaterial. Bretter, Balken, Ziegelsteine, Wasserrohre und Wasserhähne waren dabei beliebte Objekte, auch für den Gartenbau. Was lag also näher, als sich dort zu bedienen?

 

Und so kam es, dass sich der Vater mit uns Kindern und einem geborgten Tafelwagen auf den langen Weg Richtung Hauptbahnhof zur Wiener Straße machte, um Ziegelsteine, Balken und Bretter für die Laube zu holen. Immerhin war das eine Strecke von etwa 3 Kilometer auf holpriger und löchriger Straße entlang vieler Ruinen, die uns aus ihren verräucherten Fensterlöchern anstarrten. Noch heute träume ich davon. Aus den Kellern roch es muffig. Unser Vater zog den Wagen weit nach vorn gebeugt, mit einem Riemen über der Schulter. Wir Kinder schoben den Wagen barfüßig von hinten. Diese Tour hatten wir schon einmal gemacht, jedoch die Ziegelsteine reichten immer noch nicht.  Also mussten wir noch eine weitere Tour machen. Es war sehr heiß an diesem Tag und unsere Füße schmerzten auf dem überhitzten Asphalt schon nach den ersten Metern.

 

Nach einem für uns Kinder unendlich lang erscheinenden Marsch mit dem ratternden Tafelwagen kamen wir an das Ruinengrundstück, dass unser Vater als geeignet für sein Vorhaben ansah. Er gönnte sich und uns keine Pause, sondern wischte sich den Schweiß von der Stirn und begann, die Ziegelsteine, die er fand und die wir ihm brachten, mit einem Maurerhammer abzuklopfen, um sie danach auf dem Tafelwagen zu schichten. Es wurden für das Vorhaben ja etliche gebraucht. Die Laube sollte 6 m² groß werden, die Sitzfläche davor 3 m² und ein Geräteschuppen an der gegenüberliegenden Seite auch 3 m². Wir klopften und schleppten die Steine bereits eine ganze Weile und es würde auch noch etwas dauern, bis die benötigte Menge erreicht war. Ein paar alte Balken und Bretter lagen auch schon zum Abtransport bereit.

 

Plötzlich gab es einen lauten Knall, dann noch einen und noch einen. Der Boden unter uns erzitterte in mehreren Wellen, eine mächtige Staubwolke wirbelte durch die Luft und ein Schwall Erde mit Steinen regnete auf uns herab. Erschrocken krochen wir Kinder unter den Wagen. Der Vater sprang schutzsuchend in den nächsten Eingang. Dann trat Ruhe ein. Die Staubwolke verzog sich nur langsam. Misstrauisch und zögernd verließen wir unsere Deckungen. Was war geschehen? Im Nebengrundstück wurde gesprengt. Das haben wir nicht gewusst. Wir bemerkten auch niemand, wurden auch nicht gewarnt. Es gab zwar eine Absperrung und auch Warnschilder, die aber offensichtlich auch von anderen nicht für voll genommen wurden. Auch ein Warnsignal, wie es bei Sprengungen üblich ist, war vorher nicht zu hören. Wir wurden offenbar auch umgekehrt von den Sprengleuten nicht bemerkt. Es war eine gefährliche Situation und wir hatten ein mächtiges Glück, dass uns nichts passiert ist. Der Schreck saß uns lange noch in den Knochen und bewirkte den vorzeitigen Abbruch der gesamten Aktion. Vor uns lag der weite Rückweg bei immer noch sengender Hitze mit einem beladenen und schweren Tafelwagen. Irgendwie hatten wir den dann auch mit unseren wunden Füßen geschafft und die Steine reichten sogar für das gesamte Fundament.

 

Die Laube selbst und der Anbau für die Geräte wurden aus Holzleisten, Platten und Brettern errichtet und mit Dachpappe verkleidet. Die Sitzfläche vor dem Laubeneingang bekam als Sichtschutz eine bauchhohe hölzerne Umrandung und darauf noch ein Gerüst als Rank-Hilfe für Feuerbohnen. Zwei Bänke, im Winkel von 90° aufgestellt, und ein Gartentisch hatten auf dieser gemütlichen „Terrasse“ Platz. Wir nannten diese Ecke dann später etwas respektlos „Sitzkiste“. Einen elektrischen Anschluss hatte die Laube nicht. Bei Bedarf wurde eine Kerze angezündet. Die Küchenausstattung bestand aus einem Spirituskocher, ein paar Teller, Tassen, Gläser und Besteck und natürlich einem „Asch“ (große Schüssel) mit Lappen, Seife und Handtuch. Gegenüber der Laube stand der Wasserhahn, darunter ein Blechfass. An heißen Tagen saßen wir Kinder bis zum Hals darin, wenn wir nicht gerade jäten mussten. Die jungen Bäume warfen noch keine Schatten und so musste mancher Sonnenbrand mit kühlendem Quark behandelt werden.

 

Eine Gemeinschaftstoilette, ein „Plumpsklo“, befand sich zwar in 50 Meter Entfernung in einem Holzbau, jedoch baute der Vater im hinteren Teil des Geräteschuppens ein eigenes, indem er ein Blechfass halb in die Erde versenkte und oben mit einer Holzplatte, in die er ein rundes Loch sägte, abdeckte. Wir mussten dann alle dieses Klo benutzen, denn aus dieser Einrichtung schöpfte er dann den wertvollen Dünger für die zum Dank üppig wuchernden Pflanzen. Ab und zu wurden auch dafür frische Pferdeäpfel verwendet. Etwas anderes kam für ihn nicht infrage. Es war wohl auch eine geldliche Notwendigkeit.

 

Die Geldfrage und die schlechte Versorgungslage bestimmten sicher auch das Nutzungskonzept des gesamten Gartens, dass der Vater streng nach Vorgaben des Vorstandes festlegte. Ein Mitspracherecht hatte niemand. Ich hätte gern ein winziges Beet für mich gehabt. Das ging aber nicht, denn jedes Fleckchen musste für Essbares genutzt werden, vor allem für Kartoffeln und Gemüse aller Art. Heute kann ich das verstehen. Es gab aber auch Erdbeeren, Beerensträucher, mehrere Obstbäume und ein paar Blumen. Samen und Jungpflanzen gewann bzw. zog der Vater überwiegend selbstständig. Der Garten wurde also von ihm total ökonomisch und ökologisch bewirtschaftet, was fachliches Können und viel Arbeit erforderten. Beides hatte bzw. konnte er und er gab es auch an andere Gartenfreunde für ein Bierchen gern weiter. Neben seiner Ratgebertätigkeit versorgte er die anderen Gartenfreunde auch mit Werkzeugen, Material und Gartengeräten, die er hier und da fand und in einer schmalen Lücke zwischen Laube und Nachbarzaun akribisch sammelte. Das überhängende Laubendach schützte die wertvollen Stücke. Oft konnte mit Geschick aus zwei oder drei beschädigten Teilen ein brauchbares gemacht werden. Hinter der Laube fand er die Lösung jedes Problems.

 

Das der Garten viel Arbeit machte, merkten auch wir Kinder besonders, wenn wir mit dorthin mussten. Manchmal wurde es mir zu viel. Ich habe mir später auch deswegen keinen eigenen zugelegt und lieber die freie Natur bevorzugt. Die Versorgungslage wurde ja auch besser und es bestand später keine objektive Notwendigkeit mehr, in einem Garten nur Essbares anbauen zu müssen.

 

Zum Schluss möchte ich aber noch unbedingt erwähnen, dass es auch damals schöne Stunden im Garten gab, besonders dann, wenn Verwandte oder Bekannte zu Besuch kamen. Wir machten es uns in der „Sitzkiste“ bei Kaffee aus der Thermoskanne, Obstsaft, selbstgebackenen Kuchen, Bier und selbstgemachten Obstwein gemütlich. Einmal im Jahr gab es auch ein Sommerfest. Das war für uns Kinder aufregend, weil man als Kind kostenlos eine Fischsemmel und eine Limonade bekam. Außerdem wurde eine Tombola veranstaltet. Ganz glücklich war ich, als ich einmal am Glücksrad einen Pfefferkuchen gewann. Krönender Abschluss und für uns Kinder besonders aufregend war dann in der Dämmerung ein bunter Lampionumzug durch die ganze Gartenanlage.

 

Damit beendete die Oma ihre Geschichte um den Familiengarten. Aasima und Aaron waren beeindruckt davon, wie es damals zuging und wie die Leute diese schwere Zeit bewältigt hatten. Eigentlich fanden sie die teilweise kuriosen Anordnungen zur Verbesserung der Versorgung gar nicht so schlecht. Opa sagte oft: „Wir hatten zwar nichts, wir haben aber daraus etwas gemacht.“ Das verstehen sie jetzt besser. Aber selbst erleben wollten sie so etwas doch nicht und waren froh, in einer besseren Zeit zu leben.

Wieder ging ein schöner Ferientag zu Ende. Langsam schlenderten sie gemeinsam zum Haus zurück. Die Vögel hatten sich bereits zu ihren Schlafplätzen begeben und der Wind wehte nur noch lau. Ganz leise plätscherten die letzten Wellen des Tages am Ufer des Wiedesee. Der nahende Abend strömte eine wohltuende Ruhe aus.

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2024

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