Es war Heiligabend. Draußen war es unangenehm kalt. Es wurde langsam dunkel. Ein eisiger Wind fegte durch die leeren Straßen der kleinen Stadt. Er wirbelte ein paar vereinzelte Schneeflocken durch die Luft. Die Geschäfte waren längst geschlossen, nur die Dekorationen in den Schaufenstern kündeten noch vom vergangenen hektischen Kaufrausch, der von Jahr zu Jahr immer größere Ausmaße annahm und dazu noch in jedem Jahr zeitiger begann. Der Weihnachtsmarkt war schon geschlossen. Ein kalter Geruch von Bratwurst und Glühwein schwebte noch zwischen den bunten Bretterbuden, deren geschlossene Läden leise klapperten, wenn der Wind sich darin verfing. In den Häusern gingen die Lichter an, bunte Lichterketten flammten auf. Auch die beleuchteten Schwibbögen aus dem Erzgebirge und die Herrnhuter Sterne in den Fenstern verbreiteten Vorfreude auf die Bescherung sowie eine friedliche Abendstimmung. Die Eltern waren mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt. Die Kinder warteten ungeduldig wie in jedem Jahr in ihren Zimmern auf ihre Geschenke. Einige hatten sich schon eine Schere oder ein Taschenmesser bereitgelegt, um sich damit der oft kunstvollen Verpackungen möglichst schnell entledigen zu können. Sie schauten nervös auf die Uhren. Die Zeit tropfte viel zu langsam dahin, bis sie nun endlich die gute Stube mit dem großen Weihnachtsbaum betreten durften.
Auf einer Bank vor dem Rathaus saß an diesem frühen Abend, gegen halb fünf fröstelnd und einsam ein alter Mann. Es war Erwin Milde. Er war 85 und wohnte im Altersheim gegenüber. Seine Bekleidung war dürftig, denn er trug nur das, was er tagsüber üblicherweise im Hause anhatte. Sein Hemd, die Strickjacke sowie die Freizeithose schützten ihn kaum vor dem kalten böhmischen Wind, der über den Erzgebirgskamm kommend in das Elbtal pfiff. Seine Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben, die Füße steckten in dünnen Söckchen. Die braun-gelb karierten Pantoffeln wärmten ihn auch nicht. Seine dünnen Kopfhaare wirbelten wild umher. Aus der rechten Hosentasche lugte ein bunter Tuchzipfel hervor. Der Mann fror erbärmlich. Er hustete hin und wieder und wusste nicht so recht, warum er hier in der Kälte saß. Er war schon etwas verwirrt und vergesslich geworden, konnte sich oft nicht an das erinnern, was kürzlich war. Bei länger zurückliegenden Ereignissen war das anders. Mühsam war er mit ganz kleinen Schritten vor einer halben Stunde aus der naheliegenden 'Seniorenresidenz' gekommen, der eigentlich richtigerweise die Bezeichnung 'Altersheim' zustand. Die Bank vor dem Rathaus konnte er von seinem Zimmerfenster aus sehen. Erwin war quer über den großen beleuchteten Marktplatz getrippelt. Weiter war er nicht gekommen. Seine Beine wollten nicht mehr so recht gehorchen. Niemand aus der 'Residenz' bemerkte sein Fortgehen. Die Rezeption war nicht besetzt, als er das Haus verließ. Einer inneren Unruhe folgend, zog es Erwin Milde an diesem Abend nach draußen, obwohl sich alle Heimbewohner nachmittags um fünf Uhr zur Weihnachtsfeier im weihnachtlich geschmückten Speiseraum einfinden sollten. Er hatte es vergessen. Nun saß er hier mutterseelenallein. Die Fenster der umliegenden Häuser waren beleuchtet. Die Menschen saßen in ihren warmen Zimmern und wussten nichts von ihm hier auf der Bank. Erwin Milde wohnte bereits seit mehreren Jahren in dieser "Seniorenresidenz" am Markt. Er teilte sich das Zimmer mit einem gewissen Fritz, der seit einer Woche bei seinen Kindern irgendwo in Bayern war. Sie hatten ihn mit dem Auto über die Feiertage zu sich geholt. Erwin vermisste ihn nicht sonderlich, weil sein Mitbewohner meistens teilnahmslos vor sich hinstarrend in seinem Sessel saß. Von links kommend hörte er jetzt ein paar Stimmen. Er schaute dahin. Ein paar Jugendliche kamen lärmend und sich gegenseitig schubsend an der Bank vorbei. Sie sahen den alten Mann neugierig an. Ohne ihn anzusprechen, gingen sie weiter. Sie hatten es offenbar eilig.
Erwin Milde erinnerte sich: Früher waren die Weihnachtsfeste schön. Da besorgte seine Anna die Leckereien zum Fest. Sie buk sogar einen Stollen. Gott weiß, woher sie die Zutaten hatte. Das Leben war damals nicht leicht. Die Leute waren bescheidener als heute. Sie hatten wenig, machten aber etwas daraus. Man half sich gegenseitig und war zufrieden. Die Kinder der Familie Milde, Walther, Werner und Ruth, gingen am Heiligabend nachmittags stets in die Kirche. Wenn sie gegen fünf Uhr zurückkamen, war rein zufällig der Weihnachtsmann gerade wieder fort und hatte für jeden eine Kleinigkeit dagelassen. Ruth bekam eine Puppe mit selbstgenähten Kleidern, Werner ein grünes Holzauto und Walther einen kleinen Metallbaukasten. Für alle drei hatte der Weihnachtsmann noch das Kinderbuch „Die silberne Brücke“ auf den Gabentisch gelegt. Etwas Süßes lag auch auf den drei gewellten Papptellern, deren weihnachtliches Bild immer besser zu sehen war, je leerer er wurde. Aus dem alten Olympia-Radio knisterte leise weihnachtliche Musik. Manchmal sangen sie mit. Das war schön. Später gab es den üblichen Kartoffelsalat mit Würstchen. Anna hatte ihre bunte Stola um die Schultern gehängt. Erwin schenkte sie ihr einmal zu Weihnachten. Sie trug das gute Stück nur zu besonderen Anlässen. Der Weihnachtsbaum hatte früher noch richtige Kerzen, die oft tropften. Dann legte Anna schnell eine alte Zeitung darunter. Der alte Mann lächelte, als er daran dachte. Er zog die Strickjacke über seiner Brust fröstelnd zusammen. Seine Frau war vor fünf Jahren gestorben, die Kinder hatten das Land verlassen. Sie lebten jetzt irgendwo weit weg von zu Hause. Dort hatten sie Arbeit und ihr Auskommen. Die Tochter Ruth arbeitete als kaufmännische Leiterin in irgendeinem Konzern, der ältere Sohn Walther war als Immobilienmakler erfolgreich, wie er schrieb. Der jüngere Sohn Werner war als angesehener Autohändler mit 3 Filialen selbständig und hatte kaum eine freie Minute. Richtige Familien konnten alle drei nicht gründen. Dafür war wohl keine Zeit. Anscheinend waren sie aber glücklich damit. Das sagten sie zumindest. Hier ging ja alles den Bach runter. Anfangs kamen sie noch aller Vierteljahre zu einem Wochenendbesuch mit ihren großen Autos hergebraust. Das wurde aber immer seltener. Schließlich brachte die Post Frau nur noch Karten zum Geburtstag, zu Ostern sowie zu Weihnachten. Sie hatten eben viel zu tun. Kürzlich wollte der Große dem Vater sogar ein Smartphone schenken und schwärmte ihm etwas von "Wotsep" vor. Davon wollte Erwin aber nichts wissen.
Mitten in seinen Gedanken versunken, hielt plötzlich ein Auto vor der Bank. Erwin hob langsam seinen Kopf als wenn es ihm schwerfallen würde. Ein Mann stieg aus. Er ging die paar Schritte auf Erwin zu. "Geht es Ihnen nicht gut?", fragte er freundlich: "Kann ich Ihnen helfen?" und nach einer kleinen Pause: "Sind Sie aus dem Altersheim da drüben?" Er beugte sich etwas herunter und zeigte hinüber. Erwin Milde blickte den fremden Mann an. Der nickte nur leicht. Man konnte diese Geste wohl mehr als einen flüchtigen Gruß werten als eine Antwort. Offensichtlich hatte er die Frage nicht so richtig verstanden, vermutete der Autofahrer. „Kommen Sie, ich bringe Sie zurück. Hier können Sie doch nicht bleiben!“ Er berührte Erwin an den Schultern. Der zuckte erschrocken zurück und stammelte: „Nein, dahin gehe ich nicht mehr, ich will zu meiner Anna.“ Er machte sich steif. Etwas unbeholfen versuchte der fremde Mann noch einmal, auf ihn einzureden. Er fragte, wo denn die Anna wohnte. Er merkte aber bald, dass dieser nicht mehr zu bewegen war, eine Antwort zu geben. Der Mann versuchte nun, den Alten von der Bank hochzuziehen: "Kommen Sie bitte!" Das ging aber trotz Hilfe seiner Frau nicht, die inzwischen hinzugekommen war. Die Kälte war wohl schon weit in die alten Glieder gefahren, sodass der alte Mann nicht mehr stehen konnte. Er sackte bei jedem Versuch, ihm hoch zu helfen, wieder auf die Bank zurück. Das Ehepaar versuchte es eine Weile weiter. Als das nicht half, fuhr der Mann sein Auto dicht an die Bank heran und mit vereinten Kräften gelang es ihnen schließlich, den alten Mann auf die Hinterbank zu setzen. Sie wickelten ihn in eine große Decke ein. Er lehnte sich in die weichen Polster zurück und brachte ein leises "Danke" hervor.
Im Altersheim herrschte große Aufregung, nachdem Erwin nicht im Speisesaal erschienen war. Man fand ihn im ganzen Haus nicht. Die hektische Suchaktion des Personals wurde vor einer halben Stunde ergebnislos abgebrochen. Die benachrichtigte Polizei war noch nicht eingetroffen. Man wartete, befragte die Insassen des Heimes, man beriet die weiteren Schritte. Die Dame von der Rezeption war immer noch schockiert. Sie konnte sich ihre kurze Abwesenheit nicht verzeihen. Dann sah sie, wie ein Auto vor dem Eingang hielt. Sie hatte Freudentränen in den Augen als das Ehepaar mit dem Gesuchten vor dem Tresen stand. Dem alten Manne aber standen ebenfalls die Tränen in den Augen. Er wiederholte immer leiser werdend, schließlich wimmernd, dass er nicht in den Speisesaal wollte, sondern zu seiner Anna. Das Ehepaar, nennen wir es Frau und Herr Liebetraut, schaute sich etwas ratlos an. Sie überlegten, was sie tun, wie sie helfen konnten. Eigentlich waren sie auf dem Weg zu ihren Kindern. Sie wollten diese und ihre zwei Enkel, wie jedes Jahr üblich, gegen siebzehn Uhr bescheren. Der geräumige Kofferraum war mit den liebevoll verpackten Geschenken für sie bis oben gefüllt.
Inzwischen hatten sich zwei Pflegerinnen, ein paar neugierige Bewohner sowie auch die Leiterin des Heimes an der Rezeption eingefunden. Man sah auch ihnen ihre Erleichterung an. Die Pflegerinnen kümmerten sich sofort fürsorglich um Erwin, während die Leiterin vom Ehepaar erfuhr, was sich zugetragen hatte. Die Liebetrauts erklärten sich bereit, sich um den Alten zu kümmern. Er sollte an diesem Heiligen Abend ein paar unvergessliche Stunden in Geborgenheit, Wärme und Liebe erleben. Danach würde man ihn wieder zurückbringen. Die Leiterin des Heimes lehnte das zunächst ab. Nach einem kurzen Hin und Her wurden aber ihre Bedenken ausgeräumt. Sie stimmte schließlich zu. Eine Pflegerin holte aus Erwins Zimmer ein paar warme Sachen, auch die Tabletten für den Abend. Dann telefonierte Frau Liebetraut mit ihren Kindern. Die würden bestimmt schon warten. Mit ein paar Worten war alles gesagt. Die Enkelkinder zeigten am Ende auch Verständnis für die etwas spätere Bescherung. Erwin, der das alles verfolgte, wurde zusehends lockerer. Seine Traurigkeit schien zu weichen. Er lächelte, als er wieder auf dem Rücksitz des Autos Platz nahm.
Dann begann die Fahrt zu den Kindern mit einer großen Runde durch die weihnachtlich geschmückte Stadt, die ihr Gast sicher jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Als sie ihm das sagten, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er bedankte sich zum Erstaunen der Liebetrauts mit klarer Stimme: "Das freut mich sehr. Ich habe die Stadt lange nicht mehr sehen können. Das ist ein besonders schönes Geschenk für mich. Vielen Dank." Dann schwieg er. Er dachte an seine Frau, an die Kinder, dabei besonders daran, wie schön es wäre, wenn sie das gemeinsam erleben könnten und schaute interessiert aus dem Fenster. Herr Liebetraut fuhr gemächlich kreuz und quer durch die weihnachtlich geschmückten Straßen der Stadt. Die Frau hatte das Radio eingeschaltet. Leise erklangen die alten deutschen Weihnachtslieder. Erwin Milde saß hinten warm eingemummelt. Er genoss regelrecht die langsam vorbeiziehende geschmückte Weihnachtsstadt. Seine Gesichtszüge hatten sich geglättet, die Angst vor dem Alleinsein im Altersheim war offensichtlich verflogen. Es gab immer neue Eindrücke: die zwei großen Weihnachtsbäume vor dem Bahnhof, die Weihnachtsmänner an den vier Ecken des Kaufhauses, die vielen erleuchteten Fenster, der große Schwibbogen vor dem Museum und so weiter. Leise und gleichmäßig summte das Auto.
Immer weiter fuhr das Ehepaar mit dem alten Mann durch die Stadt. Überall war weihnachtlicher Schmuck zu sehen. Erwin erkannte die Straßenzüge, Plätze, Gebäude und Brücken. Er wies auf seine alte Schule, auf die Kirche in der er getauft und konfirmiert wurde; erzählte von Tanzsälen, die am Wege lagen sowie vom Theater und den Kinos, die er mit Anna besucht hatte; zeigte auf das Gebäude, in dem er seinen Beruf erlernte und so weiter. Dann kam der Höhepunkt der weihnachtlichen Fahrt. Der nördliche Stadtrand war durch eine Hügelkette begrenzt. An den Hängen wurde vor über hundert Jahren Wein angebaut. Dann kam die Reblaus. Ein Teil der Weinberge wurde später wieder kultiviert. Urige Weingaststätten entstanden neu.
Von der Carolahöhe konnte man die ganze Stadt überblicken. Das Auto der Liebetrauts schaffte die zwölfprozentige Steigung dorthin mit Leichtigkeit. Am Aussichtspunkt angekommen, stiegen sie aus. Erwin brauchte dazu keine Hilfe. Unter ihnen lag die hell erleuchtete Stadt wie ein Geschenk. Sie waren nicht die Einzigen dort oben, die sich am Ausblick erfreuten. Die "Spitzenhütte", ein Hotel nebenan, war hell erleuchtet. Ein Posaunenchor war auch draußen gut zu hören. Einige Gäste sangen laut mit. Der Wein war offensichtlich in diesem Jahr wieder gut. Es musste wohl eine Reisegruppe sein, denn vor dem Eingang der "Spitzenhütte" parkte ein großer Bus. Für die Liebetrauts wurde es langsam Zeit, den Weg zu ihren Kindern anzutreten.
Kurz nachdem die Liebetrauts mit ihrem Gast ihre weihnachtliche Rundfahrt durch die Stadt begannen, ging ein hochgewachsener Mann mittleren Alters mit selbstbewussten Schritten quer über den Marktplatz. Sein Mantelkragen war hochgeklappt. Mit einer Hand bewahrte er seinen Hut vor dem Davonfliegen. Die andere Hand umklammerte den Griff einer schmalen Aktentasche. Für die geschlossenen Weihnachtsbuden zeigte er kein Interesse. Der Mann hatte einen weiten Weg durch die Stadt hinter sich. Die 397 Stufen, die zwischen zwei Weinbergen vom Hotel hinunter zur Stadt führten, waren beschwerlich. Schon auf der halben Strecke begannen seine gestauchten Kniegelenke zu schmerzen. Der anschließende Weg zur Haltestelle der Straßenbahn der Linie 4 war eine Sache von zehn Minuten. Die Tram brauchte eine halbe Stunde bis zum Markt. Wenn alles klappte, wollte er bis 22 Uhr wieder bei seiner Reisegruppe sein. Er hatte sich beim Reiseleiter bis dahin abgemeldet, hatte ohnehin nicht die Absicht, sich an der Weihnachtsfeier zu beteiligen, obwohl ihn der angekündigte Posaunenchor reizte. Auch auf die Tagesausflüge wollte er verzichten. Er benutzte diese Kurzreise über die Feiertage lediglich, um auf bequeme Art und Weise hierherzukommen und sich die nervige Autobahnfahrt mit dem eigenen Auto zu ersparen. Im Bus gab es zudem einen WLAN-Anschluss, so dass er außerdem die Fahrzeit gut nutzen konnte, um seine Geschäfte weiter zu ordnen. Das war nötig, denn er wollte sein Leben grundsätzlich verändern. Die Zeit war reif, etwas Neues zu beginnen und die Familie in den Vordergrund zu rücken, anstatt ständig gewinnorientiert und oft am Rande des Erlaubten, in der Fremde als Immobilienmakler dem Gelde hinterher zu laufen. Als er vor einigen Jahren „rübermachte“, gab ihm sein hier ansässiger Cousin drei Ratschläge: „Überlege stets, wie du an das Geld anderer kommen kannst, lasse andere für dich arbeiten.“ Weiter empfahl er ihm, alle Tricks zu beherrschen, um als Immobilienmakler den Verkäufern und Käufern das Geld aus der Tasche ziehen zu können. So würde er an jeder Transaktion eine Menge Geld ohne große körperliche und geistige Anstrengung, verdienen.
Im Laufe der Zeit beherrschte er zwar alle diese Tricks, tat sich aber schwer, sie anzuwenden. So war er nicht erzogen worden. Trotzdem reichte sein hier entstandenes Vermögen für seine jetzigen Pläne. Eine richtige Familie hatte er dafür nicht. Es langte immer nur für flüchtige Bekanntschaften. Auch wenn er an seinen Vater dachte, bekam er ein schlechtes Gewissen. So reifte langsam die Erkenntnis, dass die Familie doch das Wichtigste im Leben ist. Außerdem wollte sich aus dem gleichen Grund sein Bruder Werner an seinem Vorhaben beteiligen. Auch er hatte sein jetziges Leben satt und wollte sich verändern.
Das Vorhaben der Brüder hatte inzwischen schon Gestalt angenommen. Der Mann konnte nämlich hier in seiner Heimatstadt ein besonderes Grundstück erwerben. Grundstücke dieser Art werden in der Regel vererbt und nicht verkauft, wusste er. Wenn doch, dann geschieht das nicht öffentlich. Man musste Glück und Beziehungen haben, um in der gehobenen Winzerbranche Fuß zu fassen. Insofern war der Mann sehr zufrieden, dass er sowie sein Bruder im Elbtal einen Weinberg und eine dazugehörige Villa mit 4 Wohnungen plus Nebengebäude erwerben konnte, weil keine Erben vorhanden waren. In der Villa „Rosemarie“, die sich oberhalb des Weinberges in der Nähe der „Spitzenhütte“ befand, waren schon die Handwerker zugegen. Dem Einzug stand nichts mehr im Wege. Ein ausgebildeter Winzer hatte bereits seinen Arbeitsvertrag unterschrieben. Er würde sich um die fachlichen Dinge und um die einzustellenden Stamm- und Saisonkräfte kümmern. Für den kaufmännischen Teil hatte seine Schwester Ruth Interesse signalisiert. Auch die Auflösung seiner bisherigen Bindungen und Verpflichtungen waren gut vorangekommen. Ganz aufgeben wollte er die Maklertätigkeit aber nicht, solange der Weinberg noch nicht genügend abwarf. Das Internet machte die Heimarbeit möglich. Für die Besichtigungstermine vor Ort hatte sich sein Cousin zur Verfügung gestellt.
Vor der verschlossenen Tür der Seniorenresidenz angekommen, betätigte der Mann mit der Aktentasche, in der sich beglaubigte Papiere befanden, den löwenähnlichen eisernen Klopfer. Bereits beim Heranziehen erklangen drei abgestimmte Glockentöne: "KLING-KLANG-KLONG." Die Concierge vermutete die Polizei. Sie erschrak, weil sie vergaß, dort anzurufen, um die Vermisstenanzeige als erledigt zu melden. Sie öffnete die Tür einen Spalt, sah den großen Mann mehr als Schatten vor sich und fragte schuldbewusst: "Bitte?" Ihr Gegenüber lupfte altmodisch seinen Hut und stellte sich vor: "Guten Abend! Mein Name ist Walther Milde. Ich möchte meinen Vater, Erwin Milde, sprechen. Darf ich 'reinkommen?"
Die Concierge antwortete zunächst nicht, sondern bat den Mann, sich auszuweisen. Verständnisvoll zeigte er ihr seinen Personalausweis. Sie schaute nur flüchtig darauf. "Herr Milde ist leider nicht da. Er müsste aber gegen 21 Uhr zurückkommen. Da beginnt unsere Nachtschicht. Er feiert bei einer Familie den Heiligen Abend", sagte sie und bat ihn herein, denn er wollte hier auf seinen Vater warten.
Eine herbeigerufene Pflegerin nahm ihn in den Speisesaal mit, in der die Weihnachtsfeier für die Senioren bereits im vollen Gange war. Man hatte dazu vier Tische zu einem großen Quadrat zusammengestellt. An jeder Seite saßen, ähnlich wie an einem runden Tisch, vier Senioren auf Stühlen, drei davon in Rollstühlen. Ringsherum waren weihnachtlich geschmückte Raumteiler aufgestellt und auf dem großen zusammengesetzten Tisch lag eine grün-rote Decke mit einer aufgedruckten Tannenzweig-Borte. Mehrere Kerzen gaben ein warmes Licht. Vor jedem Platz standen Teller mit Kartoffelsalat und Würstchen, drei verschiedene Gläser und ein roter gefüllter Stoffbeutel mit einem Geschenk. Neben einigen Tellern lagen Tabletten. Leise Weihnachtsmusik kam aus einer Lautsprecher-Rolle. Die Pflegerinnen hatten sich große Mühe gegeben, um eine weihnachtlich-heimelige Atmosphäre zu schaffen. Die Runde schaute kurz neugierig auf den Ankömmling und nickte ihm freundlich zu. Ein Stuhl wurde geholt. Walther Milde wurde gebeten, sich zu ihnen zu setzen. Auch er bekam einen Teller mit Kartoffelsalat mit ein paar Wiener sowie ein Glas Bowle und den Stoffbeutel. Dann ging das gemeinsame Essen mit Geraune und dem Klappern der Bestecke weiter. Nach einer Weile wurde die Musik leiser gestellt. Jemand stieß mit dem Messerrücken an ein Glas. Der helle Klang ließ alle aufhorchen. Einige Alte fummelten an ihren Ohrhörern herum. Die jüngste Pflegerin trug ein lustiges Gedicht vor, das mit Lachen und Beifall quittiert wurde. Dann waren wieder die Bestecke zu hören. Später stand ein alter Mann mit einem grauen Vollbart auf und hängte sich eine Gitarre um. Er sang mit einer tiefen, angenehm warmen Stimme das Lied von der Heiligen Nacht. Alle Anwesenden hörten ergriffen zu. Niemand sagte ein Wort, auch nicht gleich, als das Stück zu Ende war. Dann setzte, zunächst zögernd, dann kräftiger, der Applaus ein. Das kleine Fest ging noch eine Stunde weiter. Eine Weihnachtsgeschichte wurde vorgetragen. Man sang und unterhielt sich, wobei die Kerzen langsam herunterbrannten. Nach und nach verließen die ersten die Runde. Das Alter verlangte seine Ruhe. Im Speisesaal wurde es stiller und die zwei Pflegerinnen bekamen zu tun. Walther Milde half mit abzuräumen und die Tischanordnung für das Frühstück wiederherzustellen. Er war innerlich berührt von dem, was er hier miterlebte.
Der kleine Zeiger der Uhr ging auf die Neun zu als Erwin Milde von den Liebetrauts in die Residenz zurückgebracht wurde. Als ihm sein Sohn entgegenkam, nahm er ihn wortlos in die Arme. Er schien wie gewandelt. Die Zeit bei den Liebetrauts hatte ihm gutgetan. Er fühlte sich im Kreise der fremden Familie sofort heimisch und gut aufgehoben. Hier hatte er die gleichen weihnachtlichen Gefühle wie damals zu Hause.
Die Erinnerung an seine Familie machte ihn aber traurig. Im Verlaufe des Abends war seine anfängliche Verwirrung auf wundervolle Art und Weise gewichen. Davon erzählend, führte er seinen Sohn in das Besucherzimmer. Nachdem sich der Vater etwas beruhigt hatte, eröffnete ihm Walther behutsam nach und nach seine Absicht, in Kürze nach Hause zurückzukehren. Der Alte war von dieser Eröffnung überrascht und glücklich zugleich. Er konnte es kaum fassen. Es war ja nicht so, dass es ihm im Altersheim schlecht ging. Nein, gewiss nicht! Die Pflegerinnen gaben sich die größte Mühe, obwohl man oft ihre Überlastung und Hast merkte. Dazu kam, dass es ringsum nur alte Menschen gab, die sich oft zurückzogen. Interessante Gespräche kamen kaum zustande. Es ging immer nur um Krankheiten, Beschwerden oder wie man sich heute fühlt. Das stumpfte ab. Den täglich gleichen Ablauf empfand Erwin auch wie ein Korsett. Wichtige Tagesziele waren die Mahlzeiten, die Mittagsruhe, die Einnahme der Tabletten sowie die Nachtruhe. Er hatte aber auch die Einsicht, dass ein Mehr an Zuwendung und Abwechselung nicht möglich war und gab sich mit der täglichen ‚Abfertigung‘, wie er das nannte, zufrieden. Es fehlte eben an Personal. Zu seinem Sohn sagte er aber: „Das ist ja mal eine gute Nachricht. Ich freue mich, dass du wiederkommst. Hast du dir das auch gut überlegt?“
Walther nickte mit dem Kopf. Er antwortete: „Ja, es ist alles schon geregelt. Ich habe mit meinem Bruder sowie meiner Schwester alles besprochen. Unser Umzug steht unmittelbar bevor. Wir bringen alle noch eine besondere Überraschung mit.“
„Was, Werner will auch zurück? Was denn für eine Überraschung?“, entfuhr es dem Alten.
Wieder nickte Walther: „Ja, auch Werner kommt zurück und wahrscheinlich auch Ruth. Die erwähnte Überraschung soll ja eine bleiben. Warte also ab, bis es soweit ist. Du wirst es erfahren.“
Erwin Milde musste die Neuigkeiten erst einmal verdauen, obwohl ihm sein Sohn noch nicht das, was ihn direkt betraf, verraten hatte. Das Gespräch dauerte noch eine ganze Weile bis der alte Mann nach und nach vom Weinberg neben der „Spitzenhütte“ erfuhr und von der Villa „Rosemarie“, in der er auch eine kleine Wohnung beziehen sollte. Walther zeigte ihm ein paar Fotos und einige Dokumente aus seiner Aktentasche, darunter auch ein Schreiben an die Leiterin der Seniorenresidenz mit der Kündigung seines Platzes. An alles war gedacht.
Die Beiden saßen noch eine Weile zusammen. Sie sprachen über Dieses und Jenes. Erwin stellte noch ein paar Fragen zum Umzug, der einen Tag vor Silvester über die Bühne gehen sollte. Aber auch das war kein Problem. Er musste ja nicht viel mitzunehmen. Sein Sohn verabschiedete sich für heute und versprach, morgen wieder zu kommen. Er wollte gleich mit einem Taxi zurückfahren, vor allem um sich die 397 Stufen hoch zur „Spitzenhütte“ zu ersparen.
Erwin Milde konnte lange nicht einschlafen. Ihm ging alles durch den Kopf, was er heute zum Heiligen Abend erlebt hatte. Und dann stand noch eine Überraschung bevor, die sein Großer andeutete. Was mag das nur sein? An so ein Weihnachtsgeschenk hatte Erwin Milde nicht einmal in seinen Träumen gedacht: Die Familie kommt wieder zusammen, und das in einer Villa, in der er auch wohnen konnte. Es war für ihn einfach unfassbar.
8
Der vorletzte Tag des Jahres war herangekommen. Der Wettergott meinte es gnädig. Die Pflegerinnen hatten ihm beim Zusammenpacken der persönlichen Sachen geholfen. Nach dem Frühstück standen seine drei Koffer und seine Reisetasche an der Rezeption. Erwin Milde saß daneben. Er wartete auf das Taxi. Beim gestrigen Abendessen wurde er durch die Leiterin des Heimes offiziell verabschiedet. Ein wenig aufgeregt war er da schon, auch etwas schwermütig. Jetzt kam dieses Gefühl wieder. Ein paar Heimbewohner hatten sich an der Rezeption eingefunden. Es war ja nicht alltäglich, dass jemand fortging. Dann ging alles schnell. Der gelbe Mercedes mit den Taxischild auf dem Dach fuhr vor. Der Fahrer lud die Koffer ein und hielt die Beifahrertür auf. Die Anwesenden winkten Erwin zu. Dann rollte der Wagen fast lautlos eine halbe Runde um den Markt, an ‚seiner‘ Bank am Rathaus vorbei, und verschwand zwischen den Häusern.
Das aufwändig verzierte eiserne Gittertor der Villa „Rosemarie“ stand offen als Erwins Taxi in das Grundstück einbog. Erwin stieg aus, während der Fahrer sich um das Gepäck kümmerte. Vor dem Eingang der Villa standen seine zwei Söhne sowie seine Tochter Ruth mit zwei ihm unbekannten Frauen und einem ebenso unbekannten Mann. Die Kinder begrüßten ihren Vater herzlich. Dann stellte der Große die anderen vor: „Das hier ist Christa, meine künftige Frau, dahinter Roswitha, die künftige Frau von Werner und dieser Mann hier heißt Jürgen, den Ruth für sich an Land gezogen hat.“ Die letzte Bemerkung löste bei allen ein Lächeln aus. Es sah auch so aus, als wenn sich die drei Vorgestellten schon länger kennen würden. Später erfuhr er, dass sie damals auch „rübergemacht“ sind. Das ist also die große Überraschung, von der Walther gesprochen hatte, dachte sich der Alte erfreut und reichte den drei neuen Familienmitgliedern die Hand.
Dann bezog er seine kleine möblierte Wohnung im Parterre. Sie bestand aus zwei Zimmern, Bad und Küche. Vom Wohnzimmer aus konnte er eine Terrasse betreten, die ihm einen herrlichen Ausblick auf den abfallenden Hang des Weinberges und die Stadt bot, die sich weit unten im Tal ausbreitete. Das erste Mittagessen sollte in einer Stunde im gemeinsamen Familienzimmer stattfinden. Es befand sich ebenfalls im Parterre. Dort würde auch morgen die gemeinsame Silvesterfeier sein. Erwin Milde nahm die bunte Stola seiner Frau und ihr Bild aus einem Koffer, wischte mit dem Ärmel darüber und stellte es vorsichtig auf das Buffett. Er faltete die Stola zusammen, strich noch einmal darüber und legte sie daneben. Später würde er das Bild vielleicht an einem geeigneten Platz an die Wand hängen oder in eine Art Gedenk-Ecke stellen, wo noch Platz für die Stola und eine Blumenvase war.
Die Villa „Rosemarie“ hatte neue Bewohner. Familie Milde waren wieder vereint.
Ende
Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2024
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