Fünf oder sechs Jahre war ich nicht mehr in der Stadt, in der ich geboren wurde und in der ich meine Kindheit und Jugend verbrachte. Es ist ja die Zeit, in der ein Mensch besonders geprägt wird, sagt man. Das nun diese besondere Prägung auch zu einer besonderen Bindung zu diesem Fleckchen Erde führte, ist eine logische Konsequenz. Dazu kommt noch, dass diese Stadt am Harz etwas Besonderes ist, zum einen auf Grund ihrer geschichtlichen Bedeutung, ihrer mittelalterlichen Bausubstanz, ihres Welterbetitels, ihrer Überschaubarkeit und zum anderen wegen ihrer manchmal etwas eigenwilligen, stolzen und sturen Bewohner, die aber sehr herzlich sein können, wenn man sie näher kennt. Ich schließe mich da nicht aus und mir kommt als Beleg ein Lied in den Sinn, dessen Text wir damals lauthals sangen: "Wir sind die Harzgebirgler, wir bilden uns was ein - es kann nicht jeder Harzer ein Quedlinburger sein ..." Jeder Quedlinburger kennt diesen Text und wenn nicht, ist er keiner.
Passend zum bisher Gesagten und zum Thema kommt mir auch die Reaktion meines Pensionswirtes in den Sinn, als ich ihm abends stolz erzählte, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einer richtig großen Kirchenorgel gespielt habe. Er sagt kurz: "Na, und?" und klopfte weiter auf dem Schnitzel herum, das es wohl zum Abendessen geben sollte. Ich sagte nichts mehr, obwohl, so schien es mir, er auf weitere Details wartete. Aber ich kannte das von ihm schon. Bei einem früheren Aufenthalt erzählte ich ihm, dass auf dem Weg nach Dippenword gerade ein Auto ausgebrannt sei. "Das wissen wir schon alles", war die kurze Antwort. So sind sie, die Quedlinburger.
Quedlinburg wirkt wie ein Magnet auf seine "Wechjeraasten" (Weggereisten). Das kommt immer wieder und übereinstimmend von mehreren ehemaligen Einwohnern zum Ausdruck. Früher war ich mindestens aller halben Jahre dort. Jetzt bremsen mich das fortgeschrittene Alter und die daraus folgenden Wehwehchen, vielleicht auch etwas die Bequemlichkeit. Außerdem komme ich mir auf der Autobahn wie im Krieg vor. Mein Bekannter in QLB, mit dem ich seit vielen Jahren regelmäßig E-Mails austausche und der mich über jedes Ereignis und jede Neuerung in "Welterbestadt Quedlinburg" ausführlich informiert, mahnte mich seit längerem, mich wieder einmal in der Heimat sehen zu lassen und wieder einmal mehrere ausführliche Stadtrundgänge zu unternehmen und mir die vielen positiven Veränderungen anzusehen:
Stadtrundgang
Alte Straßen, enge Gassen,
die Wege sind sehr schmal,
wollen mich kaum gehen lassen,
sind holprig noch zumal.
Fachwerkhäuser, Zwischengänge,
Hinterhöfe, dunkle Ecken,
aufgereiht in dichter Enge,
kann ich da entdecken.
Einmal um die Null zu gehen,
ist mir eine Pflicht,
öfters bleibe ich auch stehen,
genieße eine Sicht.
Bunte Erker, spitze Giebel,
Türen, Balken, reich geschnitzt.
Vor einem Haus riecht es nach Zwiebel
und nach Mehl, leicht angeschwitzt.
Ich sehe eine alte Mauer,
ein Denkmal auf dem Platz,
Hölle, Pölle, Stieg genauer,
die Altstadt ist ein Schatz.
Das Rathaus ist besonders schön
es kann sich sehen lassen.
Ich muss noch durch die Pforte geh´n,
den Festsaal nicht verpassen.
Im Brauhaus trinke ich ein Bier,
es schmeckt auf jedem Fall
und es kennt ein jeder hier
die Marke „Puparschknall“.
Der weitverzweigte Bodefluss
teilt die Stadt in Stücken.
Wer alles überwinden muss,
muss über 50 Brücken.
Weiter laufe ich zum Schloss,
dort oben auf dem Berge.
Der erste König und sein Tross,
gingen hier zu Werke.
Vom Schlosskrug schau ich auf die Stadt,
auf Häuser, Kirchen, Türme,
spür´ die Aura, die sie hat,
und der Zeiten Stürme.
Mein Bekannter war seit einiger Zeit Mitglied im Förderkreis der altehrwürdigen Aegidii-Kirche geworden und ging mit Begeisterung in dieser Mitgliedschaft auf. Und er lockte mich mit einer individuellen Führung durch die alten Gemäuer dieses sakralen Baues und mit der Möglichkeit, auf der erst kürzlich restaurierten und stadtältesten Orgel zu spielen. Damit traf er meinen Nerv empfindlich. Wer hat schon als Normalo dieses Glück? Ich hatte bis dahin noch nie auf einem so mächtigen Instrument gespielt, mir es aber immer gewünscht. Ein einfaches Stück würde ich mit meinen bescheidenen Keyboardfähigkeiten schon zu Wege bringen, natürlich unter Auslassung der hölzernen Fußpedale da unten, die nur mit sauberen Strümpfen betätigt werden dürfen. Diese Pedale waren mir suspekt, ich wollte sie aber einfach negieren und nur "oben" spielen. Und so war denn meine Visite im Sommer 2016 beschlossene Sache. Bis dahin wollte ich noch ein paar passende kirchliche Musikstücke üben und nicht gerade "Kalkutta liegt am Ganges" in die Wahl einbeziehen. "So nimm denn meine Hände" sollte aber schon dabei sein. Das hatten meine Eltern zu ihrer Trauung spielen lassen und ich habe es bei den Trauerfeiern für meine Mutter und meine Schwester zu Gehör bringen lassen:
So nimm denn meine Hände / und führe mich
bis an mein selig Ende / und ewiglich.
Ich mag allein nicht gehen, / nicht einen Schritt:
wo du wirst gehn und stehen, / da nimm mich mit.
Wir, meine Frau und ich, fuhren also wieder einmal mit dem Auto nach Quedlinburg. Der verabredete Tag war gekommen und fünf Minuten vor der verabredeten Zeit kreuzten wir vor der Kirche auf. Die Tür war verschlossen, innen brannte ein Licht und jemand hantierte da drinnen herum. Es war offensichtlich mein Bekannter. Pünktlich schloss er auf und wir begrüßten uns. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Er sah kerngesund, zufrieden und gut aus, kämpfte aber immer noch gegen ein paar Pfunde, die „unbedingt noch runter müssen“. Wir tauschten ein paar nette Worte aus und wir freuten uns über die Begegnung. Dann bat er uns in das Heiligtum hinein. Er schien mir etwas aufgeregt zu sein und ich verstand später auch warum. Er erzählte, dass die Kirche bis 1978 noch gemeindlich genutzt wurde. Danach verfiel die nördlichste und eine der ältesten Kirchen der Stadt immer mehr. Sie wurde unbenutzbar und es regnete herein. Gegenstände wurden in noch intakten Nebenräumen verstaut und teilweise auch ausgelagert. Die Feuchtigkeit griff die Wände, Decken und Fußböden und das Mobiliar an. Die Orgel war nicht mehr bespielbar. Die Turmuhr blieb stehen und der Glockenstuhl wurde morsch. Der alte Friedhof sah schlimm aus. Ich wohnte früher im Süden der Stadt und hatte keine besondere Verbindung zu dieser Kirche im Norden. Ich hatte diesen Stadtteil rund um die Goldstraße früher auch nie betreten. Man wusste nur, dass sich dort die Aegidiikirche in einem schlimmen Zustand befindet. Wir hatten es immer mit der Johanniskirche und der Nikolaikirche zu tun. Und jetzt stand ich in dieser Kirche und war beeindruckt von dem, was ich sah, was mein Bekannter sagte und von den Leistungen des Förderkreises, dem er nun angehörte. Wie ein routinierter Stadtführer informierte er uns über die Geschichte der Kirche, den Baustil der dreischiffigen Basilika, den spätgotischen zweiflügeligen Hochaltar, das Taufbecken, die Kanzel und das vergitterte Kirchengestühl, die eben erst fertiggewordene Sakristei, die Bilder und Glasfenster, Jahreszahlen, Namen und so weiter. Er muss sich sehr gut auf diese Führung vorbereitet haben und er wurde immer sicherer. Später sagte er uns, dass es seine allererste Kirchenführung in diesem Umfang war. Nun verstand ich auch seine leichte Aufregung bei der Begrüßung.
Wir sahen eine wieder voll funktionsfähige Kirche und wir waren total überrascht. Ich habe fotografiert, was ich konnte und ich gebe zu, auch mehrmals mit Blitz und bitte deswegen die Zuständigen um Verzeihung. Meine Frau durfte die Kanzel besteigen und das Foto davon ist besonders schön geworden. Wir haben durch die Fenster nach außen auf den alten Friedhof geschaut, wir haben uns in den Nebenräumen umgesehen, vorsichtig am Glockenseil gezogen und in dunkle Ecken geblickt und wir haben die restaurierte und älteste Orgel der Stadt und den restaurierten Kronenleuchter bewundert und von den immensen Kosten gehört und ich habe gesehen, dass dort, wo der Organist seinen Platz hat, schon das Licht brannte.
Wir hatten uns fast eine Stunde "unten" aufgehalten und ich ahnte, dass jetzt mein Part kommen würde. Wir erstiegen die Empore zur Orgel. Er hatte alles vorbereitet und schon alle Register rings um die zwei Manuale gezogen. Mir wurde warm und ich ließ, scheinbar unbeteiligt, erst einmal meinen Blick von oben in das Kirchenschiff schweifen. Dabei waren meine Knie pappweich und die Hände feucht. Als ich mich vorsichtig und etwas ungeschickt auf die Orgelbank setzte, knarrte es unter mir gewaltig und als ich die Finger ansetzte, zitterten sie vor Aufregung.
Aber das kannte ich schon von anderen „Musikpremieren“ mit dem Keyboard. Erwartungsvoll standen mein Bekannter und meine Frau etwas seitwärts hinter mir und starrten zudem noch auf erwartungsvoll auf meine Hände. Ich gab mir einen inneren Ruck und drückte im oberen Manual auf "G". Der klare Ton war kräftig, raumfüllend und hallend um mich. Dagegen war mein Keyboard eine Maus. Die linke Hand kam schnell dazu und ich spielte in C-Dur das Lied: "So nimm denn meine Hände und führe mich." In „C“ kann nicht viel schiefgehen, dachte ich mir. Bei dem Lied dachte ich auch an meine Hände, die im Augenblick der Orgel die Töne entlockten und hoffte auf Fehlerfreiheit. Und es klappte. Die Orgel gab ihr Bestes und ich auch. Mir war wie Weihnachten. Die ganze Luft um mich nahm die satten Töne in sich auf. Der Raum war von den Schwingungen total erfüllt und ich schwebte auf den Tönen mit.
Orgelmusik hat mich schon immer beeindruckt und mich oft zum Schlucken gebracht. Die zweite Strophe spielte ich kühn ausprobierend auf dem unteren Manual. Noch kräftiger und voller wurden die Töne, denn im oberen Manual bewegten sich die entsprechenden Tasten automatisch mit. Welch eine Mechanik! Ich war begeistert und ich glaube, meine zwei Zuhörer auch. Meine Füße aber ruhten auf der hölzernen Ablage oberhalb des Fußmanuals und ich vermied die Berührung mit den Pedalen. Einmal aber, ich konnte es nicht lassen, rutsche mein linker Zeh bei einem Schluss-C-Akkord auf ein tiefdröhndendes C-Pedal. Ich ließ ihn dort und hatte das Gefühl, dass der volle Basston den Fußboden erzittern ließ. Der anhaltende Brummton bildete zusammen mit den anderen einen guten Liedabschluss. Dann spielte ich abwechselnd die Strophen auf dem oberen Manual und den Refrain jeweils unten. Ich fand, so kam etwas Struktur hinein. Fachmänner mögen mir die laienhafte Schilderung und meine stümperhaften Versuche verzeihen. Aber so ist das oft, wenn man eine neue Bekanntschaft schließt. Ich habe alles vorsichtig und mit Gefühl gemacht und auch passende Stücke ausgesucht. Mit hochrotem Kopf bin ich von der Orgelbank gestiegen. Sie knarrte wieder und es schien mir, als wenn sie es zustimmend tat. Mein Bekannter hat uns dann noch das Gebläse gezeigt und dieses ausgeschaltet. Das andere würde er dann noch selbst in Ordnung bringen.
Dieses Orgelspiel war für mich ein tolles Erlebnis und ich hätte gern noch eine Weile geübt. Mein Bekannter unterbreitete mir listig den Vorschlag, wieder nach Quedlinburg zu ziehen, dann könne ich jeden Tag üben. Zum Glück fiel mir noch rechtzeitig ein, dass meine Digitalkamera über eine selektive Tonaufnahmefunktion verfügt. So habe ich nun eine schöne Erinnerung an dieses "besondere Orgelkonzert" in Form mehrerer Dateien im jpg- und mp3-Format. Letztere habe ich mit einem Studioprogramm noch etwas bearbeitet, ehrlich gesagt, einige Patzer korrigiert. Das darf man doch beim ersten Mal, oder? Ob ich nun wieder nach Quedlinburg ziehe oder mir hier in Dresden eine eigene Orgel kaufe, weiß ich noch nicht. Danke, Christian! Danke, Förderkreis!
Nein, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Jetzt kam das nächste Highlight, der Aufstieg in den Glockenturm. Christian machte uns aufmerksam, was auf uns zukommen würde, mahnte zur Vor- und Umsicht und belehrte uns, nur das zu tun, was er uns sagte und fragte uns, ob wir uns das gesundheitlich zutrauen würden. Meine Frau gab auf Höhe des Dachstuhles vom Kirchenschiff auf, dort wo ich trotz „seid mal ganz leise“ die Fledermäuse nicht hörte. Vielleicht hätte man den Aufstieg doch vor dem Orgelspiel machen sollen. Wir stiegen also zu Zweit weiter nach oben. Die Treppe wurde steiler und enger. Man musste beim Setzen der Füße aufpassen und man musste sich an den Handläufen links und rechts Stufe für Stufe regelrecht kraftvoll hochziehen. Zudem war die Beleuchtung schwach.
Ich erinnerte mich an meine letzten mutigen Kirchturmbesteigungen. Die waren 1962. Die Firma Spröggel bekam damals den Auftrag, vier Harzkirchen im Altkreis Quedlinburg mit Blitzschutzanlagen zu versehen. Ich durfte als Elektrikerlehrling mitarbeiten und habe auch die Wetterfahnen angeschlossen. Dabei stand ich gesichert auf einer Anlegeleiter, die ganz oben zwischen letzter Luke und Spitze auf dem Dach befestigt war. Die Türme waren zwar nicht so hoch wie dieser hier, aber man musste schon sehr schwindelfrei sein.
Die Schilderung dieser Blitzschutzaktion von 1962 überzeugte wohl auch Christian von meiner Schwindelfreiheit, als er mich danach fragte. Hier waren jetzt noch zwei lange, enge und steile Stufenleitern bis zum Glockenstuhl zu erklimmen. Wir kamen vorher auch an einem kleinen Raum vorbei, indem ein altes Zifferblatt mit stark angerosteten Rändern an der Wand lehnte. Daneben stand ein kleiner Opferstock und ein Schild daran bat um eine Spende, um die noch fehlende Turmuhr wieder einzubauen zu können. Um dieses Projekt kümmerte sich Christian besonders und er informierte mich vom Stand der Dinge.
Endlich waren wir oben. Die „Große Glocke“ hing fast raumfüllend still in ihrem Gebälk, das man Kastenglockenstuhl nennt. Es wäre die tontiefste in der Stadt, sagte mein Bekannter und schlug zum Beweis den Klöppel einmal an. Die Glocke gab einen lang nachschwingenden tiefen Ton von sich. Ein starkes Drahtseil hing von ihr nach unten und verschwand in einer Fußbodenöffnung. Weiter unten war dann das neue richtige Hanfseil daran befestigt, das in der Glockenstube endete. Ein durchgängiges Seil wäre im Augenblick zu teuer, meinte Christian. Aber so ginge es auch erst einmal. Einen elektrischen Antrieb könne man sich im Augenblick auch nicht leisten. Nebenan hing noch eine kleine Glocke, die „Stimmglocke“. Die hatte einen elektrischen Antrieb. Eine Läuteordnung legte fest, wann welche Glocke zu erklingen hat. Es war alles geregelt. Wir mussten durch und über mehrere Querbalken steigen, bevor wir an die Fensterläden kamen. Und die wurden nun geöffnet. Es bot sich mir ein herrlicher und so noch nie gesehener klarer Ausblick auf die anliegenden Straßenzüge, die ganze Stadt, die Umgebung und besonders auf den gesamten Ostharz. Besonders beeindruckend war der Blick nach Süden. Man kennt ja meistens den Ausblick vom Schloss in Richtung Norden und wir „Süderstädtler“ den Blick auf die Stadt vom „Brockenblick“ oder vom „Johannisturm“ her. Aber dieser hier war für mich neu und unsagbar schön. Die vielen Fotos, die ich von dort oben machte, beweisen das. Noch eine Weile genossen wir diese Aussicht, deuteten dieses und jenes Gebäude und mehrere Harzberge. Dann wurde es Zeit für den Abstieg, wartete doch meine Frau irgendwo da unten auf uns.
Ende
Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: Wolf Rebelow
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2024
Alle Rechte vorbehalten