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Der Besuch

Meine Schwester hat seit drei Jahren ein Einzelzimmer. Wir, meine Tochter und ich, besuchen sie wieder einmal nach viel zu langer Zeit. Ich sitze links neben ihrem Bett auf einem Stuhl, den ich nach meiner Ankunft herangerückt hatte. Ich halte ihre linke Hand mit meiner linken und streichele ihre Wange mit meiner rechten. Sie schaut mich nicht an, sondern blickt auf irgendeinen Punkt an der Zimmerdecke. Ihre Haut ist trotz ihrer 75 Jahre und den Strapazen der langen Krankheit immer noch auffallend glatt und weich. Die Pflegerin sagte uns vorhin, dass sie heute keinen guten Tag hat und laufend vor sich hin schimpft. Jetzt ist sie aber ruhig. Vielleicht bemerkt sie uns. Vielleicht kann sie uns auch irgendwie zuordnen. Meine Tochter sitzt schweigsam mir gegenüber und schaut ihre Tante an. Ich bin dankbar, dass sie die 200 km mit ihrem Auto gefahren ist und mich mitgenommen hat. Ich hätte sonst bestimmt wieder einen Grund gefunden, die Fahrt zu verschieben und mir wieder ein schlechtes Gewissen eingehandelt.

 

Früher war mir die Strecke ein Klacks. Aber auf der Autobahn komme ich mir neuerdings wie im Krieg vor und meide sie, wenn möglich. Die letzte Rückfahrt hatte wegen vieler Baustellen und einiger Staus fünf Stunden gedauert. Auf der Hinfahrt gab es zwei lange, nervende Umleitungen. Eine Bahnfahrt wäre mir aber auch zu umständlich. Man muss in Berlin umsteigen, wobei der Anschlusszug planmäßig gerade weg ist. Jedes Mal eine halbe Stunde zum und vom Bahnhof kommen auch noch dazu. Die Kartenautomaten nerven mit ihrem Tarifgewirr zusätzlich. Bahn ist keine Option. Früher gab es einen durchgehenden Zug. Da war die Sache einfacher und den Preis konnte man sich selbst ausrechnen. Aber da waren die Autobahnen auch noch nicht so voll und die Autofahrt kein Problem. Und wir sind die Strecke sehr oft gefahren, jährlich so zwei bis dreimal, und das 40 Jahre lang.

 

Meine Tochter versucht, die Aufmerksamkeit ihrer Tante auf sich zu lenken und spricht sie mehrfach an. Es ist vergeblich. Offensichtlich nimmt sie jetzt nichts auf. Das passiert immer öfter und dauert immer länger. Ein imaginärer Punkt an der Decke scheint interessanter zu sein. Ich möchte mich einmal in sie hineinversetzen, um herauszufinden, ob und wie sie uns wahrnimmt. Ist es wie in einem verworrenen Traum, wo die einzelnen Bilder nicht zusammenpassen? Oder sind es nur Gefühle, die man durch seine bloße Anwesenheit, seine Stimme oder den Händedruck bei ihr erzeugt? Sind es Gefühle wie Ruhe, Sicherheit, Freude, Wärme, Geborgenheit oder Unruhe, Unsicherheit und Angst? Man wird es nie erfahren.

 

Vor nunmehr 7 Jahren fing das mit meiner Schwester an. Sie hatte in jungen Jahren BW studiert und arbeitete bis zur Rente als Hauptbuchhalter. Sie hat sich das ganze Leben um den Haushalt, um ihren Mann und um ihre zwei Töchter gekümmert und alles organisiert. Wir schrieben uns damals noch Karten bei besonderen Anlässen und ihre ausgereifte und schöne Schrift hatte mich immer beeindruckt. Dann kam auf einmal eine Karte im Umschlag, die mich stutzig machte. Betrunkene kritzeln manchmal so, dachte ich. Das konnte bei ihr aber nicht sein. Bei einigen Worten fehlten die letzten Buchstaben und einige Sätze waren nicht beendet. Auf dem Briefumschlag fehlten die Postleitzahl und die Hausnummer. So nach und nach erfuhr ich aber dann die traurige Nachricht und die Krankheit entwickelte sich zunehmend und unaufhaltbar. Die Vollnarkose für eine notwendig gewordene Schilddrüsenoperation endete mit einem Delir, das die Abwärtsspirale einleitete. Erst vergaß sie etwas, dann sich selbst und schließlich alle um sich. Nach einigen Jahren wurde eine stationäre Betreuung notwendig. Der lange Abschied von einer lebensfrohen und intelligenten Frau begann plötzlich, ein Abschied auf Raten. Anfangs reagierte sie noch hin und wieder, wollte wieder nach Hause. Das ließ nach. Sicher haben auch Medikamente dazu beigetragen. Sie schlief viel, selbst wenn Besuch da war. Es ging mit ihr stetig weiter bergab. Die kurzen Lichtblicke wurden seltener.

 

1951 bekam meine Schwester mit 11 Jahren zu Weihnachten das Märchenbuch "Die silberne Brücke" geschenkt. Ich war damals 6 und dieses Buch begleitete uns in unseren Kindheitsjahren. Jetzt liegt es hier in ihrem Nachtschrank. Ich nehme es heraus und beginne daraus vorzulesen, langsam und mit Betonung. Ihr Blick löst sich von der Decke und sie schaut erst meine Tochter und dann mich an und es scheint mir, als ob sie etwas sagen will. An der Stelle, wo das "Märchen" mit allen Märchenfiguren in der Erde versank und das "Dicke Ende", ein fürchterliches Ungeheuer, mit einem gewaltigen Donnerschlag aus der Erde emporstieg und brüllenderweise Angst und Schrecken verbreitete, zieht sie ihre Augenbrauen zusammen und stößt einen Laut aus, der wie "Oh!" klingt. War die Ursache für das „Oh!“ der Buchinhalt oder meine dramatische Stimme? Ich lese noch ein paar Seiten mit ruhiger Stimme und meine Schwester liegt entspannt da. Nach einer Weile wird sie unruhiger, hebt die Arme hoch und macht Anstalten, ihren Körper anzuheben. Sie öffnet den Mund und ich glaube so etwas wie „Wo…m“ verstanden zu haben und damit meinen Vornamen. Ich nehme sie in die Arme und ziehe sie dicht an mich heran. Das scheint ihr gut zu tun. Ich spüre ihre warme und weiche Wange an meiner wohl etwas stoppeligen. Als Kinder haben wir das oft getan. Meine Tochter nutzt die Gelegenheit und schüttelt ihr Kopfkissen auf. Kaum liegt sie wieder, streckt meine Schwester abermals die Arme in meine Richtung. Wieder nehme ich sie hoch. Das alles wiederholt sich noch zweimal. Dann schaut sie wieder wie unbeteiligt an die Decke. Ich stecke ein Lesezeichen in das Kinderbuch und lege es wieder zurück in ihren Nachtschrank. Ihre Töchter werden ihr sicher morgen oder übermorgen weiter daraus vorlesen.

 

Als Kinder haben wir abends im Bett oft noch erzählt und auch gesungen bis unsere Mutter dem Treiben ein Ende gesetzt wurde und energisch auf die Treppe klopfte. „Nimm die Mundharmonika mit. Die alten Lieder erkennt sie vielleicht wieder“, sagte meine Tochter vor der Abfahrt. Das war eine gute Idee. Ich hatte das Instrument jahrelang nicht mehr benutzt. Aber es ist so wie beim Fahrrad. Man verlernt es nicht. Ich probierte aber trotzdem, weil ich mich nicht blamieren wollte. Es ging besser als ich dachte.

 

Ich stehe auf, gehe an den Kleiderständer und fummele die Mundharmonika aus meiner Jackentasche. „Ich lasse euch jetzt einmal allein“, sagt meine Tochter und verlässt das Zimmer. Sie will, dass meine Schwester nicht durch ihre Anwesenheit abgelenkt wird. Vielleicht braucht sie selbst auch nur eine Pause. Ich spiele die erste Strophe vom Lied „Die Heimat hat sich schön gemacht“ und beobachte meine Schwester aus den Augenwinkeln. War da nicht eine Regung? Sie hat den Kopf zu mir gedreht und schaut mich direkt an. Dann wird sie etwas unruhig und bewegt die Lippen, als wollte sie mitsingen. Es kommt aber kein Ton heraus. Ich singe ihr nun die erste Strophe vor. Sie lauscht, glaube ich, und sie scheint sich zu freuen. Es sind nur kleine Regungen, die man kaum erkennen kann. Aber sie reagiert. Ich denke, die Freude ist auf beiden Seiten. Danach spiele und singe ich im Wechsel „Wahre Freundschaft soll nicht wanken“, „Guter Mond, Du gehst so stille“ und noch ein paar andere. Es wird ein richtiges kleines Konzert.

 

So gut wie Michael Hirte kann ich zwar nicht spielen aber ich kann durch eine bestimmte Mund- und Zungenhaltung einen klaren Ton hervorbringen und ihn auch in der trichterförmigen Hand gefühlvoll vibrieren lassen. Zungenschlag war früher. Heute gebe ich mir besondere Mühe. Eine Treppe tiefer sitzen die anderen Heimbewohner und hören mit. Das sagte mir später eine Pflegerin.

 

Meine Tochter kommt nach einer halben Stunde wieder herein. Man hat ihr gleich das Mittagessen mitgegeben, Gemüsebrei und Kompott. Sie hatte sich angeboten, ihre Tante zu füttern. Meine Tochter verzichtet auf „ein Löffel für die, ein Löffel für den“. Das macht man in diesem Fall nicht, sagt sie. Ich finde es gut und richtig, dass sie ihrer Tante mit Respekt begegnet und nicht wie ein Kind behandelt. Sie isst nicht mehr viel. Nach der Hälfte dreht sie ihren Kopf zur Seite, wenn der Löffel naht. Sie ist satt und will nicht mehr. Wir akzeptieren das und bekommen ein Lob von der Pflegerin, die gerade nach dem Rechten schaut. Sie besteht aber darauf, dass sie noch trinken muss und setzt ihr die Schnabeltasse an. Dann gibt sie uns höflich zu verstehen, dass sie jetzt bei ihr noch alles in Ordnung bringen muss. Wir sollten uns aber Zeit lassen, in zehn Minuten käme sie wieder. Wir verstehen und verabschieden uns langsam. An der Tür drehen wir uns noch einmal herum. Meine Schwester schaut wie unbeteiligt an die Decke.

 

Ende

 

Impressum

Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 29.02.2024

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