Ich saß mit drei weiteren einzelnen Fahrgästen, also fast allein, in einem Eisenbahnzug, der mich nach Hause bringen sollte; natürlich auf einem Fensterplatz, Wagenmitte, linke Seite, Blick in Fahrtrichtung. Mein Koffer befand sich, wie es sich gehörte, auf der Gepäckablage über mir. Neben mir stand mein Wanderstab, den ich mir aus einem, im Harz gefundenen, absolut geraden Hartholz-Ast kunstvoll geschnitzt hatte. Er war mit seiner stattlichen Größe von 1,78 m genauso groß wie ich. Ich wollte ihn als Souvenir und Stütze bei meinen weiteren Wanderungen, mit nach Hause begleiten.
Der Waggon ratterte und knirschte etwas blechern, sackte auch hin und wieder etwas nach links oder rechts. Sicher war es einer dieser Reko-Wagen, die damals von der Deutschen Reichsbahn vorrangig zu Personenzügen zusammengekoppelt wurden. 8 Pfennige pro Kilometer musste man damals (ohne Eil- oder D-Zug-Zuschlag) bezahlen. So war der Gesamtpreis für eine Strecke schnell berechnet. Heute kostet es mehr, wobei die Berechnung nur der geschulte Eisenbahner und der gewiefte Fahrgast verstehen.
Die Landschaft zog gemächlich vorbei und mit dem gleichmäßigen Auf und Ab der Telegrafenleitung und dem klopfenden Rhythmus der Schienenstöße ließ die Müdigkeit nicht lange auf sich warten. Ich kam jedoch nicht dazu, einzunicken. Die zwei blechernen Verbindungsschiebetüren zum Wagen davor wurde plötzlich kraftvoll bis zum Anschlag aufgerissen - RUMMS-RUMMS! Ich erschrak, empfand das „Gerummse“ als etwas respektlos und war wieder hellwach. Den anderen drei Fahrgästen schien es, nach ihren Blicken zu urteilen, ähnlich zu gehen.
Ein jüngerer Mensch, ein klotziger Bursche in schmucker Eisenbahnuniform, mit keck aufgesetzter Schirmmütze, aus der kühn ein rotblonder Haarschopf quoll, schaute selbstbewusst in die Runde und forderte, vielleicht eine Spur zu grell, im reinsten Hochdeutsch: "Die Fahrkarten bitte!" Er schaute prüfend in die Runde. Ich zitterte fast vor Respekt, kramte erschrocken mein Billett hervor und hielt es, vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger eingeklemmt, in Brusthöhe dem nahenden Amtmann gut sichtbar entgegen.
Dreimal hörte ich ein lautes "Danke, Danke schön", dann stand der Jungeisenbahner neben mir und schaute, ohne seine Mimik zu verziehen, von oben auf mich herab. Ich reichte ihm unterwürfig das Pappkärtchen hinauf. Er nahm sie mit der linken Hand entgegen, fischte mit der rechten nach seiner kettengesicherten Knipszange, schleuderte sie mit der Kette hoch, fing sie geschickt auf und ließ sie ein Loch in das Kärtchen beißen. Dann erst prüfte er die Echtheit, Gültigkeit und Richtigkeit des Fahrausweises, was man eigentlich zuerst machen sollte. Er hatte aber, im Gegensatz zu mir, an der Kontrolle nichts zu beanstanden, quittierte nur meinen dezenten Hinweis mit einem verächtlichen Blick. Seine Rache folgte auf dem Fuß.
Die Augen des Mannes fielen auf meinen Wanderstock. Wie groß ist der?" Ich sagte stolz: "Ein Meter achtundsiebzig – so groß wie ich." Der Jungeisenbahner wiegte mit ernster Miene seinen Kopf hin und her, griff in seine dienstliche Umhängetasche und holte ein dickes, etwas abgenutztes Buch heraus, aus dem mehrere Zettel, wahrscheinlich Lesezeichen, lugten Auf dem schmucklosen dunkelgrauen Bucheinband konnte ich das Wort „Beförderungsbestimmungen“ erkennen. Mit breiten Beinen und die gegenüberliegende Lehne als Körperstütze nutzend, blätterte er suchend darin herum, wobei die baumelnde Kettenzange leicht hüpfte. Mir wurde es angesichts dieser amtlichen Handlung unangenehm warm. In meinem Magen kribbelte es nervös. Ich schaute ängstlich auf sein Tun. Auf meiner Stirn bildeten sich Wassertropfen. Die drei Mitreisenden wurden aufmerksam. Sie blickten neugierig zu uns herüber.
Nach einer Weile hatte der gute Mann entdeckt, was er suchte. "Hier haben wir es!" Er strahlte stolz und tippte auf eine bestimmte Buchstelle. Er las sie laut vor: "Spazier-, Wander- und Krankenstöcke werden bis zu einer Länge von 125,3 cm kostenlos befördert. Größere fallen unter die Rubrik ‚Möbel‘ und sind kostenpflichtig." Der Jungschaffner sah mich prüfend an. "Haben Sie für diesen Stock einen Beförderungsschein?" Ich zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. Nein, so einen Zettel konnte ich nicht vorweisen. Mein Wanderstock war tatsächlich 52,7 cm länger als erlaubt und galt demzufolge bei der Bahn als Möbelstück. Das wusste ich nicht.
Wer viel wandert, weiß aber, wie nützlich so ein mannslanger Stock beim Überqueren eines rauschenden Wildwassers oder einer tiefen Felsenspalte sein kann. Auch zur Abwehr von Wölfen, falls diese mal nicht ausreißen sollten, wäre er geeigneter als ein üblicher 90-Zentimeter-Gehstock aus dem Laden. Der Schaffner ließ sich auf keine Diskussion ein und verwies auf die Großzügigkeit der Bahn, weil sie doch erst ab 125,3 Meter einen Anspruch auf eine Beförderungsvergütung erheben würde: "Das wären dann", er räusperte sich, "… dann … dann … immerhin …", er zog die Stirne kraus, "... immerhin zusätzlich frei verfügbare 35,3 cm." Dann kam er zum Punkt: "Ich kann nicht umhin und muss Ihnen die Summe für die fehlende Beförderungsleistungsentschädigung ab 125,3 Zentimeter bis zur tatsächlichen Länge von 178 cm berechnen, zusätzlich eines Zuschlages für die Unterwegs-Bearbeitung."
Ich überschlug in Gedanken mein mobiles Geldvermögen im Portemonnaie, während mein Gegenüber wieder geschäftlich in seinem dicken Buch herumblätterte. Er rechnete den herben Verlust der Bahn aus, der ihr durch meine mangelhaften Tarifkenntnisse entstanden wäre und kam nach einer gewissen Zeit auf stolze 10 Euro für die Reise meines Wanderstockes über 197 km vom Harz bis nach Sachsen. Ich schluckte laut und sah ihn bittend an. Er erläuterte mir die Zusammensetzung der Summe: "Von Quedlinburg bis Dresden sind es 197 Bahnkilometer. Je Kilometer werden für den Stock zwei Cent berechnet, macht 3,94 Euro. Fünf Euro kostet der Zuschlag für die Unterwegs Bearbeitung, macht 8,94 Euro und ein Euro fällt für die allgemeine Bearbeitung an, macht 9,94 Euro, gerundet 10. Es wird bei uns immer aufgerundet, um den Verwaltungsaufwand abzurunden. Haben Sie das Geld gleich in bar?" Ich nickte.
Schon hatte er einen Quittungsblock in der einen sowie einen Stift in der anderen Hand und stellte sich umfallsicher neben meinem dunkelgrünen, kunstlederbezogenen Sitz auf. Ich gab ihm einladend ein Handzeichen, sich doch einfach auf den freien Platz mir gegenüberzusetzen. Das tat er auch mit einem Gesicht, das seinen Ärger darüber verriet, nicht selbst auf diese Idee gekommen zu sein.
In diesem Moment wendete sich zu meinem Glück die Geschichte. Es öffnete sich erneut die Schiebetür, nicht ganz so geräuschvoll, wie es der junge Mann tat. Ein zweiter, älterer Schaffner betrat gesittet den Waggon, blieb kurz stehen, schaute zu uns herüber und gesellte sich dann zu mir und seinem jungen Kollegen, der ihm offenbar unterstand. "Was geht hier vor?", fragte er nicht unfreundlich. Er wurde über den Sachverhalt informiert, überlegte kurz und sagte überraschend: "Ich werde sehen, ob ich etwas finde, was in diesem Falle eine Nachzahlung durch den Fahrgast nicht erforderlich machen würde!"
Der junge Schaffner nestelte diensteifrig aus seiner Tasche das dicke Nachschlagebuch wieder heraus und wollte es seinem Vorgesetzten geben. Der winkte aber ab und sagte nur: "Warten Sie hier. Ich komme gleich wieder." Damit machte er kehrt und verließ den Waggon. Ich war total von den Socken, so sagt man doch, wenn man plötzlich etwas erlebt, was man nicht erwartet hätte. Mein junger Schaffner brummte unzufrieden etwas vor sich hin und steckte mit einer betont gleichgültigen Miene seine Beförderungskladde sowie den Quittungsblock wieder zurück in seine dienstliche Umhängetasche. Er schaute wie ein vornehmer Kellner, der am Tisch betont teilnahmslos auf eine Bestellung wartet.
Der Zug unterbrach seine eintönige Schienenstoßklopferei, ruckte schlagartig mit einem knarrenden Geräusch nach rechts und ratterte aufgeregt zappelnd über eine Weiche. Schon ging es im alten Stakkato weiter, wobei der Zug langsamer wurde. Die Räder begannen plötzlich grell zu kreischen, bis schließlich der Zug mit einem letzten Ruck zum Stehen kam. Ich sah durch die Scheiben ein paar Menschen auf dem nicht überdachten bahnsteigähnlichen Trottoir hin und her laufen. Es war offenbar nur ein Haltepunkt. Ein paar Türen klappten. Dann kam die übliche Ruhepause, die wohl kein Reisender je verstand. Nach einer gefühlten Ewigkeit mahnte eine Trillerpfeife zur Abfahrt und nach einem kurzen Antwortpfiff der Lok setzte sich der Zug mit einem ächzenden Geräusch wieder in Bewegung.
Der ältere Schaffner kam mit einem strahlenden Gesicht zurück. Er hatte etwas gefunden und fuchtelte mit einem Hosenbügelsteg, vier silbernen Glöckchen und ein paar bunten Dekorationsbänder herum. Er machte eine Geste, die so etwas wie „na, geht doch“ bedeuten konnte. Ich schaute interessiert auf die Utensilien, der junge Schaffner etwas blöd, fand ich. Der Alte schien aber unbeeindruckt zu sein und ließ sich von mir den überlangen Wanderstock geben. Ich musste diesen vor seiner Nase senkrecht aufstellen und sicher festhalten. Er befestigte nun etwa fünfzehn Zentimeter unterhalb der Spitze den Hosenbügelsteg mit etwas Bindedraht, sodass ein Kreuz erzeugt wurde. An dem so entstandenen „Querbalken“ hing er rechts und links jeweils zwei der Glöckchen und drapierte den ganzen Stock kunstvoll mit den Deko-Bändern, denen er mit ein paar Reißzwecken den notwendigen Halt gab. Jetzt war auch der junge Schaffner neugierig geworden. Wir schauten beide interessiert auf die Bastelei und zuckten mit den Schultern.
Der alte Schaffner war inzwischen fertig und präsentierte uns sein Werk: "Hier haben wir nun einen Schellenbaum", sagte er stolz und ergänzte: "das ist ein Musikinstrument, das gewöhnlich am Anfang einer Orchesterformation getragen und gespielt wird. Es ist also ein Musikinstrument, das laut den Beförderungsvergütungsbestimmungen, Teil 8, Paragraf 9, Ziffern f und g, grundsätzlich kostenlos befördert werden kann, wenn der Fahrgast den Beweis erbringt, dass er darauf zu spielen in der Lage ist." Er wandte sich direkt an seinen jungen Kollegen: "Haben Sie das nicht gewusst? Sie müssen lernen, die Bestimmungen kreativ und problemlösend im Sinne der Fahrgäste auszuschöpfen." Dann forderte er mich auf, eine Melodie zu spielen und gab mir dazu seinen Kugelschreiber. Ich schlug die Glöckchen in willkürlicher Reihenfolge leicht an und manche auch zweimal. Er nickte zustimmend und alle Fahrgäste, vier waren eben dazugekommen, klatschten. Beim jungen Schaffner konnte ich keine erfreute Regung entdecken, nur ein mürrisches Gesicht.
Wie die Sache überhaupt ausging, habe ich nicht mehr erfahren können. Jemand rüttelte an meine Schulter: "Willst du nicht langsam aufstehen? Hör auf zu träumen. Der Kaffee ist fertig. Ich habe schon zweimal geläutet." Wir nutzen nämlich eine Küchenglocke, wenn das Essen fertig ist. Die dringt selbst durch den lautesten Fernseh-Ton. Am Frühstückstisch erzählte ich meiner Frau die traumhafte Geschichte. "Die solltest du mal aufschreiben", meinte sie. Ich wollte es mir überlegen, aber auf alle Fälle beim nächsten Besuch im Harz für sie noch so einen langen Stock suchen und vorsichtshalber noch einen Hosenbügel, vier Glöckchen, ein paar bunte Dekoband-Reste und natürlich auch Reißzwecken mitnehmen.
Träume haben oft eine Fortsetzung, wie man erfahrungsgemäß weiß. So war es auch in diesem Falle. Ein Briefträger klopfte an und nestelte aus seiner Post-Tasche einen Umschlag hervor. Es war eine Rechnung von der Bahnverwaltung. "Sie erhielten am … aus dem Fundus der Bundesbahn vier vernickelte Handglocken, einen Hosenbügel, zwei Meter Dekorationsband sowie zehn Reißzwecken und bitten Sie, die Rechnungssumme von 20,93 Euro (in Worten: ZWANZIG KOMMA DREIUNDNEUNZIG) innerhalb von vierzehn Tagen auf das Konto sowieso zu überweisen."
Ich tippte auf den jungen Schaffner, diesen klotzigen Burschen in schmucker Eisenbahnuniform mit der keck aufgesetzten Schirmmütze, aus der kühn ein rotblonder Haarschopf quoll, und sah ihn grinsend vor mir stehen.
Ende
Im gleichen Verlag erschienen:
Wolf Rebelow
Hugo Hahn
Kurzgeschichte
ISBN 978-3-7554-6131-9
Jähe Wendungen begleiten das Leben von Hugo Hahn. Nichts scheint mehr von Bestand zu sein. Die Zeit ist voller Kehren und Kehrer, Ansichten und Absichten, die nicht nur ihn vor Herausforderungen stellen. Sie bietet aber auch Chancen für Entschlossene, die ohne zu zögern zugreifen, Paroli bieten, falls erforderlich, und selbstbewusst sich etwas zutrauen. Der Autor beschreibt in einer fiktiven Geschichte, jedoch unter Verwendung tatsächlicher Ereignisse, wie es der Protagonist versteht, sein Leben in schwierigen Zeiten zu meistern und sich nicht wie Hyperion auf Salamis zurückzuzieht. Er macht dabei gleichzeitig ein Stück deutscher Geschichte und seine Auswirkungen auf das Leben der Menschen sichtbar.
Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 26.02.2024
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