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Die letzte Karte

Paul hat Geburtstag. Er wird 75 und hat Angst vor dem üblichen Gratulations-Stress am Telefon. Seiner Frau Pauline geht es auch so.
Es ist 07:00 Uhr und noch nicht richtig hell. Sie trudelt noch im Bett ihren Schlaf aus, während er sich schon splitternackt im Bad versucht; sich hübsch zu machen. Draußen ist es februartrübkalt; die Radiotante bestätigt das auch. Es klingelt von unten, was Paul an dem langgezogenem "Diiing-Dooong" merkt, der sich vom aufgeregten Geblibber an der Wohnungstür wohlwollend unterscheidet. Zum Glück sind alle Fenster, die der Einlassbegehrende einsehen kann, noch geschlossen. Paul entschließt sich, nicht da zu sein, sondern beim Bäcker, und weist seiner Frau dafür den Keller zu, falls mal gefragt werden sollte. Er vermeidet gewieft ein Wackeln der Badfenster-Gardine, obwohl er gern wüsste, wer es ist, der da zu nachtschlafender Zeit läutet. Paul verteilt entschlossen den Rasierschaum im Gesicht. Abwehr geglückt; um Sieben klingelt man noch nicht bei den Leuten!

 

Weil die Wohnungen hellhörig sind, vernimmt Paul nun ein lärm-gemindertes "Diiing-Dooong" aus der Nachbarwohnung und kurz darauf das "Krrrrrrrr" des elektrischen Haustüröffners, dem ein hastiges Treppetapsen folgt. Erschrocken greift Paul zur Unterhose und zum Handtuch, um seinen Stolz zu bedecken und sich den Rasierschaum wieder abzuwischen. Pauline grunzt im Endschlaf. Es raschelt an der Tür, dann blibbert es zweimal. Paul schließt vorsorglich die Schlafzimmertür, weil der Pauline ab und zu ein Schnarchton knallartig entweichen könnte. Das wäre jetzt verräterisch. Zum Glück verzichtet der frühe Wurm auf weitere Einlassversuche. Er tapst eilig die Treppe hinunter. Dann hört Paul, wie die Haustür ins Schloss fällt. Pauline wacht auf. Später finden sie einen Blumenstrauß außen an der Türklinke hängen, mit einem Notizzettel von Erna und Erich, die so zeitig aufstehen, weil sie jeden Tag nutzen wollen, wie sie stets betonen. Nur sagen sie meistens: "Nichts Besonderes", wenn sie gefragt werden, was sie denn nun getan haben. So sind sie eben.

 

Um 9:00 Uhr klingelt das Festnetz-Telefon erstmalig an diesem besonderen Tag. Es sagt sogar die Namen der Anrufer an, die man aber vorher eingeben muss. Paul springt von seinem Sessel auf. Er muss sich beeilen, weil das Telefon viel zu schnell auf den AB umschaltet. Die meisten Anrufer erschreckt das und legen hastig auf. Klara meldet sich. Auch das noch, denkt Paul und spricht sie an: "Guten Morgen, liebe Klara, hier ist der Paul." Das war schon fast alles, was er sagen konnte, außer später ein paarmal "Hm" oder "Ja". Klaras Redefluss trocknet nie aus. Sie ist auch nicht mehr die Jüngste und lebt allein, gratuliert überbetont freundlich, findet salbungsvolle Worte, fragt nach Gesundheit, Wohlergehen und Paula ohne eine Antwort abzuwarten, spricht ausführlich über ihre politischen Sorgen ihre Gesundheit und ihre Ärzte, geht dann über zu gereisten und geplanten Reisen, ihre Erfolge im Garten und sie schaut dabei nicht einmal auf die Uhr; braucht es auch nicht, weil Paul es laufend tut. Schon dreimal sagte er vorsichtig: "Danke für Deinen Anruf, hat mich gefreut, auch Dir alles Gute und Gruß von Paula." Gegen 9:40 Uhr gelingt es Paul endlich aufzulegen, ohne negative Wirkungen erwarten zu müssen. Sein rechtes Ohr ist rot. Er stöhnt. Paula versucht, ihn zu trösten: "Sie hat ja sonst keinen "Hm“ oder „Ja“. Klaras Redefluss trocknet nie aus. Sie ist auch nicht mehr die Jüngste und lebt allein, gratuliert überbetont freundlich, findet salbungsvolle Worte, fragt nach Gesundheit, Wohlergehen und Paula ohne eine Antwort abzuwarten, spricht ausführlich über ihre politischen Sorgen, ihre Gesundheit und ihre Ärzte, geht dann über zu gereisten und geplanten Reisen, ihre Erfolge im Garten und sie schaut dabei nicht einmal auf die Uhr; braucht es auch nicht, weil Paul es laufend tut. Schon dreimal sagte er vorsichtig: "Danke für Deinen Anruf, hat mich gefreut, auch Dir alles Gute und Gruß von Paula." Gegen 9:40 Uhr gelingt es Paul endlich aufzulegen, ohne negative Wirkungen erwarten zu müssen. Sein rechtes Ohr ist rot. Er stöhnt. Paula versucht, ihn zu trösten: "Sie hat ja sonst keinen."

 

Um 09:42 Uhr ruft Anneliese an. Das ist Pauls Schwester. "Sage mal ... ich versuche schon seit einer halben Stunde ... laufend besetzt ... wer war denn das ..." Zum Glück fasst sie sich kürzer, ist aber dennoch angenehm herzlich. Nach 10 Minuten ist alles gesagt. "So muss es sein", sagt Paul, steckt um 09:52 Uhr den Hörer in die Ladeschale und begibt sich zur Toilette.
Was sein muss, muss sein, denkt er noch, als 09:53 ein neuer Anruf angekündigt wird: "Anruf von Bernd Brückner"! Das ist Pauls Schwiegersohn. Paul drückt die Beine etwas zusammen, das Klo muss warten. Frisch meldet er sich: "Hallo Bernd, hier ist Dein Schwiegervater. Du rufst an? Ihr wolltet doch nach Feierabend vorbeikommen."
Kurze Pause. "Hallo, bist du noch dran?" Antwort: "Hier ist nicht Bernd, hier ist Achim, Dein Enkel. Ich rufe aus Klagenfurt an. Ich habe mit meinem Vater die SIM-Karte getauscht - musst Du mal auf Deinem Telefon ändern." Das hätte er mir auch schon eher sagen können, dachte sich Paul. Man kommt ja ganz durcheinander. Trotzdem freut er sich über den kurzen Anruf seines Enkels, der in Klagenfurt studiert.

 

Zum Klo kommt Paul noch nicht. Kaum aufgelegt, klingelt es erneut: "Anruf von
Gustel." Das ist eine ganz nette Urlaubsbekannte, die aber auch gern plaudert und am Telefon schwer zum Ende kommt. Paul klemmt den Hörer zwischen Ohr und Schulter und begibt sich auf den heiß ersehnten Weg zur Toilette. Es geht nicht anders. Dort gelingt ihm das Experiment, zwei Dinge auf einmal zu erledigen. Gustel fragt nur nebenbei, was da so plätschert und bekommt die Auskunft, dass es der Wasserhahn sei, was nicht einmal so falsch ist.
Während Paul Gustels umfangreiche Gratulation inkl. aller weiterer Informationen entgegennimmt, blibbert es erneut an der Wohnungstür. "Paula, gehst du mal? Ich rede gerade mit Gustel!" Die Nachbarin Helga aus dem Erdgeschoss (84, alleinstehend) will mit einem übergroßen Blumenstrauß gratulieren und wird hereingebeten. Paul hatte ihr mal geholfen, sich auf ihrem neuen Telefon zurechtzufinden. Sie will warten. Paul hat noch immer mit Gustel zu tun, wird aber langsam unruhig. Außerdem bekommt er einen Druck im Kopf, der sich zum Schmerz zu entwickeln scheint. Als er mit Gustel und der Nachbarin Helga fertig ist, zeigt der kleine Uhrzeiger auf die 12 Uhr, wobei die Gratulation von Helga durch zwei weitere Anrufe kurz unterbrochen werden musste.
Zwischen 12:00 Uhr und 14:00 Uhr sind es nochmal vier Anrufe, zwei davon in Klaras Stil. Paul ist nervlich am Ende, verflucht die Technik und wankt zum Hausbriefkasten als er das gelbe Auto kommen sieht. Der Postbote übergibt ihm nur einen Umschlag.

 

Paulas Schwester (80, alleinstehend) hat ihm, wie schon immer, eine besondere Geburtstagskarte mit einem sorgfältig formulierten Text und in ihrer schönen Handschrift geschrieben, obwohl sie als ehemalige Zeitungsredakteurin das Telefon und den Computer samt WhatsApp beherrscht. Eine Karte aber will sie sich nicht nehmen lassen.
Paul wird diese in Ruhe lesen und auf den Geburtstagstisch stellen.
Paula ruft aus der Küche: "Jetzt wird erst einmal gegessen!" Das Telefon meldet den Anruf von Waltraut und gibt schließlich auf.

 

Ende

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 Im gleichen Verlag erschienen:

 

 

 Wolf Rebelow

Villa Todenbrink

Roman, Mystery, 110 Seiten

ISBN 978-3- 7438-9335-1

 

November 1928 - Der Staatskommissar Friedrich von Rittelsbach erhält von seinen Dienstherren einen delikaten Auftrag. In der Villa des Eigentümers eines bedeutenden Rüstungswerkes geschehen seltsame Dinge, die nach dem Willen des Hausherrn aus geschäftlichen Gründen geheim gehalten werden sollen. Unter einer Legende machen sich der Staatskommissar und sein Assistent auf den Weg in die Kleinstadt Bloggenburg, um die Sache aufzuklären, die sich zu einer spannenden und gruseligen Mission entwickelt. Der Autor bezieht in der fiktiven Handlung Stellung zur deutschen Waffenproduktion und zum Waffenexport, beispielhaft unter der Aufsicht der "Interalliierten Militärkontrollkommission" bzw. des nachfolgenden "Völkerbundes" in der Zeit der Weimarer Republik.

Impressum

Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2024

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