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Im Juni war es und warm. Sonne und Regen hielten sich die Waage, die Erdbeerernte war voll im Gange. In den Geschäften wurden die saftigen roten Früchte in kleinen Spankörben angeboten. Sabine Adaus suchte sich ein Körbchen aus, klemmte es auf den Gepäckträger ihres Fahrrades und fuhr nach Hause. Ihre 6-jährige Tochter Aline würde sich nach dem Abendbrot über ein Schälchen mit frischen Erdbeeren, Milch und Zucker sicher freuen. Morgen wollte sie noch einen Erdbeerkuchen für alle backen. Ihr Mann, Peter, war heute für den Kindergarten-Abholdienst verantwortlich. Aline war dort in der großen Gruppe. Das Wochenende stand bevor.
Zum Abendbrot wünschte sich Aline eine halbe Schnitte mit Leberwurst, eine halbe mit Frischkäse und ein Wiener Würstchen. Sie aß alles mit großem Appetit auf und zeigte stolz ihren leeren Teller. "Nun bin ich aber satt", stöhnte sie etwas überbetont und lehnte sich zurück. Ihre Mutti lächelte: "Dann passt wohl nichts mehr hinein?" Aline schüttelte ihren Kopf. Ihre Mama holte nun aus der Küche die vorbereiteten Erdbeerschälchen herein und gab ihrer Tochter das größte. Das Mädel strahlte und saß plötzlich wieder kerzengerade auf ihrem Stuhl. Das war eine Überraschung! Im Nu hatte sie ihr Schälchen ausgelöffelt und verlangte nach mehr, was ihr aber nicht gewährt wurde. "Dir könnte es schlecht werden, wenn du so viel davon isst", hörte sie ihre Mutter sagen und zog einen Flunsch. Ihr Vater nickte nur und sagte kurz: "Stimmt, morgen gibt es dafür noch Erdbeerkuchen." Sabine sah ihren Mann vorwurfsvoll an. Es sollte nämlich eine weitere Überraschung werden. Nun würde es keine mehr werden.
Aline war aber uneinsichtig, sie wollte jetzt noch Erdbeeren, und reagierte trotzig. Wortlos verschwand sie in ihrem Zimmer und schlug ihre Tür laut zu. Die Mutter ärgerte sich. Sie war regelrecht enttäuscht, wollte sie ihr doch eine Freude machen. Morgen musste sie noch einmal mit ihrer Tochter ernsthaft darüber sprechen, obwohl sie sich davon nicht allzu viel versprach. Sie hatte nämlich schon oft trotzig reagiert, wenn sie nicht bekam, was sie wollte. Sie tat oft auch heimlich etwas, was sie nicht durfte, verschwieg Dummheiten und erfand Ausreden. Sabine hoffte aber, dass es sich im Laufe der Zeit geben würde und schob es auf die Kindheit. Man muss eben Geduld haben, sagte sie sich, obwohl ihr das zugegeben manchmal schwerfiel. Nicht immer reagierte sie gelassen, besonders wenn es besondere berufliche und häusliche Belastungen gab oder wenn ihr Mann Peter tagelang auf Baustellen unterwegs war.
Das Wochenende verlief so wie immer. Des lieben Friedens willen, verzichtete Sabine auf die strenge Aussprache mit ihrer Tochter, ließ ihr aber die Verärgerung spüren. Der Erdbeerkuchen kam gut an und war verzehrt. Aline hatte zwei große Stücke geschafft und dann noch die von anderen Stücken abgefallenen Erdbeeren aufgepickt. An beiden Wochenendtagen kam sie rechtzeitig vor dem Abendbrot vom Spielen zurück. Die Eltern legten Wert auf Pünktlichkeit. Um 18 Uhr musste Aline stets zu Hause sein, dann gab es Abendbrot und um 19 Uhr durfte sie nach dem Waschen und dem Zähneputzen im Schlafanzug die Sandmann-Sendung schauen. Dann ging es ins Bett. Alles musste seine Ordnung haben. Ohne Fleiß und Ordnung geht nichts im Leben, sagte Sabines Vater einmal. Es war also alles in Ordnung. Nur hatte Aline am Sonntag, als sie nach Hause kam, ein paar rote Flecke am Mund, die sich aber gut abwischen ließen. Auf dem Spielplatz hätte ein Junge, nämlich der Sven, ihr eine Erdbeere geschenkt, erklärte Aline ihrer Mutter.
Als Sabine am Montagmorgen das Haus verließ, sah sie vor dem Eingang drei Frauen stehen, die angeregt tuschelten und abrupt schwiegen, als sie näherkam. Sie grüßte freundlich und bekam nur ein verlegenes Nicken zur Antwort. Auch schauten die drei Frauen sie irgendwie vorwurfsvoll an, fand sie. Eine, die Frau Richter, wohnte neben ihr. Eine andere, Frau Knopf aus dem Nebenhaus, schüttelte sogar ihren Kopf. Und Frau Giermann, die über ihr wohnte, hatte den Blick gesenkt und guckte ihre Füße an. Vielleicht täuschte sie sich auch nur, dachte Sabine und schwang sich auf ihr Rad. Den ganzen Tag lang beschäftigte sie aber das Verhalten der drei Frauen. Sie hatte das Gefühl, dass diese über sie gesprochen hatten und wollte sich heute Abend mit Frau Richter, ihrer Nachbarin, darüber unterhalten. Sie hatten ja ein gutes Verhältnis zueinander.
Frau Richter war eine kluge Frau. Bei diesem Gespräch erfuhr Sabine, dass Aline am Tag zuvor bei ihr geklingelt hatte, weil sie angeblich hungrig war; ihre Mutti würde ihr nichts zu essen geben. Dann bat sie mit einem flehenden Blick um ein paar Erdbeeren. Frau Richter ließ sie herein und bereitete ihr eine Schnitte, weil Brot den Hunger besser stillen kann, sagte sie der Kleinen. Außerdem hätte sie leider keine Erdbeeren. Daraufhin zog Aline einen Flunsch, zerdrückte zum Entsetzen der alten Frau die Schnitte, sodass sie zwischen ihren Fingern hervorquoll, warf das zermatschte Brot mit den Kassler Scheiben auf den Boden, rannte hinaus und ließ die erschrockene Frau Richter wortlos zurück. Im Nebenhaus hatte sie bei Frau Knopf mehr Erfolg. Sie erzählte der alten Frau, dass ihre Mutti keine Erdbeeren kaufen kann, obwohl sie diese gerne einmal essen möchte. Frau Knopf wunderte sich zwar über Alines Eltern, die ihrer Meinung nach über genug Geld verfügten, und bereitete ihr ein Schüsselchen mit Kaffeesahne und Zucker. Aline aß die Erdbeeren mit Vergnügen, lächelte die Frau an, bedankte sich artig, was die Frau beeindruckte, und verabschiedete sich höflich.
Frau Richter hatte vom Vorfall erzählt, was zu erzählen war. Sabine saß mit hochrotem Kopf angespannt auf der vorderen Stuhlkante und konnte das kaum glauben. „Was geht nur in dem Mädel vor?“, fragte sie. Frau Richter schwieg zunächst. Sabine war entsetzt. Sie stellte die Sachlage natürlich richtig, erzählte ihr von den frischen Erdbeeren, die Aline kurz zuvor aus dem größten Schüsselchen gegessen hatte, auch von dem Erdbeerkuchen für den nächsten Tag und bat ihre Nachbarin, die anderen zwei Frauen auch darüber zu informieren, weil diese Unwahrheiten sonst im Wohngebiet die Runde machen könnten. Sie und ihr Mann hätten eine Beschäftigung, in der das nicht gerade förderlich wäre. Nun wusste sie auch, woher ihre Tochter die roten Flecke am Mund wirklich hatte. Ihren Freund Sven brauchte sie nicht fragen. Der hatte ihr keine Erdbeere geschenkt. Hoffentlich gibt es keinen Klatsch im Wohngebiet, vielleicht noch, dass die Familie Adaus ihre Tochter vernachlässigte, ging es ihr durch den Kopf. Sie musste unbedingt mit ihrem Mann darüber sprechen, auch darüber, wie sie mit Ihrer Tochter ins Reine kamen. So ein Tratsch könnte schließlich auch das Jugendamt alarmieren. Nicht auszudenken, wenn die sich einschalten würden. Allerdings war es nicht das erste Mal, dass Aline schwindelte. Ähnliches gab es nämlich schon mehrfach und immer geschah es nach dem gleichen Schema. Wenn sie etwas nicht bekam, holte sie es sich. Wenn sie etwas nicht tun sollte, tat sie es. Ihr Einfallsreichtum das zu verschleiern oder um sich aufzuwerten, war beeindruckend. Auf der anderen Seite konnte sie nett und freundlich sein. Die Leute, die nicht täglich mit ihr zusammen waren, mochten sie. Vielleicht hatten sie und ihr Mann in der Erziehung auch etwas falsch gemacht. Sie waren immer bestrebt, ihr Kind zur Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Ordnung zu erziehen. Vielleicht spielten auch andere Gründe, wie Vererbung, eine Rolle, denn es gab in der Verwandtschaft in gerader Linie ähnliche Probleme. Hatte sie bestimmte Veranlagungen geerbt? War ihre Tochter gar ein Pseudologin, die krankhaft einem inneren Zwang folgen muss und nichts dafürkann? Oder sollte man alles nicht so ernst nehmen? Würde sich das im Laufe der Zeit bessern oder in der Pubertät verschlimmern? Wie soll man mit dem Kind umgehen? Es sprudelte nur so aus ihr heraus.
Frau Richter, die aufmerksam zugehört hatte, räusperte sich, erfasste Sabines Hände und sagte betont ruhig: „Sie müssen zunächst die Ruhe bewahren und nicht überstürzt handeln. Lassen Sie eine Zeit vergehen. Sehen Sie, alle Menschen lügen, schwindeln, sagen die Unwahrheiten – nennen Sie es wie sie wollen. Es kommt nur darauf an, ob man damit jemanden absichtlich betrügt, schadet oder zutiefst enttäuscht. Ein Schaden ist doch nicht entstanden und ein böswilliger Betrug war es auch nicht. Aline ist ja noch ein Kind und kann sich wohl nicht beherrschen.“ Frau Richter machte eine kurze Pause während Sabine ihre Augen trocknete. Die alte Dame fuhr fort: „Wenn es allerdings nicht das erste Mal war, muss man sich zunächst selbst prüfen. Vielleicht waren sie und ihr Mann oft durch tägliche Belastungen oder Ärger genervt, haben aufgeregt reagiert, vielleicht ist Ihnen oder Ihrem Mann einmal die Hand ausgerutscht? Sie sagten, dass er beruflich oft unterwegs ist. Das lässt darauf schließen, dass die Hauptlast der Hausarbeit und Erziehung bei Ihnen liegt. Vielleicht haben Sie ihr Kind deswegen eventuell auch etwas zu streng erzogen und sich wenig Zeit für liebevolle Zuwendungen genommen? Man muss mit sich ehrlich sein. Niemand macht Ihnen und Ihrem Mann einen Vorwurf. Nicht dass sich im Verlaufe der Zeit eine Bindungsstörung zwischen Ihnen und Aline daraus entwickelt. Das wäre schlimm und kaum wieder zu kitten.“
Sabine sah die Frau an und nickte nur mit dem Kopf. Über das Wort „Bindungsstörung“ war sie doch etwas erschrocken. „Ich muss auf alle Fälle mit Aline in aller Ruhe über die Sache sprechen. Mein Mann kann mich tatsächlich im Augenblick nicht unterstützen. Er ist wieder auf Montage“, meinte sie. Frau Richter hob die Hände: „Führen Sie keine Aussprache mit dem Kind. Verhängen Sie keine Strafe. Das würde sie überfordern. Sagen sie nur gelegentlich, dass sie traurig sind, weil sie das gemacht hat. Sagen sie ihr, dass ich auch traurig bin. “ Frau Richter stand auf, öffnete ein Kommodenfach und nahm ein Kärtchen heraus. „Sprechen Sie mit Ihrem Mann über einen Termin bei einem Psychologen, besser vielleicht bei einer Psychologin. Mir scheint, hier ist professionelle Hilfe ratsam.“ Sie gab Sabine das Kärtchen. Es war die Visitenkarte der Praxis „Dipl. Psych. A. Büttner“ ganz in der Nähe.
Sabine nahm das Kärtchen und sagte: „Danke, ich werde mit meinem Mann sprechen. Wir müssen uns die Zeit nehmen.“ Die beiden Frauen umarmten sich. Sabine wusste, dass das Grübeln über die ganze Geschichte ihr eine schlaflose Nacht bereiten würde. Sie bedankte sich bei der alten Frau für ihr Verständnis und für den Rat.
Frau Richter hatte inzwischen mit den zwei Nachbarinnen gesprochen und die Sache richtiggestellt. Frau Giermann von oben war einsichtig und versprach, nichts weiterzutragen. Frau Knopf aus dem Nachbarhaus schien aber etwas skeptisch zu sein. Sie war der Ansicht, dass ein Kind sich so etwas nicht einfach ausdenken könne. Und schließlich wäre es doch nichts dabei, für sein Kind ein paar Erdbeeren zu kaufen. Dann beendete sie das Gespräch und sagte etwas schnippisch: „Irgendetwas muss ja dran sein!“ Auf die Frage, ob sie schon mit anderen über diese Sache gesprochen hat, gab sie keine Antwort. Also war es im Wohngebiet schon herum.
Am nächsten Tag rief Sabine in der Praxis an. Eine beruhigend freundliche und junge Stimme meldete sich. Schnell war ein erster Termin vereinbart. Bis dahin konnten sie und ihr Mann sicher eine Freistellung von der Arbeit erwirken.
Ein paar Tage später drückte Aline auf den Knopf des Türschildes, auf dem „Dipl. Psych. A. Büttner, Psychotherapie“ zu lesen war. Ihr Papa wollte ihr diesen eigentlich erst zeigen. Sie aber hatte schon den richtigen gewählt. Er und seine Frau standen hinter ihrem Kind, als die Haustür mit einem Summen aufschnappte.
Ende
Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2024
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