„Ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen. Ohne … Liebe der Schönheit … ist jeder Staat ein dürres Gerippe ohne Leben und Geist, und alles Denken und alles Tun ein Baum ohne Gipfel, eine Säule, wo die Krone herab geschlagen ist.“
(Friedrich Hölderlin)
Hugo Hahn wartete mit seiner Mutter vor der Fleisch- und Wursttheke beim Fleischermeister Zinke. Die Schlange war freitags wie immer lang und manche Frauen langweilig langsam, weil sie doch lieber nur 4 Scheiben von dem gekochten Schinken haben wollten, dann doch lieber keinen, dafür aber von dem rohen zweihundert Gramm, nein, doch nur hundert. Hugo war vier Jahre alt und sah, wenn er sich etwas streckte, die aufgestapelten wohlriechenden Wurstscheiben und -stücke hinter der Glasscheibe, ganz nah vor seinen Augen. Die gingen ihm förmlich über, denn es war, vier Jahre nach dem Krieg, immer noch eine hungrige Zeit im Lande. Der Onkel aus dem Westen schickte keine Pakete. Er war nicht evangelisch. Frau Zinke bemerkte offensichtlich das sehnsuchtsvolle Gesicht des kleinen Jungen und seine flinke Zunge, die nervös zwischen den geschlossenen Lippen hin und her wischte. Sie nahm eine Scheibe von der frischen Jagdwurst, faltete sie zwischen zwei Fingern langsam zusammen und steckte sie lächelnd in Hugos weit aufgerissenen Mund. Das war eine Freude! Der volle Geschmack dieser hervorragend gewürzten Köstlichkeit breitete sich sofort in seiner Mundhöhle aus, durchquerte von innen kommend die Nase und wurde erneut durch den Mund angesogen. Sein Riechorgan kam mit dem Schnüffeln kaum nach. Hugo konnte sich nicht beherrschen, die Scheibe langsam zu genießen. Er verschlang sie hastig und bekam sofort einen unbändigen Appetit auf eine zweite. Die Mutter aber zog ihn weg von dieser verführerischen Glasscheibe und bedankte sich mit rotem Kopf bei Frau Zinke. Danach beschloss der Junge, Fleischer zu werden.
Ein paar Jahre später beschloss Hugo, Musiker zu werden. Er hatte tief unten im großen Kleiderschrank die Musikinstrumente seines im Krieg gefallenen Vaters entdeckt: Zwei Trompeten, zwei Geigen, zwei Klarinetten und einen Notenständer. Musiker dufte er aber nicht werden, weil die an Wochenenden immer unterwegs sind und ihre Frauen alleine lassen, erklärte ihm seine Mutter. Außerdem wären
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2023
ISBN: 978-3-7554-6131-9
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