Aasima und ihr Bruder Aaron freuten sich, dass sie ihre großen Ferien wieder bei Oma und Opa in Wiede verbringen durften. Sie liebten diesen kleinen verträumten Ort am Wiedesee und sie liebten auch den Wiedewald, der unmittelbar hinter dem Haus der Großeltern, der ehemaligen Försterei, begann. Nach der Pensionierung des Großvaters als Förster blieb den Großeltern zum Glück ihre Dienstwohnung erhalten. Von da an nannte man das etwas abseits vom Ort stehende Haus "Alte Försterei". Eine neue, moderne wurde neben dem Rathaus gebaut. Die "Alte Försterei" war ein gemütliches Fachwerkhaus mit knarrenden Dielen, Balken und Treppen. Es hatte kleine Fenster mit grünen Fensterläden, die abends geschlossen wurden. Das Haus war so weit in Ordnung, wie der Opa oft betonte. Nur das Dach musste noch einmal repariert werden.
Über die Herkunft des Ortsnamens erzählte man sich folgende Geschichte: Wo heute die schmucken Häuser, die Gehöfte und die Kirche stehen, war früher nur Wiese, die von den ersten Siedlern als Weide genutzt wurde. Man sagte damals "Wiede". Erst nach und nach wurde sie Bauland. Das erfuhren auch die Kinder von ihren Großeltern, als sie einmal danach fragten. Nach Wiede fuhr noch nie eine Eisenbahn, nur dreimal täglich brachte ein Bus die Einwohner in die nächste Stadt, damit sie ihre Wege erledigen konnten. Eine kleine Nebenstraße verband den abgelegenen Ort mit einer breiteren Straße, die ihrerseits zwei größere Orte verband. Wiede war ein sehr ruhiger Ort, den manche Leute besonders an trüben Tagen sogar als etwas unheimlich empfanden. Nach Sonnenuntergang war kaum noch jemand draußen, nur hin und wieder ein paar Zecher, die lärmend aus dem Gasthof kommend, nach Hause wankten.
Nach diesem aufregenden Tag war auch für Aasima und Aaron die Zeit zum Schlafengehen gekommen. Der Schulabschluss, die Vorbereitung auf die Ferien, die Freude auf das Wiedersehen mit den Großeltern nach einem Jahr, die lange Autofahrt und die ersten Stunden in Wiede waren doch etwas zu viel für die Kinder und hatten sie ermüdet. Die Eltern waren nach einer Pause, die bei Kaffee und Kuchen schnell vorüberging, schon wieder auf dem Rückweg.
Aasima und Aaron richteten sich nach der Verabschiedung von ihnen in der Mansarde ein, in der die Oma zwei Betten frisch bezogen hatte. Auch ein Blumenstrauß stand mitten auf dem Tisch. Mansarden sind in einem Haus immer ganz oben unter dem Dach. Nach dem Ersteigen der knarrenden Treppe zum Dachboden stand man auf einem kleinen flurähnlichen Plateau von vielleicht zwei mal zwei Metern. Linkerhand befand sich die Tür zur Mansarde. Das geräumige Zimmer wurde früher einmal als Gästezimmer vom Dachboden abgetrennt. Vom Giebelfenster aus konnte man auf den See schauen. Die Inneneinrichtung war zweckmäßig. Neben zwei Betten, die eigentlich nur Liegen waren, standen noch zwei Nachttischschränkchen, ein Kleiderschrank, ein Tisch mit vier Stühlen und zwei Sessel in diesem Raum. Ein großer Teppich, helle Gardinen, ein mannshoher Gummibaum und ein paar Landschaftsbilder sorgten für Gemütlichkeit.
Gegenüber der Mansardentür war die Tür zum Dachboden. Dort wurde an Regentagen oder im Winter die Wäsche aufgehängt. Außerdem diente er zum Abstellen von alten Sachen wie Schachteln, Kisten, Papiere, Bücher, Hausrat und Möbel, eben das, was niemand mehr brauchte. Selten betrat jemand diesen unwirtlichen, dunklen und staubigen Ort. Aaron aber fand den Dachboden hingegen sehr geheimnisvoll und interessant und würde am liebsten dort herumstöbern. "Geht nicht auf den alten Boden. Dort liegt nur altes Gerümpel", warnte die Oma immer wieder und ergänzte gern: "Die Vergangenheit soll man ruhen lassen. Außerdem ist es da duster und muffig." Aasima überzeugte sich stets, ob der Schlüssel von außen steckte und ob die Tür zum Boden verschlossen war. Erst dann huschte sie schnell in die Mansarde und drehte von innen den Schlüssel herum.
Nach dem Abendbrot saßen die vier noch eine Weile beim Kerzenlicht zusammen und erzählten sich Dieses und Jenes. Sie ließen den Tag "Revue passieren". Die Kinder berichteten, was sie auf der Fahrt erlebt hatten und was sie in den nächsten Tagen vorhatten. Morgen wollten sie eine Bootsfahrt auf dem See unternehmen. Opa erzählte ein paar spannende und lustige Episoden aus alten Zeiten, auch Geschichten, die die Oma im Gegensatz zu den Kindern nicht so gern hören wollte. Diese "Dämmerstunde", wie sie die Zeit nannten, war inzwischen zu einer schönen Tradition geworden und galt als eine bessere Vorbereitung auf die Nachtruhe als ein aufregender Film im Fernsehen. Nach einer guten Stunde drängte die Oma dazu, für heute Schluss zu machen. Die Kinder tappten nach oben. Aasima rüttelte prüfend an der Bodentür, während Aaron schon in der Mansarde verschwunden war.
Er knipste auch als erster seine Nachttischlampe aus und huschelte sich in seine Decke. Seine Schwester wünschte ihm eine gute Nacht, was er, schon im Halbschlaf, mit einem undeutlichen Murmeln beantwortete. Dann berührte auch sie den Druckschalter ihrer Lampe. Sie bemühte sich, mit den Augen das Dunkel zu durchdringen. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Möbel schwach und schemenhaft zu sehen waren. Im Hause war es ganz still. Sie hörte, wie Aaron leise und gleichmäßig atmete. Hatte sie die Mansardentür von innen verschlossen? Sie war sich dessen plötzlich nicht mehr sicher und versuchte sich einzureden, es getan zu haben. Es kamen ihr aber Zweifel auf, die ihr keine Ruhe ließen. Leise tappte sie zur Tür. Es war alles in Ordnung und sie ärgerte sich wegen ihrer Ängstlichkeit. Es dauerte noch eine Weile, bis auch sie endlich eingeschlafen war.
Aasima wurde nach
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Wolf Rebelow
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2023
ISBN: 978-3-7554-3670-6
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