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Kapitel 1

Die Sonne ging gerade auf, und die ersten Strahlen trafen die Gasse hinter einem großen Einkaufszentrum. Es war noch vor Geschäftsöffnung, weswegen noch keine Menschen weit und breit zu sehen waren. Katherine, eine 21-jährige Obdachlose, hatte diese Gasse vor nicht allzu langer Zeit entdeckt. Die Gasse war auf ihrer ganzen Länge mit Müllcontainern vollgestellt. Ein wahres Paradies für Katherine, und scheinbar hatte sie vor ihr noch kein anderer entdeckt. Um diese Uhrzeit jedenfalls war die Gasse völlig verlassen.

 

Katherine lebte ihr Leben nur nach einem Motto: „Man sollte nicht zu habgierig sein.“ Deswegen durchsuchte sie auch immer nur einen Müllcontainer. Es war beinahe wie ein Ritual für Katherine. Sie begann beim ersten und ging Tag für Tag einen weiter, bis sie am Ende der Gasse angelangt war; dann fing sie von vorne an. Als sie allerdings an diesem Tag beim ersten begann, war sie nicht wenig erstaunt. In dem Müllcontainer lag eine Tasche. In dieser Tasche befand sich ein neuer, schöner Pullover. Das Seltsame daran war, dass auch eine Rechnung dabei war. Sie sah sich um, doch es war niemand anderes dort zu sehen. Erfreut nahm Katherine den Pullover an sich. Seit Jahren hatte sie so etwas Schönes nicht mehr besessen. Am zweiten Tag, als sie wieder dort war, wunderte sie sich nicht wenig, als sie im nächsten Müllcontainer eine Hose fand. Ebenfalls mit einer Rechnung dabei. So ging es die nächsten Tage weiter. Sie fand alles, was sie brauchen konnte: Socken, Schuhe, einen Schal und so weiter. Zu ihrer noch größeren Verwunderung genau in ihrer Größe. Zwischendurch war auch mal Schokolade dabei.

 

Bevor sie den Pullover gefunden hatte, hatte ihr Tag aus nichts weiter bestanden, als aufzustehen und so gut wie möglich zu überleben. Nun konnte sie beim Erwachen bereits die Vorfreude, wieder etwas neues Schönes zu finden, spüren. Eine bereits seit Jahren nicht mehr empfundene Freude. Doch dieser Tag sollte ihr noch viel mehr bringen und ein noch größeres Glück, als sie sich zu träumen erhofft hatte. Mit leicht geröteten Wangen ging sie an das Ende der Gasse. Sie war wieder einmal am Ende angelangt. Der fünfzehnte Müllcontainer. Behutsam stieg sie hinein. Wie die Tage zuvor, fand Katherine darin wieder eine Tasche. Aufgeregt sah sie hinein. Es war ein schön verpacktes Geschenk darin. Mit zitternden Fingern nahm sie es heraus und öffnete es vorsichtig. Darin befand sich eine durchsichtige Box, in der wiederum eine wunderschöne rote Blüte lag. Auf der Box lag ein Brief. Verwundert nahm sie den Brief zur Hand. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn öffnen sollte. Immerhin konnte dieser Brief niemals für sie sein. Etliche Minuten verstrichen, in denen sie ihn nur unschlüssig anstarrte. Doch am Ende siegte ihre Neugier. Katherine öffnete den Brief und las ihn aufmerksam. Als sie am Schluss angelangt war, war sie nur umso mehr verblüfft. Denn darin stand: „Hallo. Ich weiß, du kennst mich nicht, und ich dich auch nicht wirklich. Ich habe dich einmal gesehen, als du einem kleinen Kind etwas geschenkt hast, das ihm gefiel und du eben gefunden hattest. Die Selbstlosigkeit, mit der du dem Kind eine Freude gemacht hast, und dein Lächeln daraufhin, haben mich tief berührt. Als ich dich dann bei den Müllcontainern sah, dachte ich mir, ich möchte dieses Lächeln gerne wieder sehen. Deswegen habe ich jeden Tag etwas für dich dagelassen, und jedes deiner Lächeln hat mein Herz berührt. Ich nahm mir vor, dir am Ende dieser Gasse diesen Brief zu schreiben. Diese Blume soll dir sagen, dass du meinen Tag immer wieder zum Erblühen bringst, und ich würde mich sehr freuen, wenn du mit mir etwas essen gehen würdest, damit wir uns kennenlernen können. Wenn du mir diese Chance gibst, dann nimm bitte die Blume aus der Box.“

 

Vollkommen verwirrt las sie den Brief erneut. Doch tatsächlich schien er an sie gerichtet zu sein. Danach starrte Katherine stumm auf die Blume, während ihr immer wieder die Worte des Briefes durch den Kopf gingen. Sie sah sich abermals in der Gasse um, konnte aber nach wie vor niemanden entdecken. Etliche Zeit verstrich, in der sie sich kaum bewegte. Schlussendlich siegte wieder einmal ihre Neugierde. Sie wollte unbedingt wissen, wer dieser geheimnisvolle Jemand war, der ihr diese wunderschönen Geschenke gemacht hatte. Leicht zögerlich öffnete sie die Box und entnahm die Blume. Kurz darauf trat aus einem nahen Schatten des Gebäudes ein Mann. Seine strahlenden Augen auf sie gerichtet und mit einem glücklichen Lächeln auf seinen Lippen trat er zu ihr. Mit einem „Hallo“ reichte er ihr die Hand und half ihr aus dem Müllcontainer. Sein Name war Richard, und scheinbar kam auf dem Weg zu seiner Arbeit jeden Tag an dieser Gasse vorbei. Sie verbrachten die nächsten Stunden gemeinsam auf einer nahegelegenen Bank und unterhielten sich, während die Sonne immer heller auf sie niederstrahlte. Und Katherine hatte nichts dagegen, später mit ihm Essen zu gehen.

 

Noch Jahre später würden sie allen ihre Geschichte erzählen. Die Geschichte von den fünfzehn Müllcontainern, die ihr Weg zum gemeinsamen Glück gewesen waren.

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Tag der Veröffentlichung: 08.10.2016

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