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WEIHNACHT IM HERZ

ALICA H. WHITE

 

 

 

 

 

 

1

»Wenn Sie diese Frage beantworten können, geht es für Sie und eine Begleitperson an Weihnachten für zehn Tage nach Hawaii.« Mit diesen Worten lässt der Quizmoderator der Sendung Sommerfeeling die Spannung steigen. »Sind Sie bereit?«

»Ja, klar«, antworte ich ungeduldig. Mein Herz schlägt bis zum Hals, meine Ohren glühen. Gut, dass ich bei einem Anruf nicht im Fernsehen zu sehen bin, denn ich rutsche zappelig auf meinem Sessel hin und her. Es ist aber auch vergleichbar mit einem Sechser im Lotto, dass ich an der Zuschauerfrage bei diesem Reisequiz teilnehmen darf. Es ist nicht leicht, da durchzukommen. Ich habe es schon oft versucht.

In der Sendung werden Last-Minute-Reisen verlost, da muss man spontan sein können. Zehn Tage Hawaii, was für ein Traum bei diesem Winterschmuddelwetter. Diese Chance möchte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.

Okay, wenn ich mir die Telefonkosten der letzten Jahre zusammenrechne, hätte ich die Reise vielleicht auch so bezahlen können, aber dann wäre es nicht derselbe Kitzel. Also ist es ein Grund mehr, es jetzt nicht zu vermasseln.

»Na dann«, heizt der Moderator, Günter Schlauch, meine Nervosität weiter an. Dass diese Quiztypen den Spannungsbogen auch immer überziehen müssen. Nervös beiße ich auf meine Fingernägel, als ein Knacken durch die Leitung kommt.

›Geht es jetzt bitte endlich los?‹, sende ich ein Stoßgebet zum Himmel.

Der Moderator lächelt noch einmal tiefenentspannt zum Studiopublikum, dann holt er endlich Luft. »Was sagen die Hawaiianer, wenn sie den Daumen und kleinen Finger nach oben halten, dabei die restlichen drei nach unten, und gleichzeitig die Hand drehen?« Der Moderator formt die Hand wie beschrieben, sodass sie wie eine Gabel aussieht.

Gut, dass ich mich ein wenig mit dem absoluten Traumziel am anderen Ende der Welt auseinandergesetzt habe. Diese Frage kann ich locker beantworten. »Hang Loose«, sage ich sicher. »Das bedeutet so viel wie ›entspann dich mal‹.«

Die Gewinnmelodie erklingt, virtuelles Konfetti regnet über den Bildschirm.

Wow! Ich habe es geschafft!

Ich bekomme fast keine Luft vor Freude. Tränen der Rührung steigen auf.

»Genau. Sie haben die Frage richtig beantwortet«, bestätigt Günter Schlauch überschwänglich. »Und gleichzeitig haben Sie auch die zweite Frage beantwortet, nämlich was das Zeichen bedeutet. Ich denke, diese Reise haben Sie sich redlich verdient.«

Eine geballte Mischung Adrenalin und Endorphine durchflutet meinen Körper. Die warme Glückswoge schwappt über mich hinweg und lässt mich nicht mehr klar denken. Gewinnen ist wie ein Rausch.

»Da bin ich aber froh, dass ich nicht auf dem Schlauch gestanden habe«, gestehe ich keuchend.

Erst als der Moderator pikiert sein Gesicht verzieht, fällt mir sein Name wieder ein. Oh Mann!

»Ich auch«, erwidert Günther Schlauch lachend und überspielt damit die Situation.

Das ist mal wieder typisch für mich. Wo kein Fettnäpfchen ist, finde ich trotzdem noch eins, damit ich hineintreten kann. Ich schüttle den Kopf. Unbegreiflich, dass ich diesmal tatsächlich gewonnen habe. Meine Wangen glühen, mein Gesicht muss rot wie eine Tomate sein.

»Dann leite ich Sie mal weiter. Ein Mitarbeiter wird sich um alles Weitere kümmern«, höre ich nur noch am Rande.

Ein Sendermitarbeiter notiert meine Adresse für die Reiseunterlagen. Dann lege ich, immer noch zitternd, auf.

Der nächste Schritt wird sein, die freudige Botschaft meinem Verlobten Till zu überbringen. Der wird sicher schön staunen, dass ich doch einmal Glück hatte. Er hat sich ständig über die hohen Telefonkosten aufgeregt. Aber was soll ich machen? Ich liebe nun einmal Gewinnspiele, und endlich ist einmal was auf dem Haben-Konto zu verzeichnen. Mit einem kribbelnden Triumphgefühl mache ich mich auf.

Till ist nicht nur mein Verlobter, sondern auch mein Geschäftspartner. Zusammen haben wir uns das kleine Marketing-Unternehmen aufgebaut. Ich mache alles, was mit dem Druck, Grafiken und Texten zu tun hat. Er kümmert sich um die Kundenakquise und die Zahlen. Sein Job ist angesichts der Mordskonkurrenz in dieser Branche eine Heidenarbeit. Wir beide sind schon lange urlaubsreif.

Was gibt es da also Schöneres, als in der Sonne zu entspannen?

Okay, auf die stimmungsvollen Feiertage werden wir dieses Jahr verzichten müssen, obwohl ich die eigentlich liebe. Aber es ist ja nur für ein Mal. Nächstes Jahr können wir sie wieder mit Tills Eltern verbringen. Da geht es zwar immer etwas steif und förmlich zu, aber auch sehr traditionell.

Ich liebe diese Bräuche, mit Gottesdienstbesuch am Heiligen Abend, Singen vor der Bescherung, Nüsse knacken und essen, bis einem schlecht wird. Danach sehen wir uns Der kleine Lord an und trinken dabei Wein. Aber nicht zu viel, damit nicht zu viel Wahrheit drin liegt und womöglich Streit aufkommt. Streit an Weihnachten, das geht gar nicht.

2

Auf dem Weg zu unserer kleinen Firma muss ich über den Weihnachtsmarkt. Am ersten Advent war es dort himmlisch. Es war richtig schön kalt. Der Glühwein schmeckte hervorragend und wärmte die vom Frost gekühlten Füße. Heute, am Samstag vor dem vierten Advent, ist das Wetter wieder einmal umgeschlagen. Dreizehn Grad und Nieselregen – typisches deutsches Weihnachtswetter. Wahrscheinlich gibt es in dieser Quizsendung zu Weihnachten immer nur Reisen in die Sonne zu gewinnen, weil die in den Schnee ausgebucht sind.

Der Weihnachtsmarkt ist trotz des schlechten Wetters voller Leute. Müssen die gar nicht arbeiten? Manche wollen sich sicher das Wetter ›schöntrinken‹, andere amüsieren sich auf der künstlichen Eisbahn.

Die angehende Dämmerung bringt die Lichter zur Geltung, und die Gerüche lassen irgendwie eine festliche Stimmung aufkommen. Ich werde hier mit Till sicher auch gleich feiern gehen.

Als ich die kleine Firma betrete, ist es merkwürdig still. Wo ist denn nur Till? Er wollte sich doch mit Merle Meier, der Besitzerin einer Kette Nagelstudios, treffen. Plötzlich dringt ein Kichern aus dem Büro. Ah, sie werden sich noch besprechen.

Nur kurz klopfe ich an die Tür, um sofort danach in Tills Büro zu treten. »Überraschung, Till!«

Doch was ich da sehen muss, lässt schlagartig alles Blut aus meinem Kopf weichen.

Überraschung, Leonie!

Till dreht sich um und sieht mich böse an. Sein Hemd ist aufgeknöpft, die Hose heruntergelassen und gibt den ungeschönten Blick auf seinen prächtigen Hintern frei. Definitiv, mein Verlobter hat sein Übergewicht nicht nur am Bauch. Bisher ist mir das noch nie so schonungslos klar geworden.

Ich schnappe nach Luft. Die Meier liegt mit gespreizten Beinen auf meinem Schreibtisch. – Klar, sonst hätte Till seinen aufräumen müssen. – Erschrocken stützt sie sich auf die Ellenbogen. Ihre Bluse ist aufgeknöpft, die Möpse hüpfen frech aus dem viel zu knappen BH. Sie sind prall und stramm wie zwei Soldaten – garantiert silikongepimpt.

Hab ich eigentlich keine anderen Gedanken? Nein, denn mir wird übel. Mein Magen ballt sich zu einem riesigen Klumpen. Meine Knie werden weich, während das Blut in meinen Ohren rauscht.

Tills Firmenslogan lautet: ›Nah am Kunden‹. Und er ist verdammt nah am Kunden. Deutlich zu nah für meinen Geschmack.

»Kannst du nicht anklopfen?«, schnauzt er ungehalten.

Er versucht gar nicht, seine Hose hochzuziehen, sondern sieht mich wütend an, als ob ich etwas Ungehöriges getan hätte. Von schlechtem Gewissen keine Spur. Das löst bei mir immer eine Art devoten Reflex aus.

»Ich wusste ja nicht …«, stottere ich und muss schlucken. Der dicke Klumpen aus dem Magen steigt bis in die Kehle. Verdammt, er lässt sich nicht runterschlucken, ich bekomme kein Wort weiter heraus. Wie angewurzelt stehe ich da und starre auf die Szene.

Ich finde, Till könnte wenigstens ›Es ist nicht so, wie es aussieht‹ sagen.

Die Meier mustert mich herablassend, bevor ein freches Grinsen auf ihrem Gesicht erscheint.

Mit geballten Fäusten halte ich ihrem Blick stand. Mein Blut steigt langsam wieder in den Kopf, der jetzt zu platzen droht. Ich habe das Gefühl, dass meine Augen aus den Höhlen treten. Vor Wut bekomme ich immer noch kein Wort heraus.

Nun scheint selbst sie meine ungnädige Stimmung zu erfassen.

»Ich glaube, ich lasse euch jetzt besser allein, damit ihr reden könnt«, murmelt Miss Busenwunder und hüpft etwas ungelenk vom Schreibtisch. Ihre High Heels klacken kurz darauf auf dem Linoleum. Lässig zupft sie ihren Rock herunter, um anschließend betont gelassen auch den Vorbau wieder zu verhüllen.

»Nein, warte!«, ruft Till dazwischen. »Ich wollte schon lange mit Leonie reden.«

Was wollte er? Ich verstehe nicht ...

Die Meier stutzt. »Wolltest du? Ich dachte, das hättest du schon?«

Ich schnappe nach Luft, als ich langsam kapiere.

Till hebt die Hand.

»Mit mir reden? Ich glaube, da gibt’s nichts mehr zu reden«, presse ich hervor. Wütend drehe ich auf der Hacke um und verlasse stampfend die Firma. Mein Gehirn wird nur noch von einem Gedanken beherrscht: Bloß weg hier!

Da hat mir der Weihnachtsmann ja eine schöne Überraschung beschert!

Oh, nun scheint mir die andere Seite vom Erdball gerade die richtige Entfernung zu meinem Verlobten! Soll der sich doch gehackt legen!

Am liebsten würde ich sofort abreisen, allerdings werden vor Dienstag nicht die Reiseunterlagen eintreffen.

Herr, lass es schnell Dienstag werden!

Dass Till noch nicht einmal den Anstand hat, mir hinterherzulaufen, lässt meine Empörung noch weiter wachsen. Der wird mich so schnell nicht wiedersehen! Wutschnaubend streife ich meinen Verlobungsring vom Finger und stecke ihn in die kleine Tasche meiner Jeans. Den muss ich aufbewahren, damit ich ihn demnächst vor seine Füße knallen kann. Die Vorstellung verschafft mir leider nur eine winzige Genugtuung. Ich sollte jetzt einen kühlen Kopf bewahren.

Irgendwie muss ich runterkommen, von der Palme.

Palmen … hawaiianische Palmen. Daran sollte ich jetzt besser denken.

Irgendwo hier auf dem Markt ist doch ein Stand mit Fruchtpunsch. Ananaspunsch, mit jeder Menge Rum und Sahne. Das wäre jetzt genau das Richtige, um sich in Stimmung zu bringen.

Der Markt ist inzwischen noch voller geworden – die Leute auch. Irgendwo dudelt ständig Weihnachtsmusik und lullt einen ein – oder auch nicht, wenn man zu dicht am Lautsprecher steht. Zielstrebig steure ich den Punsch-Stand an und bestelle den ersehnten Ananaspunsch. 

Während ich darauf warte, sehe ich mir den Wagen genauer an. Er macht direkt Lust auf Weihnachten unter tropischer Sonne, denn seine Deko-Motive bestehen aus Fotos von tropischen Früchten vor einer Strandlandschaft mit blauem Himmel. Ein paar Tannenzweige mit kleinen Lichtern und Weihnachtskugeln zaubern Weihnachtsstimmung. Im Sommer wird aus diesem Wagen sicher im Handumdrehen eine Cocktailbar. Unwillkürlich muss ich seufzen.

»Was darfs sein?«, fragt mich die Bedienung mit einer Reibeisenstimme.

»Einen Ananaspunsch. Bitte mit einer doppelten Portion Rum.«

»So schlimm?«

»Schlimmer. Eigentlich bräuchte ich auch doppelt Sahne, aber dann wiegen nachher nicht nur meine Probleme schwer.«

Die ältere Frau nickt.

»Verstehe«, murmelt sie und dreht sich weg, um den Punsch abzufüllen.

»So, hier bitte schön, einmal mit doppelt Rum, die Dame«, verkündet sie gleich darauf und stellt mir das heißersehnte Getränk hin.

Vorsichtig puste ich ein wenig, bevor ich von dem sahnig-süßen Getränk nippe. Es schmeckt einfach köstlich! Direkt nach mehr. Deswegen bestelle ich gleich ein zweites Glas, nachdem ich das erste in Rekordzeit geleert habe. Wartend sehe ich mich um.

Erst jetzt fällt mir auf, wie einsam ich doch bin. Alle anderen Leute auf diesem Markt scheinen als Pärchen oder Grüppchen da zu sein. Schon wieder muss ich seufzen. Der zweite Punsch rollt an, und ich nehme gleich einen kräftigen Schluck. Er ist noch ziemlich heiß, und ich verbrenne mir den Mund. Na prima! Das hat ja auch noch gefehlt.

Zwangsläufig wälze ich mich noch ein bisschen in meinem Selbstmitleid. Ein Rabe landet auf dem übervollen Abfallkorb und schnappt sich ein Stück Lebkuchen. Gleich kommen seine Kameraden und wollen es ihm abjagen. Schöne Freunde.

Gut, dass ich hier bald weg bin, allein Weihnachten zu feiern wäre der Super-GAU. Obwohl … Wenn ich die Reise nicht gewonnen hätte, wäre ich auch nicht in der Firma aufgekreuzt. Wie sagt man doch so schön? Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß. Zwar wäre Tills Affäre wohl irgendwann auch so aufgeflogen, aber höchstwahrscheinlich erst nach Weihnachten. Dann wäre es schwerer, über das Gefühl der Einsamkeit hinwegzukommen.

Hab ich mir da gerade gewünscht, die Reise nicht gewonnen zu haben? Wie blöd kann man sein? Gegen die Enttäuschung kämpfend umklammere ich den Punsch. Durch die Dämmerung ist es inzwischen kalt genug, um ihn schnell abkühlen zu lassen. So lange will ich nicht noch einmal warten, gleich bestelle ich mir den nächsten.

Der dritte Punsch hüllt mich endlich in watteweich-sahnige Seligkeit. Mein Ärger ist mir fast egal geworden. Ich will mich über meinen Gewinn freuen. So lasse ich mich von der Deko des Wagens hypnotisieren und träume mich in die Südsee.

»Oh welche Anmut in diesem schönen Gesicht. Dein Lächeln ist so bezaubernd. Du warst bestimmt immer artig, da kann ich dir ohne Umschweife eine Zuckerstange zukommen lassen.«

Ich blicke auf. Ein alt aussehender Weihnachtsmann mit verdächtig junger Stimme steht grinsend vor mir. Umständlich kramt er in seinem Sack und fischt eine der klassisch rot-weiß gestreiften Süßigkeiten heraus. Er leckt sich über die Lippen, während er mich mit Blicken verschlingt. »Wenn dir das nicht genug ist, habe ich auch noch eine dickere Zuckerstange für dich. Die könnte ich dir allerdings nur zu Hause geben.«

»Ich darf nichts von fremden Männern nehmen«, versuche ich, die plumpe Anmache abzuwehren.

Allerdings steigen sofort wieder die Bilder von Till und Fräulein Meier in meinem Kopf auf. Fuck! Ich glaube, ich habe noch nicht genug getrunken. Wäre es eine gelungene Rache, wenn ich diesem anzüglichen Typen nach Hause folge? Unter dem Kostüm scheint ein ziemlich heißer Kerl zu stecken.

Nein, wahrscheinlich nicht, denke ich und unterdrücke ein Seufzen.

»Habt ihr für den Weihnachtsmann noch eine kleine Stärkung?«, fragt er die nette Bedienung. »Hab ich das schon erwähnt? Heute ist mein letzter Tag. Wir werden uns erst im nächsten Jahr wiedersehen, Engelchen. Ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll, du Lichtblick in der Wüste aufgesetzter Harmonie.«

»Ja klar, alter Mann«, kommt es kratzig von der grinsenden Bedienung zurück. Ohne eine nähere Erläuterung stellt sie ihm mit einem zuckersüßen Lächeln einen Grog hin.

»Danke«, raunt er ihr zu. »Du bist ein wahrer Engel.«

»Immer gerne. Aber nächstes Jahr bin ich für dich das Christkind.«

Die beiden kichern.

Das Christkind dreht sich um, und erst jetzt bemerke ich die goldenen Flügel auf ihrem Rücken. Die Aussicht auf Alkohol muss mich bisher abgelenkt haben, dieses Detail zu wahrzunehmen. Oder ich stehe einfach nicht auf Frauen.

»Aber sag mal«, wendet er sich wieder an mich, »müsstest du nicht auch solche Flügel auf dem Rücken haben?«

»Aber sag mal: Dürfen Weihnachtsmänner solch platte Anmache auf unschuldige Engelchen loslassen?«

Er grinst.

»Aber ja doch! Das ist schließlich eine Belohnung des Himmels, dass ich an meinem letzten Tag auf diesem Markt noch einmal so eine wunderbare Begegnung habe«, baggert der Weihnachtsmann unbeeindruckt weiter.

Seine Hartnäckigkeit gefällt mir, so kann ich meine Einsamkeit verdrängen und mich zumindest ein Stück weit für Tills Lotterleben rächen.

»Ja, es gibt Menschen, die schickt einem der Himmel«, antworte ich, stütze den Kopf auf die Theke und halte seinem bohrenden Blick stand. »Möchtest du noch einen Grog?«

Der Typ hebt seine angeklebten dicken, weißen Wattebrauen.

»Ja klar. Wer kann zu so einem Angebot schon Nein sagen«, antwortet er und stützt ebenfalls seinen Kopf auf.

Ich bestelle den Grog und mir einen neuen Punsch.

»Gibst du eigentlich allen Männern einen aus, die dir ein Kompliment machen?«

»Darf der Weihnachtsmann eigentlich so frech flirten?«

»Natürlich nicht!«, sagt er entrüstet. »Er darf nur mit Rauscheengeln flirten, die allein am Glühweinstand stehen und so aussehen, als ob sie Trost gebrauchen könnten.«

»So so, der Weihnachtsmann als Witwentröster.«

»Du bist schon Witwe?«, fragt er in einem Ton, der wohl nicht ganz ernst gemeint ist.

Ich nicke. »Fast.«

»Aha, Streit mit deinem Mann? Würdest du ihn gerne töten?«

»So ähnlich«, sage ich und stürze den Rest von meinem alten Punsch hinunter, denn die Bedienung stellt uns die gewünschten Getränke mit einem gekünstelten Lächeln hin. Fast kommt es mir vor, als ob sie ein bisschen neidisch auf meinen Casanova-Weihnachtsmann ist.

»Der Typ muss ein Idiot sein«, murmelt mein Süßholzraspler unbeirrt und schürzt abschätzig die Lippen.

»Ist er definitiv. Und ich bin natürlich blond und blauäugig, deswegen darf man mich verarschen«, bestätige ich zynisch und hebe das Glas. »Na dann: Prost.« Das Sprechen fällt mir schon etwas schwer, aber reden wird ja sowieso überbewertet. Ich hebe den neuen Punsch in Richtung meines Weihnachtsmanns, behalte mein Auge aber bei der Bedienung, die sich nichts mehr anmerken lässt.

»Prost, mein blondgelockter Engel! Aber sieh mir mit deinen wunderschönen blauen Augen in meine, Kleines … sonst gibt es sieben Jahre schlechten Sex.«

»Oh … oh, ja! Wer will das schon«, beeile ich mich zu sagen. Dabei fällt mir auf, dass ich schon lange keinen Sex mehr mit Till hatte. Ich habe es auf die viele Arbeit geschoben, muss es jetzt wohl mit neuen Augen betrachten. Wie lange das wohl schon mit den beiden geht?

Wir stoßen an und sehen uns dabei übertrieben intensiv in die Augen.

»Auf lebenslangen guten Sex!«, verkünde ich.

Der Weihnachtsmann grinst dreckig, und mir ist es egal. Es ist trotzdem ein Flirt, der mir ungemein guttut. Der Alkohol senkt meine Hemmschwelle, aber das ist mir gerade herzlich egal. Dabei bemühe ich mich redlich, ihm nicht zu viel vorzujammern. Leider gelingt das ab einem gewissen Pegel nicht mehr. Dazu fange ich eindeutig an zu lallen. Till sagt immer, wenn ich selber merke, dass ich lalle, ist es höchste Zeit, mit dem Trinken aufzuhören. Leider sind meine Gedanken nicht mehr klar genug, um diesen zweifellos sinnvollen Tipp noch umsetzen zu können.

»Ichhh saaag dir mal wasss … alllle Määnerr sin Scheisssse. Du hasss Glück, dassss du nuur ein Weihnachts …«, nuschle ich und fange an zu schwanken, »Mannnn … bist.« Puh, rausgebracht, jetzt muss ich mich erst mal festhalten. »Ups, mir wird übel.«

»Oha, dasss iss nich gut«, bestätigt die Flirtkanone.

Ich nicke großspurig. »Gegn Übelkeit hilft Allohol. Ich sauff dich unern Tisch.«

Auch Casanova schwankt ein bisschen. Das »Jupp« hört sich an wie Schluckauf.

»Eiiin Rum … puur bitte«, bestelle ich mit erhobenem Zeigefinger. »Duu auch noch einnn Drink?«, frage ich meinen Saufkameraden.

»Wer kann da schon widerstehn … obwohl … ich weiß nich, ob ich dann noch meinnn Mann stehn kann. Has du noch Interesse an meiner Zuckerstange?«

Ich grinse – wahrscheinlich eher dümmlich als anzüglich – und weiß nicht, was ich antworten soll.

»Wie heissst der Weihnachts…mann eiigntlliich mitm Vornam? … Klaus? Klaus-Dieter?«, frage ich stattdessen.

Casanova kichert. »Keinnne Ahnung. Horst oder Hugo? … Oder so.«

»Horrssst?« Meine Stimme überschlägt sich.

»Ja, Vollhorst«, kommt es plötzlich von der Seite.

Erschrocken blicken wir auf.

Noch ein Weihnachtsmann – nein zwei. »Fuck … sooo fiiile Weihhnaa … männer.«

Der neue, doppelte Weihnachtsmann wirft mir einen kritischen Blick zu, dann sieht er zum alten Weihnachtsmann, der sich ebenso auf geheimnisvolle Weise verdoppelt hat.

»Vvvier«, zähle ich.

»Brüderchen, du versäufst doch wohl nicht die ganzen Spenden, so wie letztes Jahr«, mahnt er.

»Iwo«, antwortet das doppelte Brüderchen. »Ich tröste nur dies Engelchen hier. Ich hab immerhin herausbekommen, dass alle Männer scheiße sind. Aber was soll ich dazu sagen?«

Wieso lallt er plötzlich nicht mehr?

»Sii sinn nich nuuur Scheisssse … sii sinn zum Koozzen«, ergänze ich.

»Du siehst aus, als solltest du besser etwas essen. Ich hab leider nur die Lebkuchen hier«, sagt der neue doppelte Weihnachtsmann und hält mir gleich zwei Packungen hin, die ich mühsam fixiere.

»Lebkuchn … legger«, antworte ich, und gleichzeitig bricht meine Übelkeit im wahrsten Sinne des Wortes aus mir heraus.

Zu spät springt der zweite doppelte Weihnachtsmann zurück, und etwas von meiner Übelkeit landet auf seinem Stiefel.

»Ohhh, Veseihuun … waruum pasiert dasss immeä nuur mir?«

»Dass man betrunken kotzt? Das passiert nicht nur dir«, reagiert er cool.

»Ohhh, ausserhalb der Weihhnaachsseit wooll haupberuflich Schschlaumeier? Neinnn alll das Unnglügg … immmer nuur mir«, erkläre ich mit erhobenem Zeigefinger.

»Ich glaube, du bringst deine charmante Gesellschaft jetzt besser nach Hause«, bemerkt Weihnachtsmann zwei zu Vollhorst-Weihnachtsmann. Der schüttelt pikiert den Kopf.

»Ohhh, ichhh hab gaar kein Zzzuhuusee. Ichh schlaaaf unner der Brügge … odder stürzzz mich runner … mal sehn, worauf ich Lusst hab.«

»Ich glaube, sie ist eher ein Fall für die Ausnüchterungszelle«, murmelt Vollhorst-Weihnachtsmann. »Hier liefen doch eben noch die Bullen mit den Rotkreuz-Helfern rum.«

»Ohhh, dasss nennnich Daankbaakeid. Sssich frreiihaldn lassn un dennn ffffftt«, lalle ich mit einer ausladenden Handbewegung.

»Stimmt das?«, fragt Weihnachtsmann zwei zu Vollhorst-Weihnachtsmann. Ich glaube, er sieht ihn ziemlich böse an. Oha.

»Sach ich dooch … alle Scheissse«, werfe ich ein.

»Na ja … ein paar habe ich auch ein paarmal bezahlt«, verteidigt sich Vollhorst.

»Du bist unmöglich, Alter.« Weihnachtsmann zwei schüttelt den Kopf.

»Was schlägst du vor? Mit ihr kann man doch nichts mehr anfangen. Das kam schlagartig. Die verträgt nichts! Willst du sie etwa mit nach Hause nehmen? Ich jedenfalls nicht«, antwortet Vollhorst.

Wie zur Bekräftigung seiner Worte übergebe ich mich wieder, allerdings schaffe ich es diesmal bis zum Papierkorb. Kraftlos lasse ich mich auf den Boden daneben sinken. »Maaacht euch keinne Sorgn … ich leech mich hier sum Sterbn hin … Heudde isss ein guder Tach zumm Sterbn.«

Theatralisch lehne ich mich mit dem Oberkörper an den Papierkorb und senke den Kopf. Ich bin so müde! Eine gleichgültige Dunkelheit umhüllt mich warm. 

»Hallo! Hallo Sie!« Wie durch einen Nebel dringt noch eine Stimme zu mir durch. Irgendetwas klatscht in mein Gesicht. Ich habe keine Kraft mehr zum Antworten und möchte nur ein bisschen schlafen.

»Fuck!«, flucht jemand. Ich glaube, das war Weihnachtsmann zwei.

3

Die Strahlen der Sonne stechen wie Dolche in meine Augen, als ich versuche sie zu öffnen. Aber ich muss wissen, wo ich bin und warum es mir so schlecht geht. Deshalb ist ein zweiter Versuch unvermeidlich. Diesmal dringen die Dolche bis in mein Gehirn und rühren die breiartige Masse dort um.

Ich setze mich auf. Mist! Warum ist mir so übel? Warum ist der Kopf auf meinem schwachen Körper nur so groß wie der Mount Everest? Warum schmerzt der Mount Everest? Wann hatte ich das letzte Mal solch ein böses Erwachen? Ich erinnere mich nicht. Oh je, ich erinnere mich an gar nichts. Was ist passiert?

»Scheiße«, murmle ich und sehe mich im Raum um.

Es ist ein Loft mit Backsteinwänden, nur spärlich mit ein paar alten Möbeln bestückt. So kunterbunt durcheinandergewürfelt stammen sie sicher alle vom Flohmarkt. Hier war ich noch nie, jedenfalls kann ich mich nicht erinnern. Es ist kalt, ich ziehe meine Decke ein Stückchen über den Körper. Dabei fällt mir auf, dass ich bis auf BH und Unterhose nackt bin. Verdammt! Was ist denn nur passiert?

Mein Gott, das wird ja immer schöner! Zumindest scheint hier kein Täter in der Nähe zu sein.

Krampfhaft versuche ich mich noch einmal zu erinnern, aber mein Kopf verweigert weiter jede Auskunft. Auf dem kleinen Tisch vor meinem Sofa steht ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit, daneben eine Rolle Aspirin. Ob das Wasser ist? Ich nehme es und rieche daran. Es ist höchstwahrscheinlich Wasser. Ein kleiner Schluck bestätigt meinen Verdacht. Instinktiv nehme ich ein paar Schlucke von dem Getränk. Es mildert ein klein wenig diesen höllischen Durst.

Im restlichen Inhalt des Glases löse ich eine Aspirin auf. Nachdenklich betrachte ich die tanzende Brausetablette und spüre, wie die Blasen mir beim Aufsteigen winzige Wassertröpfchen in mein Gesicht schleudern. Langsam klärt sich mein Kopf. Ich erinnere mich an die Freude über den Quizgewinn.

Mensch, toll, ich habe eine Reise nach Hawaii gewonnen!

Dann wollte ich die frohe Botschaft Till überbringen.

Mist! Der Kopfschmerz verstärkt sich, als mir die unschöne Szene in der Firma wieder einfällt. Schnell stürze ich das Linderung versprechende Tablettengebräu herunter und bin mir nicht sicher, ob nun das oder die Erinnerung meine Übelkeit wieder verstärkt. Kraftlos lasse ich mich zurück auf das Sofa fallen und ziehe die Decke über meinen Kopf.

Doch einmal angezapft, bohrt die Erinnerung weiter. An diesem Punschstand werde ich mich nächstes Jahr vorsichtshalber nicht mehr sehen lassen. Mein Appetit auf Ananaspunsch ist sowieso wie weggeblasen. Ich glaube, das mit dem Sterben war eine gute Idee. Warum hat man mich nur nicht gelassen? Die Übelkeit wird immer stärker. Mittlerweile ist mir hundeelend. Wann war mein Leben jemals so zum Kotzen?

Ich muss hier schnellstens verschwinden, schlafen klappt sowieso nicht mehr. Aber schon allein bei der Vorstellung, jetzt aufzustehen, könnte ich heulen. Es hilft nichts, ich muss mich auf die Suche nach einem Bad machen – später. Mein Blick fällt auf einen Papierkorb, neben dem Sofa. Schnell schnappe ich ihn mir, und schon bricht es aus mir heraus.

Dann sehe ich noch eine Flasche Wasser. Nach einem weiteren Glas lege ich mich wieder hin, um weiterzusterben. 

Als ich das nächste Mal wach werde, höre ich Geräusche in der Wohnung. Diesmal ist die Erinnerung schneller wieder da, was aber nicht heißt, dass ich mich besser fühle. Nur werde ich jetzt aufstehen müssen, denn ich kann wohl kaum in den Papierkorb pinkeln.

Ich schließe kurz die Augen und hole tief Luft, bevor ich mich aufrappele. Der gestrichene Betonboden kühlt meine nackten Füße. In Richtung Geräusche muss sich zumindest ein Mensch befinden. Der wird mir sagen können, wo ich hier gelandet bin. 

Das Duschwasser rauscht, als ich das kleine Bad betrete. Ich räuspere mich, werde aber offensichtlich nicht gehört.

»Guten Morgen«, begrüße ich, etwas lauter, mit kratziger Stimme die nackte Person hinter dem halbdurchsichtigen Vorhang. »Darf ich hier mal pinkeln?«

Das Wasser wird abgestellt, bevor sich der Kopf eines dunkelhaarigen Mannes hinter dem Vorhang hervorschiebt. Seine warmen, braunen Augen mustern mich ausführlich, bevor er »Mahlzeit« antwortet. »Ja klar, tu dir keinen Zwang an, wenn es dich nicht stört, dass ich mich abtrockne.«

Stört mich das?

»Könntest du dich vielleicht so lange hinter dem Vorhang abtrocknen, bis ich fertig bin?«, schlage ich vor.

Er seufzt. »Okay, dann gib mir das Handtuch, das dort über der Heizung hängt.«

Ich folge und bedanke mich. Mit dem Handtuch um die Hüften kommt er gerade hervor, als ich abziehe. Mir stockt der Atem beim Anblick seines sportlichen Oberkörpers, den sexy Tattoos schmücken. Sofort überlege ich, wie es wohl unter dem Handtuch aussieht, und muss grinsen, als ich an den Zuckerstangen-Weihnachtsmann denke. Dann schießt das Blut in meine Wangen, bevor ich meine Gedanken wieder zur Ordnung rufe. Was ist nur mit mir los?

»Wie heißt du eigentlich?«, fragt er und unterbricht damit meine Gedanken.

»Äh … Leonie.«

»Schön, Leonie, dass du wieder lachen kannst«, bemerkt er und zeigt eine Reihe makelloser Zähne. »Gestern wolltest du noch sterben.«

»Erspar mir bitte die Einzelheiten, wenn es nicht unbedingt notwendig ist.« Ich seufze. »Kannst du mir sagen, wie ich hierhergekommen bin?«

»Oh ja, ich hab dich mitgenommen, denn du wolltest dich von der Brücke stürzen.«

»Oh Mann.« Nun erinnere mich auch an dieses dunkle Kapitel.

»Na ja, wir haben die Sanitäter gerufen. Die haben festgestellt, dass du noch kein Fall fürs Krankenhaus bist, und vorgeschlagen, dich nach Hause zu bringen.«

Eine heftige Kopfschmerzattacke lässt mich an die Stirn fassen. »Fuck … ja.«

»Da war nur ein Problem. Deine Handtasche war plötzlich verschwunden. Die wird nämlich hilflosen Personen öfter geklaut.«

»Und ich habe gesagt, ich habe kein Zuhause«, dämmert es mir.

»Genau. Deshalb wolltest du dann erst recht unter einer Brücke schlafen oder dich wahlweise hinunterstürzen.«

Was soll ich jetzt nur antworten? »Sorry«, stottere ich. »Dann bist du einer von diesen Weihnachtsmännern?«

»Haarscharf kombiniert.«

»Der doppelte?«

»Häh?«

»Na ja, der eine ist doch der Vollhorst. Als dann ein zweiter dazukam, habe ich schon doppelt gesehen.«

Er lacht schallend. »Ja, dann bin ich wohl der doppelte. Der Vollhorst ist mein Halbbruder. Aber wieso Vollhorst?«

»Dann weißt du ja, wie der Vollhorst-Weihnachtsmann mit richtigem Namen heißt?«

»Jo, mein Bruder heißt Joachim. Aber warum willst du das wissen?«

»Wir haben uns gefragt, wie der echte Weihnachtsmann heißen könnte, und sind auf Horst gekommen.«

Der heiße Typ lacht laut auf. »Horst … klingt gut. Auch ein passender Spitzname für meinen Bruder.«

Irgendwie hat seine Stimme etwas Warmes, Beruhigendes. Er ist mir auf Anhieb sympathisch. Peinlich, dass ich ihn gleich mit meinem Mageninhalt attackiert habe.

»Ich hab dir auf die Stiefel gekotzt, oder?« Wieder plagen mich unschöne Erinnerungen.

»Jepp … Da gibt’s nichts zu beschönigen.«

»Das tut mir wirklich leid.«

»Macht nichts. Dieses Jahr brauche ich das Zeug nicht mehr, und du kannst es ja nachher wieder sauber machen.«

»Ehrensache«, beteuere ich, doch schon bei dem Gedanken wird mir übel. Man muss es mir ansehen, denn mein Retter lacht süffisant.

»Sag mal, ist dir gar nicht kalt?«, fragt er unvermittelt.

Wie sollte mir kalt sein, beim Anblick eines solch heißen Typen? »Na ja, schon. Weißt du, wo meine Sachen sind?«

»Ja, das Zeug habe ich in die Waschmaschine getan. Das stank ganz schön.«

»Danke«, stottere ich. »Vielmals.«

»Schon okay. Ich hatte auch mal eine Phase, in der es mir nicht gutging.«

Ich nicke verlegen.

»Jo hat gesagt, dass du Streit mit deinem Mann hast?«, fragt er und trocknet dabei seine kurzen Haare mit dem Handtuch.

»›Streit‹ ist nicht das richtige Wort. Meine Verlobung ist geplatzt, würde ich sagen. Aber das ist keine Entschuldigung dafür, sich so volllaufen zu lassen.«

Wie hypnotisiert beobachte ich sein Muskelspiel beim Abtrocknen.

»Mach dir keinen Kopf, manchmal ist man einfach wütend, und dann passiert so was. Damals haben mir auch Fremde geholfen, so konnte ich mich bei dir in gewisser Weise revanchieren. Irgendwie ist wohl an dem Spruch was dran, dass Betrunkene immer einen Schutzengel haben.«

Mein Bauch wird warm, als er das mit seiner außergewöhnlich angenehmen, dunklen Stimme sagt. Ein Timbre, das mir direkt in den Unterleib fährt. Was denke ich da nur schon wieder? Ich sollte doch wirklich die Nase von Männern vollhaben.

»Wenn du duschen willst … Ich werde dir ein T-Shirt von mir hereinlegen. Nach dem Duschen kommst du frühstücken, ja?«

»Danke … ich kann mich nur wiederholen.«

»Kein Ding.«

»Sag mal, wie hießt du eigentlich?«, frage ich meinen Wohltäter.

»Keanu«, antwortet der und verschwindet.

Das ist gut so, denn dann komme ich nicht in die Versuchung, blöde nachzufragen, ob seine Mutter Fan von Keanu Reeves war. Wie kommt man sonst auf so einen ungewöhnlichen Namen? Ob er darunter gelitten hat? Wie viele Kinder wohl das Kreuz tragen, nach Kevin Costner benannt worden zu sein?

Na ja, ich sollte nicht über seinen Namen nachdenken, sondern lieber duschen.

Ein Blick in den Spiegel bestätigt mir, dass ich genauso schrecklich aussehe, wie ich mich fühle. Wie konnte ich mich nur so gehenlassen? Das ist diese armselige Gestalt von Till doch gar nicht wert. Ich fasse mir vorsichtig ins Haar. Dieser krümelige Kram darin muss Erbrochenes sein. Ich muss sie dringend waschen! Vollhorst-Weihnachtsmann hätte sie mir ruhig beim Kotzen halten können, schließlich habe ich ihm einige Drinks ausgegeben. Aber der Typ hatte wohl Angst, dass ich seine Zuckerstange mit meinem Mageninhalt entweihe, und hat mich an seinen Halbbruder abgegeben.

Der hat allerdings bis jetzt keine Anstalten gemacht, mir seine Ausstattung zu zeigen, obwohl es mich durchaus interessieren würde. Gerade das macht ihn interessant. Aber was denke ich da schon wieder? Ich habe seit Monaten nur an meine Arbeit gedacht und nicht an Sex. Vielleicht war das mein großer Fehler. Vielleicht sollte ich mit Till noch einmal darüber reden. 

Das warme Wasser tut so gut. Genüsslich strecke ich mein Gesicht in den Wasserstrahl und versuche meine Gedanken zu sortieren. Ich bin hier betrunken bei einem völlig Fremden gelandet. Eigentlich sollte ich Angst oder etwas Ähnliches haben. Zumindest wäre eine gesunde Skepsis angebracht.

Manchmal ist es merkwürdig, gewissen Menschen vertraut man einfach. Er hätte meine Hilflosigkeit längst ausnutzen können, aber daran verschwende ich keinen Gedanken. Stattdessen habe ich das Gefühl, dass ich ihn schon ewig kenne, dabei weiß er noch nicht einmal meinen Namen. Er ist bestimmt ein toller Freund. So ein Kumpeltyp, auf den man sich immer verlassen kann.

»Hier ist das Shirt. Ich habe noch ein paar dicke Socken dazugelegt«, reißt mich seine Stimme aus den Gedanken. »Und eine neue Zahnbürste.«

»Nochmal danke!«, antworte ich.

»Nochmal, kein Ding.«

Nach dem Abtrocknen schlüpfe ich in das Shirt und finde es toll. Nicht nur, dass es groß und bequem ist, es riecht auch ein kleines bisschen nach ihm. Hmmm, er duftet gut. 

Die Küche brauche ich nicht zu suchen, denn das Loft ist eine Einraumwohnung. Keanu hat den Bollerofen angemacht. Der strahlt schon ein wenig Wärme ab. Ich rieche Kaffee. Meine Nase findet das gut, mein Magen nicht.

Da fällt mir der Papierkorb ein. »Oh sorry, ich muss noch schnell den Papierkorb leermachen.«

Keanu sieht mich verständnislos an.

»Ein kleiner Unfall … vorhin«, erkläre ich und zucke mit den Schultern.

Er zuckt mit den Mundwinkeln.

Schnell schnappe ich mir den stinkenden Korb und verschwinde Richtung Bad. Gott sei Dank war kein weiterer Abfall darin, sodass meine beschämenden Hinterlassenschaften schnell beseitigt sind.

Mit erleichtertem Gewissen setze ich mich an den Frühstückstisch, der von Keanu bereits vollständig eingedeckt ist. Er hat beeindruckend aufgefahren.

»Wohnst du nicht hier allein?«, frage ich ihn beim Hinsetzen.

Er nickt. »Doch, warum?«

»Na ja, weil du für eine Kompanie aufgefahren hast.«

»Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages«, klärt er mich auf, und ich nicke zustimmend.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragt er mich.

»Leonie. Sorry, dass ich dir das nicht gleich verraten habe, als ich dich gefragt habe.«

»Leonie, ein schöner Name.«

Ich lächle. »Ja, zumindest damit haben sich meine Eltern Mühe gegeben.«

Keanu hebt die Brauen, so, als ob er mehr von meinen Eltern erfahren möchte. Ich überspiele die Geste.

Insgeheim bin ich froh, mit ihm allein hier zu frühstücken. Er ist so ein süßer Typ. Umgehend rügt mich mein Gewissen, ob ich denn immer noch nicht die Nase von den Männern vollhabe. Ich muss den Verstand rügen, dass ich schon wieder Augen für die äußerlichen Vorzüge meines Retters habe. Wenn er doch nur nicht so verdammt sexy wäre …

Mir wird heiß. Puh! Aber der Bollerofen strahlt mittlerweile eine ganz schöne Hitze ab.

»Lebkuchen?« Lächelnd schiebt er mir eine Packung Oblaten-Lebkuchen hin. »Ich gestehe, ich kaufe die Dinger gleich immer im September, kann es gar nicht erwarten. Ich bin wohl süchtig nach dem Zeug.«

»Ich liebe Lebkuchen auch, aber nicht auf meinen angeschlagenen Magen. Hattest du mir die nicht schon auf dem Weihnachtsmarkt angeboten? Lief ja nicht so toll.«

»Ja, stimmt. Du sagtest, du liebst Lebkuchen und bist dann … ähm …«

»Oh ja, sorry. Das lag wohl mehr am Alkohol als am Lebkuchen«, entschuldige ich mich zerknirscht. »Ich liebe Lebkuchen … wirklich. Ich kauf mir auch immer gleich September die ersten. Zu Weihnachten kann ich das Zeug meist nicht mehr sehen.«

»Aha. Ja, also ich kaufe mir noch einen Vorrat, der meist bis Ostern reicht.«

»Ah ja? Krass.«

Keanu nickt und zieht die Augenbrauen zusammen.

»Na, jetzt mal raus mit der Sprache. Wolltest du wirklich gestern sterben? Es klang irgendwie besorgniserregend«, fällt er mit der Tür ins Haus.

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Alica H. White
Cover: Zeilenfluss
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2023
ISBN: 978-3-96714-398-0

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