Undercover ins Herz
Liebe unbewaffnet
ALica H. White
1
Totgesagte leben länger
Eine warme Brise weht durch die Häuserschluchten von New York, während ich mich auf den Weg zur Inquisition mache. Ich schätze, diese Mittagspause wird anstrengender als der Rest des ganzen Arbeitstages. Ich bin fast am Restaurant angekommen, da klingelt mein Smartphone.
»Hi Vivie, was gibt’s?«, frage ich meine Schwester.
»Ich habe gerade in deinem Büro angerufen und erfahren, dass du mit Mom essen gehst.«
Ich seufze. »Ja, leider. Ich treffe mich mit ihr in Sparks Steak House. Ich kann sie schließlich nicht immer abwimmeln.«
»Da? Wieso denn da? Da ist sie doch früher nie gewesen. Weißt du nicht, was das Restaurant für eine Geschichte hat?«
»Doch, natürlich. Da haben sich 1985 ein paar Mafiabosse die Kugeln um die Ohren geschossen. Aber wieso wundert dich das?«
»Ach, nur so. Bei Mom wundert mich gar nichts«, kommt es zögernd durchs Telefon.
»Ich denke, da es den Laden immer noch gibt, wird er gute Steaks haben und damit auch guten Salat. Das ist die Leibspeise unserer Mutter.«
»Was will sie denn? Wenn Mom Kontakt sucht, will sie doch immer was.«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich will sie mich mal wieder befragen, warum ich die Einzige bin, die noch nicht unter der Haube ist. Und vermutlich hat sie zufällig ein paar gute Kandidaten kennengelernt. Wie immer.«
»Echt jetzt? Wer kann das sein?«
»Keine Ahnung. Aber soweit ich weiß, hat sie einen neuen Freund. Da scannt sie doch gleich alle möglichen Kandidaten aus der Familie. Ein Geschwisterchen werden wir ja wohl kaum bekommen.«
Ein helles Lachen erklingt am anderen Ende der Leitung. »Bist du dir sicher? Bei unserer Mutter weiß man nie.«
»Ich werde dir berichten, worum es ging. Sei froh, dass du gerade in Texas bist und eine Ausrede hast, die Einladung abzulehnen. Ich beneide dich.« Ich seufze ins Telefon.
»Nicht, dass ich mich nach meiner Mutter sehne, aber sie hat mich überhaupt nicht eingeladen«, antwortet Vivienne nachdenklich.
Überrascht bleibe ich stehen. Warum lädt meine Mutter nur mich allein ein? Das ist unüblich, aber stärkt die These, dass sie mich mal wieder verkuppeln will. Dass sie meinen Bruder nicht einlädt, ist klar. Die beiden sind mittlerweile wie Hund und Katze. Immerhin ist Vivienne für Moms Vorstellungen einigermaßen gut versorgt. »Vielleicht wusste sie gar n…«
Rums! Irgendjemand ist mir hinten aufgelaufen, obwohl die Straßen gar nicht so belebt sind.
Wer ist mir so dicht auf den Fersen, dass er mit mir kollidiert, sobald ich stehen bleibe? Gerald, ist mein erster Gedanke. Ob ich meinem Bodyguard doch nicht entwischen konnte? Neugierig drehe ich mich um und schaue gegen die breite Brust eines heißen Typen mit Lederjacke.
Sein Anblick verwirrt mich, denn seine hellblauen Augen sehen mich ziemlich durchdringend an, bevor er sich verlegen durch die dunkelblonden, kurzen Haare fährt. Die Lederjacke spannt an den Ärmeln und deutet darauf hin, dass er ziemlich muskulös ist.
»Sorry, ich muss mit den Gedanken woanders gewesen sein«, sagt er erschrocken.
Sein Duft, der vom Leder dominiert wird, weht in meine Nase. Ich schnuppere unauffällig und schlucke, denn er gehört zu der Sorte Mann, die man sofort an sich reißen und küssen möchte.
»Kein Ding«, murmle ich konfus und weiß nicht, wohin mit meinem Blick. Am liebsten würde ich ihn damit verschlingen. Bloß weg hier! »Ähm … ich muss dann mal weiter.«
Der Typ nickt lächelnd und zeigt dabei eine Reihe ebenmäßiger Zähne.
Eilig setze ich mich in Bewegung und bin froh, dass ich bald das Restaurant erreicht habe. Ein Perserteppich mit großen beigefarbenen Ornamenten empfängt mich. Ich war noch nie in diesem für Touristen sicher sehr anziehenden Lokal. Goldgerahmte Bilder an den Wänden, eine dunkelrote Decke und die weißen Tischtücher mit farblich abgestimmten Stühlen geben dem Raum eine ganz besondere Atmosphäre.
Meine Mutter sitzt an einem Tisch, der beim Hereinkommen sofort ins Auge fällt. Wo auch sonst? Heute ist sie mal wieder so sehr mit Schmuck behängt, dass es sicherlich ihre Bewegungsfreiheit einschränkt. Sie hat schon immer gerne gezeigt, was sie hat.
»Hi Mom.«
»Da bist du ja endlich, Darling. Du bist zu spät«, säuselt sie, als ich ihr ein Begrüßungsküsschen gebe.
»Fünf Minuten. Ich bin nicht so schnell aus der Sitzung rausgekommen«, verteidige ich mich.
»Na, ist ja egal. Setz dich«, antwortet sie schnippisch.
Ich atme durch und folge.
»Was willst du essen?«, fragt sie gleich darauf, denn der Kellner steht schon neben uns und reicht uns die Karten. Entweder ist der Service hier sehr zuvorkommend, oder Mom ist neuerdings Stammkundin. Während ich einen kurzen Blick auf die angebotenen Speisen werfe, wartet die Bedienung geduldig neben uns.
»Was ich im Steakhaus essen will? Ein Steak, denke ich. Vielleicht ein einfaches kleines Rumpsteak … so zweihundert Gramm, nur mit Gemüse.«
Der Kellner nickt. »Sehr wohl.«
»Einen Caesar Salad«, bestellt meine Mutter. »Und eine Flasche italienisches Mineralwasser mit zwei Gläsern, bitte.«
Nach einer angedeuteten Verbeugung eilt die Bedienung davon.
»Was gibt es Neues, Mom? Mach's kurz, ich kann mir keine lange Pause erlauben.« Dabei sehe ich demonstrativ auf mein Smartphone.
»Da trifft man sich nach Monaten das erste Mal wieder, und du hast keine Zeit für deine Mutter? Will jetzt auch noch meine zweite Tochter nichts mehr mit mir zu tun haben?«
Nervös kaue ich auf meiner Unterlippe. Was soll ich antworten? Meine Mutter hat sich unserer Familie gegenüber schon immer sehr egoistisch verhalten. Wochenlang hat sie sich nicht mehr bei uns gemeldet. Es fällt mir sehr schwer, sie überhaupt zu treffen. Doch sie ist nun mal meine Mutter ...
»Nein, Mom. Daran liegt es nicht«, beruhige ich sie und rutsche nervös auf meinem Stuhl herum.
»Versteh' schon.« Sie kräuselt beleidigt ihre Lippen, soweit das die zahlreichen Schönheitsbehandlungen zulassen. Sie weiß genau, wie sie bei mir ein schlechtes Gewissen erzeugt.
»Es ist nicht leicht für mich, dass ihr mich so kaltgestellt habt. Ich wollte immer nur das Beste für dich … für euch alle«, jammert sie.
Ja, schon klar. »Schon gut, Mom. Lassen wir die Vorfälle beiseite.«
»Ich hoffe, du meinst, was du sagst«, erwidert sie säuerlich.
Wir werden sehen, denke ich und nicke.
»Also, ich habe gute Neuigkeiten. Ich weiß nicht, ob du es schon mitbekommen hast, aber es gibt einen neuen Mann in meinem Leben.«
»Ja, ich habe davon gehört«, sage ich, während der Kellner das Wasser für uns hinstellt.
»Es ist mir ernst mit ihm, und ihm ist es ernst mit mir.«
»Freut mich für dich. Ehrlich«, versichere ich, bevor ich einen Schluck nehme.
»Deshalb wollen wir unsere Beziehung jetzt auf eine neue Stufe heben.«
Oh je. Na ja, wenigstens scheint sie nicht schwanger zu sein. »Du willst dich verloben?«
»Genau. Und danach wollen wir so schnell wie möglich heiraten. Da rechne ich fest mit dir als Trauzeugin. Du tust mir doch den Gefallen, oder?«
Ihre Frage verursacht mir Beklemmungen. »Ähm … ja«, krächze ich. »Aber willst du dich nicht erst mal verloben?«
»Natürlich. Alles andere macht ja keinen Sinn, du Dummerchen«, flötet sie kopfschüttelnd.
»Wo ist denn dein Neuer? Was für einen Beruf hat er? Wie sieht er aus?«
»Du wirst ihn am Wochenende kennenlernen. Dann ist die Verlobungsfeier«, sagt Mom. Ihre zahlreichen Armreifen rasseln, während sie einen Schluck Wasser nimmt.
»Ist das nicht ein bisschen überstürzt?«, frage ich und versuche meine Skepsis zu verbergen.
»Ich wüsste nicht, wie du das beurteilen willst«, fährt sie mir über den Mund.
»Da hast du natürlich recht«, muss ich kleinlaut zugeben.
»Also kommst du nun zu unserer Party?«
»Nächstes Wochenende?«
»Hast du Probleme mit deinem Gedächtnis?«, spottet sie, obwohl sie weiß, wie ich das hasse.
»Nein. Ich überlege nur, dass ich mich dann mit Madison treffen wollte. Aber das kann ich natürlich auch absagen.«
»Ja, das ist wohl besser so. Ich weiß sowieso nicht, was du an diesem farblosen Trampel findest. Wenn du dich in solchen Kreisen bewegst, wirst du nie einen angemessenen Partner ergattern.«
Mein Puls pocht in den Schläfen.
»Madison ist lieb, hilfsbereit und aufrichtig«, zische ich. Doch das waren für meine Mutter noch nie Argumente, sich mit jemandem abzugeben. »Ihre Kreise sind mir allemal lieber als die, in denen du mich gerne sehen würdest«, setze ich nach. Angestrengt versuche ich mein Temperament runterzufahren. Egal, ob ich mich aufrege oder nicht. Es kratzt sie nicht.
Ich hole tief Luft. Sie ist meine Mom. Sie ist meine Mom. Sie ist meine Mom.
Meine Mutter lächelt zuckersüß und stupst ihre Frisur zurecht. Sie setzt an, als ob sie etwas sagen wollte, was sie aber Gott sei Dank nicht tut.
»Wie heißt er denn, dein Verlobter?«, frage ich versöhnlich.
»Oh, er heißt Bertoldo Siciliani und ist ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Aber nicht nur das, er ist sehr großzügig und trägt mich auf Händen«, schwärmt sie versonnen.
»Das hört sich doch super an! Ich freu' mich für dich! Und was macht er so?«
»In Immobilien … Investment und irgendwelche Online-Geschäfte. So genau weiß ich das gar nicht. Im Gegensatz zu eurem Vater redet er nicht ständig von der Arbeit.«
»Aha, klingt interessant. Aber so viel hat man von ihm noch nicht gehört, oder? Ich kenne ihn nicht.«
»Ja, er steht nicht gerne in der Öffentlichkeit. Willst du mal ein Foto sehen?« Meine Mutter kramt in ihrer Tasche und zieht ein Foto heraus, das einen aknenarbigen Anzugträger zeigt. Seine Augen wirken merkwürdig teilnahmslos, fast kalt. Wegen des Aussehens hat sie sich den Kerl nicht geangelt, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Mit Sicherheit hat er ziemlich viel auf dem Bankkonto.
»Der sieht … interessant aus«, stammle ich.
»Nicht wahr? Er ist italienischer Abstammung. Ich liebe das. Den Italienern bedeutet Familie noch etwas.«
Ich nicke. »Wo ist sie denn? Die Verlobung, meine ich.«
Mom sucht noch einmal in ihrem Shopper und holt einen Umschlag heraus, den sie mir mit wichtiger Miene zuschiebt. »Da steht alles drin.«
»Hast du eigentlich auch Vivienne dazu eingeladen?«, erkundige ich mich.
»Nein, die ist doch in Texas. Da kann sie meinetwegen auch bleiben.«
»Was soll das denn heißen? Hat sie dir etwas getan?«
»Nein, nichts. Aber genau das ist es ja. Sie hat nicht mehr mit mir geredet, seit sie ihr Studio aufgemacht hat«, erklärt meine Mutter beleidigt.
»Na ja, sie war nicht im Wyatt Tower, aber immerhin in New York. Du hättest sie also durchaus mal besuchen können.«
»Um mich dann von einer genervten Tochter abkanzeln zu lassen?«, grummelt sie.
Oh Mann, wie erkläre ich bloß meiner Mutter, dass nicht immer nur die anderen schuld sind. Ich fürchte, sie ist ein hoffnungsloser Fall.
»Warum seufzt du?«, fragt sie.
»Nichts, Mom, das Essen kommt.«
Während des Essens reden wir zu meiner Erleichterung nicht mehr. Das hätte mir sicher den Appetit verdorben. Kauend schaue ich mich ein wenig im relativ leeren Lokal um. Fast verschlucke ich mich, als ich etwas abseits den sexy Typen vom Zusammenstoß sitzen sehe. Als er mich erkennt, guckt er sofort auf sein Smartphone. Obwohl er nur kurz nach mir ins Restaurant gekommen sein muss, hat er noch nicht einmal ein Getränk vor sich stehen und wir haben schon das Essen. Ob wir hier eine Sonderbehandlung genießen? Ich verkneife es mir, meine Mom danach zu fragen. Es gibt Dinge, die will man nicht wissen.
Ich kann es nicht lassen, der Kerl bleibt unter meiner Beobachtung. Immer wieder treffen sich unsere Blicke. Er hat inzwischen seine Ärmel nach oben geschoben, was ein paar heiße Tattoos zum Vorschein bringt. Zusammen mit den dicken Silberringen sieht er aus wie ein Bad Boy. Ich bin verrückt, dass ich auf solche Typen stehe, schließlich habe ich schon so viele schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht.
Ob er mit mir flirtet? Besser nicht, denn das endet meistens in einer Katastrophe.
»Wo siehst du eigentlich die ganze Zeit hin?«, erkundigt sich meine Mutter und folgt meiner Blickrichtung. »Um Gottes willen! Du himmelst doch nicht etwa diesen tätowierten Trash da an? Kennst du den etwa?«, fragt sie naserümpfend.
Fast verschlucke ich mich. »Nein! Natürlich nicht. Wie kommst du darauf?«
Mom mustert mich skeptisch. Verlegen weiche ich ihrer kritischen Begutachtung aus und wende mich hochinteressiert dem lauwarmen Steak auf meinem Teller zu.
Als ich das Restaurant verlasse, hat die Sahneschnitte gerade erst das Essen bekommen. Schade, dann wird er mir bestimmt nicht mehr folgen.
Doch so schade finde ich es dann auch wieder nicht, denn auf der Straße stürmt mein Bodyguard Gerald auf mich zu. Nervös streicht er sich über seine Glatze. Die Adern an seinem Hals sind geschwollen. »Miss Wyatt, ich muss Sie doch sehr bitten, meine Arbeit nicht zu sabotieren! Warum sind Sie schon wieder ohne ein Wort verschwunden?«
»Weil ich zu Fuß in die Mittagspause gehen wollte. Das Wetter ist so schön. Gerald, beruhige dich. Wie habt ihr mich überhaupt gefunden?«
»Natürlich über Ihr Handy, Miss.«
Ich schlucke. »Ihr habt mein Handy getrackt?«
»Was blieb uns anderes übrig? Sie benehmen sich nicht sehr verantwortungsvoll.«
»Es ist mitten am Tag. Da finden auf belebter Straße keine Entführungen statt«, antworte ich betont gelassen.
Mein Bodyguard keucht nervös. »Bei solch einer bekannten Person der New Yorker Society kann alles passieren. Jederzeit. Gerade hier wurden doch auf offener Straße Menschen erschossen. Das ist noch gar nicht so lange her.«
Fast tut er mir ein bisschen leid. Manchmal ertrage ich den goldenen Käfig einfach nicht, in dem ich stecke. Ich tätschle ihm beruhigend die Schulter. »Soweit ich weiß, war das 1985 und ein Mafia-Massaker. Da habe ich doch Glück, dass ich kein Mitglied bin. Außerdem ist die Mafia nach dem Durchgreifen von Giuliani hier in New York Geschichte.«
»Der Boss der Gambino-Familie wurde erst im März 2019 vor seinem Haus in Staten Island niedergeschossen«, warnt Gerald mit erhobenem Zeigefinger.
»Trotzdem hat die Mafia hier in New York keinen nennenswerten Einfluss mehr. Ich denke, die ist faktisch tot.«
»Totgesagte leben länger, Miss Wyatt.«
2
Plan B
Auf der Rückfahrt zu meiner Arbeit geht mir der neue Partner meiner Mutter nicht mehr aus dem Kopf. Ein erfolgreicher Geschäftsmann, von dem ich noch nichts gehört habe? Gut, er ist anscheinend nicht im Handel tätig, und New York ist groß. Aber wo zum Teufel hat Mom ihn kennengelernt?
Ich werde Ethan fragen, vielleicht ist der ihm ja ein Begriff. Mein Bruder ist Wirtschaftsanwalt und hat seine Kanzlei auch im Wyatt Tower. Ein wirklich erfolgreicher Geschäftsmann müsste ihm bekannt sein.
Gerade fährt meine gepanzerte Limousine in die Tiefgarage. Mein Bodyguard öffnet die Tür und eskortiert mich in das Gebäude.
»Ich denke, Sie können jetzt Feierabend machen, Gerald. Ich werde mich dann vom Fahrdienst nach Hause bringen lassen«, weise ich ihn an.
»Ihre neue Bleibe ist nicht genügend gesichert, Miss Wyatt. Das habe ich schon so oft erklärt. Sie leben in einer zweifelhaften Gegend, da ist es besser, wenn ich Sie bis zum Haus begleite.«
»Gerald, die Diskussion hatten wir doch schon. Es ist ein solides Viertel, in das ich gezogen bin«, antworte ich geduldig.
Ich hatte mein Apartment hier im Tower, aber die zwangsläufige Rufbereitschaft ging mir auf die Nerven. Auch wenn unser Hochhaus direkt am Central Park liegt, fühlte es sich nicht wie Freizeit an, wenn ich dort war. Ich sehne mich nach einem ganz normalen Leben mit einer ganz normalen Familie. Mein neues Zuhause sollte mich an Vermont erinnern, wo ich eine idyllische Kindheit verbracht habe. Hier in New York allerdings kein leichtes Unterfangen.
»Aber deswegen können Sie doch nicht immer ohne Begleitung dort herumspazieren. Ich verstehe nicht, wie Sie so leichtsinnig sein können, Miss.« Gerald tupft sich den Schweiß von der Stirn. Es tut mir leid, dass ich den armen Kerl unter Stress setze, aber manchmal vermisse ich das Gefühl, dass ich ein stinknormaler Mensch bin.
»Sie brauchen keine Verantwortung zu übernehmen. Hier fehlt mir die Luft zum Atmen. Ich möchte mich frei fühlen. Ein Bodyguard lenkt die Blicke auf mich, das mag ich nicht«, erwidere ich.
»Und ich habe Ihnen erklärt, dass das nichts mit dem Personenschutz zu tun hat … haben muss. Keine Verantwortung übernehmen? Wie stellen Sie sich das vor?«
»Sie gehen ja auch nach der Arbeit in ein unspektakuläres Leben zurück«, grummle ich.
»Es macht keinen Sinn, mit Ihnen darüber zu diskutieren. Aber vielleicht denken Sie mal darüber nach, was los ist, wenn Ihnen tatsächlich etwas passiert. Dann ist mein Leben ruiniert.«
»Sicher. Aber Sie tragen nur so lange die Verantwortung, bis ich Sie nach Hause schicke. Dann übernehme ich sie für mich selbst.«
»Sie wissen anscheinend immer noch nicht, wovon ich rede. Wenn Sie entführt werden, wäre das ein guter Coup für einen Gangster.«
»Doch, natürlich weiß ich das, aber ich habe trotzdem keine Angst davor.«
»Ich aber, Miss Wyatt. Ich aber«, murrt Gerald.
Ich weiß selbst nicht, warum es mir so zuwider ist, mit Bodyguard herumzulaufen. Was andere vielleicht als erhebend empfinden, gibt mir das Gefühl, Außenseiter zu sein. »Schon gut, Sie haben gewonnen. Ich schaue nur schnell bei Ethan rein, um ihn etwas zu fragen. Das ist doch erlaubt, oder? Sie können ja schon zum Büro vorgehen.«
Gerald nickt widerwillig, fügt sich aber in sein Schicksal.
»Mister Wyatt ist in seiner Wohnung. Er kommt heute nicht mehr in die Kanzlei«, verrät mir seine Sekretärin, als ich dort erscheine.
Ethan lebt im Penthouse hier auf dem Wolkenkratzer. Das ist etwas ganz anderes als mein altes Apartment hier im Gebäude. Schon allein wegen der umlaufenden Terrasse, von der man auf den Central Park sehen kann.
Er öffnet mir selbst die Tür, mit seinem Baby auf der Schulter, das in seine Spuckwindel ächzt. Ich unterdrücke den Neid, der bei dem Anblick aufsteigt, und lächle ihn zur Begrüßung an.
»Hi Melissa. Ella lernt gerade für eine Prüfung«, entschuldigt er sich und klopft dem Baby sanft auf den Rücken.
»Hallo Ethan. Ich wollte dich nur ganz kurz etwas fragen. Kann ich reinkommen?«
»Klar. Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn der kleine Scheißer ein bisschen meckert«, sagt er, während er mir die Tür weiter öffnet.
»Es ist toll, wie ihr das macht, so ganz ohne Nanny«, antworte ich lächelnd. Da unsere Mutter sich in unserer Kindheit wenig um uns gekümmert und alle Arbeit meistens den Kindermädchen überlassen hat, ist er in dieser Beziehung wohl besonders motiviert.
»Möglich. Aber ohne die Hilfe der Familie wäre es trotzdem nicht zu schaffen«, erwidert mein Bruder.
»Du weißt ja, ich bin ganz vernarrt in die Kleine und immer für euch da.«
»Danke. Du machst es übrigens auch ganz toll.« Er zwinkert mir zu. »Setz dich.«
Ich folge seiner Einladung und nehme auf einem der schweren Sessel im Wohnzimmer Platz.
»Was gibt’s?«, fragt Ethan und setzt sich ebenso.
»Sag mal, kennst du einen gewissen Bertoldo Siciliani?«
»Ja, schon mal gehört. Ich weiß aber wenig von ihm. Er hält sich im Hintergrund, was natürlich die Gerüchteküche befeuert.«
»Was meinst du mit Gerüchteküche?«
»Na, es heißt, dass seine Geschäfte nicht immer die saubersten sind. Warum?«
»Weil unsere Mutter ihn heiraten wird. Sie hat mich gerade zur Verlobung eingeladen und erklärt, dass sie mit mir als Trauzeugin rechnet.«
»Wirklich? Oh Mann! Dann werde ich mir den Typen mal genauer vorknöpfen. Ich glaube, man sagt ihm Verbindungen zur Mafia nach.«
Mein Puls pocht in den Schläfen. »Zur Mafia? Ist dann nicht eine Verlobung mit Mom sehr unwahrscheinlich?«
»Glaubst du, Cynthia hat Skrupel bei so was?«, fragt er grinsend.
»Nein, aber können da nicht nur ethnische Italiener aufgenommen werden?«
»Hm, so genau kenne ich mich damit nicht aus. Die Mafia spielt hier ja keine so große Rolle mehr. Aber ich schätze, dass bei denen nur die Füße der Mordopfer in Beton gegossen werden. Die müssen sich den Gegebenheiten anpassen, sonst sind sie tot.«
»Totgesagte leben länger, hat Gerald gerade zu mir gemeint«, antworte ich nachdenklich.
»Ja, ist wohl so. Aber welchen Vorteil würde sich einer von der Mafia durch Mom erhoffen? Mit dem Konzern hat sie nichts mehr zu tun. Vielleicht liebt er sie wirklich? So was soll es ja geben.«
Ich muss lachen. »Schwer vorstellbar bei Mom, nicht wahr?«
Ethan hebt die Hand. »Lassen wir das Thema besser. Wann ist die Verlobung?«
»Schon am Wochenende. Sie scheinen es ziemlich eilig zu haben, was mich auch skeptisch macht, und ich bin anscheinend die Einzige, die von unserer Familie eingeladen ist.«
»Oh. Na, dann kann es wohl nicht schaden, wenn du Augen und Ohren offenhältst.«
»Worauf du dich verlassen kannst.«
***
Pflichtbewusst, wie Gerald nun mal ist, hat er mich bis vor die Tür meiner neuen Bleibe gebracht. Es hätte nur noch gefehlt, dass er zuvor mit seiner Waffe durch die Räume gelaufen wäre, um nachzusehen, ob die Luft rein ist. Morgen früh holt er mich wieder ab, dann geht der Ernst des Lebens weiter.
Den Spaß, heute noch einmal als ganz normaler Mensch durch die Straßen zu laufen, hat er mir gründlich verdorben. Leider sind seine Bedenken nicht von der Hand zu weisen.
Durch die Vorstellung, eingesperrt zu sein, fühlt sich mein Nest doppelt leer an. Ich fühle mich allein und wünsche mir einen Partner, der mich wirklich liebt. Einen, der auf mich wartet, meine Seele und meine Füße wärmt. Doch all meine Bemühungen sind bisher nicht nur im Sande verlaufen, sondern im Treibsand versunken. Auch wenn meine Oma immer betont hat, auf jeden Topf passe ein Deckel, so gilt das sicher nicht für mich.
Meine Erwartungen sind einfach unrealistisch, natürlich ist mir das klar. Ein zuverlässiger Bad Boy mit großem Herzen und Familiensinn ... Die Quadratur des Kreises. Bei der Vorstellung muss ich selber lachen. Aber aufrichtig lieben sollte er mich schon ... und gut im Bett sein. Traumhaft wäre es, wenn ich jemanden lieben lernen würde, der gar nicht weiß, wer ich bin. Aber so, wie ich leben muss, ist das wohl kaum möglich. Es ist nicht leicht, sich damit abzufinden. Nachdenklich setze ich mich in einen meiner Sessel und starre aus dem Fenster. Wie schön wäre es, wenn aus meinem Haus ein liebevolles Nest würde, in dem man nach der Arbeit vollkommen entspannen kann.
Ich sollte Vivienne noch über die Neuigkeiten informieren. Auch auf sie bin ich ein klein bisschen neidisch. Sie hat es einfacher, ihr eigenes Leben zu führen, denn sie hat sich nie für den Konzern interessiert, sondern ihr Ding durchgezogen. Seufzend greife ich zum Smartphone und wähle ihre Nummer.
Nachdem ich ihr alles berichtet und wieder aufgelegt habe, bohrt immer noch der Wunsch nach Normalität in mir. Ich versuche mit meiner Freundin Madison zu telefonieren. Doch da erreiche ich nur die Mailbox. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als in die Traumwelt eines Streamingdienstes zu flüchten. Warum bin ich nicht ein Filmstar, der sich einfach einen Toyboy zulegen kann? So ein heißer Typ, der sich rettungslos in mich verliebt … Wir gründen eine harmonische Familie … Oh Mann, was denke ich da schon wieder? Um ein Kind zu bekommen, braucht man keinen Mann. Das wird wohl in naher Zukunft mein Plan B werden.
3
Die Verlobung
In den Tagen bis zur Verlobungsfeier fühlt sich mein goldener Käfig besonders eng an. Als es endlich so weit ist, bin ich froh, wenigstens diese Abwechslung von den ewigen Geschäftsessen zu haben. Meine Nachbarin Debbie ist Stylistin am Broadway und zurzeit im Mutterschutz. Sie zaubert mir eine hübsche Steckfrisur aus meinen glatten, dunkelbraunen Haaren.
»Deine Wimpern sind so fantastisch lang. Man könnte meinen, die wären angeklebt«, sagt sie, während sie den grünen Lidschatten auflegt.
»Nicht so dick, sonst wird es so knallig«, äußere ich Bedenken.
»Das trägt man jetzt so, in zwei Schattierungen. Es passt zu deinen schönen braunen Augen«, erklärt sie.
Ich seufze. Es ist lästig, aber für eine Verlobung angemessen.
Freudig warte ich auf den Fahrdienst. Es klingelt zur vereinbarten Zeit. Unüberlegt öffne ich die Tür und erschrecke, als ich nicht in Geralds vertrautes Gesicht schaue. Hektisch versuche ich die Tür wieder zuzuschlagen. Doch das geht nicht, der Typ hat seinen Fuß dazwischen.
Moment mal … Den kenn' ich doch! Er sieht aus wie der Bad Boy, mit dem ich kürzlich vor dem Steakhaus zusammengekracht bin. Was ist das denn? Mein Herz rast, mein Kopf droht zu platzen.
»Nimm deinen Scheißfuß da raus!«, fluche ich laut.
Der Kerl auf der anderen Seite der Tür grinst dreckig. »Und schon wären wir tot.«
»Du bist gleich tot, wenn Gerald kommt!«, drohe ich unsicher.
»Gerald kommt heute nicht«, knurrt der Typ.
»Wieso?«, frage ich irritiert. Meine Kraft lässt nach, und der Rüpel ist drinnen.
Fuck! Ich bin ein Trottel! Warum will ich nie auf Geralds Warnungen hören?
»Wieso haben Sie nicht die Sicherheitshebel vor der Tür? Ihnen ist doch klar, dass Sie erst die Tür öffnen dürfen, nachdem Sie sich vergewissert haben, dass jemand davor ist, den Sie kennen. Das muss ich ja jetzt nicht nochmal erklären, oder?«, referiert er, während er sich drohend vor mir aufbaut. Jetzt bin ich mir sicher, es ist der Typ vom Steakhaus.
Kann das ein Zufall sein?
»Was spielst du dich hier auf? Wer bist du überhaupt?«, schimpfe ich, so laut mir das möglich ist.
»Ich bin Geralds Nachfolger und soll Sie zur Firma bringen«, antwortet er trocken und streicht sich über den Fünftagebart.
Ich schlucke, denn das sieht verdammt sexy aus. Gleich darauf hasse ich mich dafür, dass ich selbst in so einer brenzligen Situation auf diesen Typen reagiere.
»Das kann jeder behaupten. Ich rufe jetzt die Polizei«, krächze ich hilflos.
Der Kerl seufzt genervt.
»Wenn Sie das müssten, wäre es doch längst zu spät. Also kommen Sie jetzt«, brummt er ungeduldig und will mich am Ärmel mitziehen.
»Ich will den Ausweis sehen, wenn du von der Sicherheitsfirma bist!«, verlange ich energisch und versuche mich seinem Griff zu entreißen.
Er zerrt weiter. »Kommen Sie jetzt!«
»Was soll das?« Mit einem Ruck befreie ich mich aus dem Griff. »Ausweis her, oder du bist entlassen, bevor du Piep sagen kannst!«
»Den habe ich im Auto vergessen«, erklärt er schulterzuckend.
Mir entfährt ein hysterisches Lachen. »Geht der Trick noch billiger? Mir unprofessionelles Verhalten vorwerfen? Hol ihn!«
»Es ist doch euer Wagen, oder? Erkennen Sie nicht den Fahrer?«
»Nein, erkenne ich nicht! Hol ihn, verdammt nochmal!«
»Es wäre ein Leichtes, Sie unter den Arm zu klemmen und einfach mitzunehmen.«
»Ja, so siehst du aus, du Neandertaler! Versuch's doch!«, erwidere ich mit provozierendem Grinsen.
»Mir reicht’s! Komm jetzt!«, flucht er und zerrt wieder an meinem Arm.
Natürlich hat er viel mehr Kraft als ich und schleift mich zur Tür.
»Mach dich schon mal auf viel Aufmerksamkeit gefasst, denn meine Stimme ist gewaltig!«, schnauze ich mit dem Mut der Verzweiflung.
Seine genervte Miene wandelt sich in eindeutig böse.
»Komm jetzt!«, brüllt er derart streng, dass es mir durch Mark und Bein geht. Mein Herz pocht, aber gleichzeitig macht sich ein seltsames Kribbeln im Körper bemerkbar. Er ist so verdammt männlich.
»Den Ausweis!«, presse ich hervor.
Er verdreht die Augen, lässt mich aber los und wendet sich zur Tür. Gut, dass ich mir ein triumphierendes Lächeln verkniffen habe, denn er schaut sich noch einmal um und funkelt mich böse an, bevor er nach draußen verschwindet.
Blitzschnell schließe ich die Tür ab. Diesmal lege ich auch den Riegel vor.
So! Und jetzt werde ich zuerst mit der Sicherheitsfirma telefonieren.
Es meldet sich ein Mister Keller, den ich schon öfter an der Strippe hatte, wenn ich Sicherheitspersonal außer der Reihe brauchte. Während ich ihm hastig die Sachlage schildere, wird mein Vortrag von ungeduldigem Klingeln unterbrochen. Ich versuche es zu ignorieren.
»Soweit ich das hier erkennen kann, kommt Henry Jones heute zu Ihnen«, erklärt mir Mister Keller.
Ich warte die Klingelsalve mit zugehaltenem Ohr ab, bevor ich weiterrede. »Und wieso hat man mich nicht informiert, dass Gerald nicht kommt?«
»Das geht hier nicht draus hervor, Ma’am. Aber selbstverständlich wäre das die normale Vorgehensweise. Waren Sie vielleicht zeitweilig nicht erreichbar?«
Seltsam. Mit dem Typen komme ich nicht weiter.
»Vielen Dank«, beende ich das Gespräch. Jetzt sehe ich auf meinem Handy, dass ich eine Nachricht bekommen habe. Ein Henry Jones wurde angekündigt. Sie hatten mich tatsächlich nicht erreicht. Oh Mann!
Es klingelt wieder Sturm, jetzt muss ich darauf reagieren.
»Ausweis vor den Türspion halten!«, fordere ich bestimmt.
»Na, bitte, Sie können es ja«, spottet … Henry Jones. Die Buchstaben auf dem Ausweis brennen sich in meine Netzhaut und verursachen steigenden Blutdruck, der meinen Kopf fast platzen lässt.
Er ist tatsächlich für heute Abend mein Bodyguard. Mist!
Irgendwie bekleckere ich mich in den letzten Tagen nicht gerade mit Ruhm. Kleinlaut öffne ich die Tür. »Ich komme. Ich hole nur noch meine Tasche.«
Henry scannt die Straße, bevor er mit mir zum Auto geht. Er tut das so gründlich, als ob ein Angriff unmittelbar bevorstehen würde. Gerald war ja auch wachsam, aber solch eine Show hat er nie abgezogen. Als Henry mir die Autotür aufmacht, sieht er sich aufmerksam um und lässt nicht nach, während ich auf dem Rücksitz Platz nehme. Er selbst setzt sich nach vorne, und der Fahrer startet den Wagen.
Sehr seltsam. Einerseits gibt mir dieser Aufwand schon etwas Sicherheit, die aber von dem komischen Gefühl, dass etwas nicht stimmt, sofort wieder aufgelöst wird.
»Raus mit der Sprache. Was ist los? Warum ist Gerald nicht da?«, frage ich, kaum dass wir im Auto sitzen.
»Ich wurde Ihnen zugeteilt, Ma’am. Mehr weiß ich nicht.«
»Was soll das heißen? Und lass das blöde ›Ma’am‹, da komme ich mir vor wie hundert.«
»Wie Sie wünschen. Wie hat Gerald Sie genannt?«, fragt er.
»›Miss Wyatt‹, das war ihm leider nicht auszureden. Würde es dir etwas ausmachen, wenn du mich einfach Melissa nennst?«
»Meinetwegen. Obwohl ich es etwas zu früh finde«, antwortet er seufzend.
»So bin ich nun mal. Und wie soll ich dich nennen? Henry? Oder ist Mister Jones besser?«, erkundige ich mich provokant.
»Nein, Henry ist schon okay«, knurrt er gelassen und dreht sich wieder nach vorn.
»Okay, Henry. Wann kommt denn Gerald wieder? Er wird doch nicht den Job abgeben, ohne sich von mir zu verabschieden?« Unsicherheit schwingt in meiner Stimme mit.
»Ich weiß es wirklich nicht, Melissa. Ich habe nur heute den Auftrag bekommen. Ich frage meinem Chef doch kein Loch in den Bauch. Es ist ein ganz normaler Job, wie andere auch. Ich würde vorschlagen, du telefonierst morgen mit ihm.«
Aha. »Ja, das werde ich bestimmt tun.«
***
»Eigenes Sicherheitspersonal ist hier nicht erwünscht«, wird uns vom Empfang erklärt, als wir am Veranstaltungsort angekommen sind. Das Sicherheitspersonal wird mich auch wieder zurückbringen. Also kann Henry nach Hause fahren.
Henry mustert mich unwillig, nickt dann aber und hilft mir trotzdem beim Aussteigen. Er lässt es sich nicht nehmen, mich bis zum Eingang zu begleiten. Dort erkennen mich die bulligen Türsteher gleich und begrüßen mich mit meinem Namen, als sie mich hineinlassen. Dabei drehe ich mich kurz um und sehe, wie Henry in den Wagen steigt. Sein kritischer Blick kreuzt sich mit meinem, bevor ich mich schnell wieder abwende.
Das Event findet in einem riesigen Loft über zwei Etagen statt. Große Fenster ermöglichen eine faszinierende Aussicht auf den Broadway. In leicht unterkühltem Blau-Grau gehalten, mit viel Glas, Chrom und üppigen Kronleuchtern entspricht die Lokation genau dem Geschmack meiner Mutter. Rosarote Ballons schmücken den Raum zusammen mit Girlanden und einem riesigen roten Ballonherz. Nicht kleckern, klotzen, das ist Moms Welt.
Das eigene Sicherheitspersonal ist reichlich vorhanden, was mich nicht unbedingt beruhigt. Vielleicht hätte ich Henry doch mitnehmen sollen, aber so viel Vertrauen war noch nicht da. Hätte mich Gerald hingebracht, wäre es keine Frage gewesen, der hätte mich begleiten wollen.
Ich trage ein einfaches Kleid mit breitem Strasselement am Ausschnitt. Meine Mutter sieht in ihrer goldbestickten roten Robe aus wie die Prinzessin aus Tausendundeine Nacht. Die Schleppe fegt über den Boden, während sie in kleinen Schritten auf mich zutippelt. Mehr lässt ihr Rock nicht zu.
»Schön, dass du endlich da bist«, säuselt sie, während sie Küsschen auf meinen beiden Wangen andeutet. »Aber ist dein Kleid nicht ein bisschen sehr … schlicht?«
»Es ist aus der Kollektion deiner anderen Tochter«, erwidere ich mürrisch, bevor ich mich zu einem »Hallo Mom« durchringe. Was hatte ich auch erwartet?
Sie seufzt. »Ja, es war wohl ein Fehler, euch auf dem Land aufwachsen zu lassen.«
»Wenn ich dir nicht glamourös genug bin, kann ich ja wieder gehen.«
Mom streicht mir übers Haar. »Himmel, Kind! So war das doch nicht gemeint! Ich bin ja schon froh, dass du keinen Pferdeschwanz trägst.«
Angespannt beiße ich mir auf die Lippe und verkneife mir die Antwort. Es bringt ja doch nichts. Dafür schnappe ich mir schnell ein Glas Champagner vom vorbeiziehenden Tablett. Mit einem Satz habe ich ihn heruntergestürzt und nehme mir gleich noch eins, bevor die Bedienung wieder weg ist.
»Dein Benehmen lässt wieder einmal zu wünschen übrig«, kommt sofort der Kommentar.
Ich verdrehe als Antwort die Augen.
»Komm, ich will dir meinen Bertoldo vorstellen«, lenkt meine Mutter ein. Sie geht vor, und ich folge ihr die Treppe hoch. Von den Gästen scheine ich niemanden zu kennen. Bertoldo trägt einen Smoking und einen leichten Bauchansatz darunter. Er mustert mich durchdringend, und ich frage mich, was mir an ihm nicht gefällt …
»Du bist also das fleißige Töchterchen«, fragt er mit einem Lächeln, doch das erreicht die Augen nicht.
»So fleißig nun auch wieder nicht, und ich würde jetzt nicht sagen, dass meine Geschwister nicht fleißig sind«, erwidere ich unverblümt.
»Nun, aber soweit ich weiß, bist du diejenige, die nur ihre Arbeit kennt.«
»Na ja«, antworte ich und schnappe mir zwei Häppchen von einem der herumschwirrenden Tabletts. Lachs mit Kaviar – lecker. Nun muss ich wenigstens nicht mehr reden, und Bertoldo wendet sich ab.
Meine Mutter schüttelt den Kopf, als sie zu uns herübersieht. Für sie ist es ein No-Go, auf solch einer Veranstaltung überhaupt zu essen. Und am besten trinkt man nur Wasser. Ich weiß bloß nicht, wie sie das immer überlebt.
Ich trete mit einem neuen Glas Champagner an das Geländer, um die Menge von oben zu beobachten. Inzwischen erkenne ich ein paar Leute. Immobilienmogule und Politiker, niemanden, mit dem ich ein längeres Gespräch führen möchte.
»Darf ich dir meinen lieben Neffen Sesto vorstellen«, tönt es plötzlich von hinten.
Bertoldo zeigt mit ausgestreckter Hand auf einen schwarzhaarigen, schmächtigen Typen mit glanzlosen Augen.
Ich lächle höflich und gebe Sesto die Hand. Sein Händedruck ist etwas zu fest.
»Freut mich, dich kennenzulernen«, sage ich trotzdem.
Sesto scannt mich von oben bis unten. Fast fühle ich mich wie ein Stück Fleisch.
»Ach! Da hinten ist Steven Bosley, ihr entschuldigt mich, bitte«, nährt Bertoldo meinen Verdacht, dass diese ganze Sache ein Versuch ist, mich zu verkuppeln.
Sesto nickt ihm zu und sieht mich anschließend merkwürdig an. »Du bist also Cynthias Tochter?«
»Jepp, die bin ich. Eine von zweien.«
»So richtig Karrierefrau?«
»Na ja, ich wurde praktisch hineingeboren. Ist halt Familie.«
Sesto spitzt den Mund. Er ist nicht gerade attraktiv und mir auch nicht besonders sympathisch. Dabei kann ich noch nicht einmal sagen, woran es hapert.
»Und du? Was machst du?«, erkundige ich mich.
»Ich? Ich arbeite auch im Familienbetrieb«, erklärt er, während er uns lässig zwei neue Champagnergläser besorgt.
»Danke dir. Und was genau arbeitest du so?«
»Ich bin ein Assistent meines Onkels.«
Okay, der will nicht viel verraten, aber dann bekommt er auch nicht viele Informationen von mir.
»Ich würde gerne mal frische Luft schnappen«, versuche ich mich zu entziehen.
»Warte, ich komme mit«, bietet Sesto sich an.
Ich ringe mir ein Lächeln ab und suche den Ausgang auf die Terrasse. Die ist, außer von uns, nur noch von ein paar Rauchern besetzt. Die Abendluft weht kühl, denn der Himmel ist bewölkt. Die untergehende Sonne taucht ihn in aufregende Farben, geschmückt mit den ersten Lichtern der Großstadt.
Ich atme tief durch. »Auch wenn ich gerne auf dem Land bin. Dieser Ausblick hier ist grandios.«
»Ja, ich liebe ihn auch. Besonders an solchen Abenden«, antwortet Sesto. »Halt mal«, fordert er mich auf und reicht mir sein Glas.
Ich tue, was er möchte, und sehe ihm zu, wie er sein Jackett auszieht und es mir über die Schultern hängt.
»Ich glaube, es ist sonst etwas kühl«, erklärt er.
Es ist das erste Mal, dass mir mein Lächeln leichtfällt.
»Danke«, erwidere ich. Vielleicht ist er ja doch nicht so schrecklich, wie ich beim ersten Eindruck vermutet habe.
Eine Weile schauen wir schweigend zu, wie die Sonne hinter den Hochhäusern verschwindet.
»Du liebst das Land?«, fragt Sesto irgendwann.
»Ja, ich bin in Vermont aufgewachsen. Es war eine ganz schöne Umstellung, als wir damals hierher gezogen sind. Und du?«
»Ich kenne im Grunde nur diese Stadt hier. Ich war zweimal in meinem Leben in Italien, Familie besuchen. Es ist ja ganz nett, aber ich vermisse nichts, wenn ich hier bin.«
»Verstehe.«
Es wird allmählich dunkler und kühler. Die Leute zieht es nach drinnen, wo auch die Hintergrundmusik immer flotter wird.
»Ich habe Hunger. Kommst du mit zum Buffet?«, frage ich meinen Begleiter.
Sesto nickt.
Bei den Speisen scheint das Teuerste gerade gut genug. Ich erkenne deutlich die Handschrift meiner Mutter. Trotzdem freue ich mich über das leckere Essen und lade mir den Teller undamenhaft voll. Sesto und ich setzen uns an einen kleinen Tisch, vor dem Geländer im oberen Bereich.
Wir reden nicht beim Essen. Mittlerweile fühle ich mich wohler und frage mich, ob es am Champagner liegt oder doch an der lockerer werdenden Veranstaltung.
Bertoldo hält eine Rede, und auch meine Mutter lässt es sich nicht nehmen, ein paar Worte zu sagen. Irgendwie geben die beiden ein seltsam distanziertes Paar ab. Aber meine Mutter war noch nie der herzliche Typ. Vielleicht liegt es auch an ihrer Generation, die ihr Glück nicht so offen zur Schau trägt.
Sesto besorgt uns etwas zu trinken. Die Musik wird besser, und die ersten Leute fangen an zu tanzen. Natürlich nur zusammen – wie auch sonst?
»Hast du Lust, zu tanzen?«, fragt Sesto mich, als unsere Gläser leer sind.
»Warum nicht?«, antworte ich und folge ihm aufs Parkett.
Wir haben noch
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Alica H. White
Bildmaterialien: Casandra Krammer
Cover: © Shutterstock.com
Lektorat: Dr. Andreas Fischer/ Petra Förster
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2020
ISBN: 978-3-96714-072-9
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