Eiersuche – Alica H. White
»Na, Dennis … liebstes Brüderchen … Wie läuft‘s denn so?«, fragt mich Diana in der Arbeitspause und schlägt mir kumpelhaft auf die Schulter. »Macht dir der Job noch Spaß?«
Ich setze mich auf die Bank vor meinem Arbeitsplatz und schlage die Fellkapuze mit den Hasenohren nach hinten. Erschöpft wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Dieses Kostüm ist wirklich verdammt warm.
»Diana … liebste Schwester … ich bin dir ja wirklich dankbar, dass du mir diesen Job besorgt hast, aber ich mache ihn nur, weil ich jung bin und das Geld brauche«, antworte ich pathetisch und biete ihr einen von meinen Schokohasen an. Ich verteile kleine Schokohasen, wahlweise hartgekochte bunte Eier, an die Kunden der Spielzeugabteilung. Meine Schwester ist Schaufensterdekorateurin in dem Kaufhaus, für das ich den Hasen mime.
»Nein Danke«, wehrt sie ab. »Du weißt ja, Fett und Kohlenhydrate sind Gift für meine Figur.«
»Bist du immer noch nicht von deiner Dauerdiät runter?«
»Genau, Dauerdiät. Das sagt ja schon der Name. Solange ich keinen Freund habe, kann ich mich doch nicht gehen lassen«, entrüstet sie sich.
»Nee nä! Echt jetzt? Und sobald du den hast, willst du auseinandergehen wie ein Hefekloß?«
Diana zieht die Stirn kraus. »Natürlich nicht! Dafür muss man zumindest verheiratet sein!«
»Du hast echt 'ne Macke!« Ich schüttle den Kopf.
»Das ist doch nur ein Scherz, Brüderchen! Aber solange ich die Sechsunddreißig halte, kann ich hier immer die guten Angebote abstauben. Sobald die runtergesetzt sind, schlage ich zu.«
»Na, dann nimm doch ein Ei«, schlage ich vor.
»Nimm‘s mir nicht übel, aber ich kann keine Eier mehr sehen.« Sie stöhnt.
»Willst du jetzt doch lieber lesbisch werden?«, scherze ich.
»Sehr witzig. Ich wette, du magst selbst schon lange keine mehr.«
»Aber hallo! Schwul bleibt schwul.«
Meine Schwester lacht. »Deinem Humor hat der Job hier jedenfalls nicht geschadet.«
»Das täuscht, alles Galgenhumor.«
»Na, du hast es ja bald geschafft. Sieh nur, da kommt schon deine Ablösung«, tröstet mich Diana.
»Das ist Marc. Der hilft mir noch zwei Stunden in der Stoßzeit«, erkläre ich. Marc hat uns schon gesehen. Er winkt lässig herüber und setzt ein strahlendes Lächeln auf.
Mein Kollege gehört zu der Sorte Mensch, deren Schönheit nichts entstellen kann – nicht mal ein lächerliches Hasenkostüm. Seine blauen Augen leuchten wie der Frühlingshimmel. Aber nicht nur das, es ist ein Strahlen von innen, so eins, bei dem man sofort das Gefühl hat, man kennt ihn schon ewig. Diese hübschen Gesichtszüge und seine breiten Schultern, die selbst im Kostüm zur Geltung kommen, lassen jedes Mal mein Herz höher schlagen.
»Mein Gott, das nenn ich mal ein Häschen«, murmelt Diana in meine Richtung. »Mit dem hätte ich auch gerne eine Stoßzeit. Stellst du uns mal einander vor?«
In meinem Bauch regt sich Widerwillen. Diana ist die Göttin der Jagd. Leider macht meine Schwester in dieser Beziehung ihrem Namen alle Ehre, wobei sich das ausschließlich auf die Männerjagd bezieht. Zuzusehen, wie sie Marc ins Visier nimmt, würde mir deshalb doppelt schwerfallen.
»Musst du mich jetzt schon wieder zum Jagdgehilfen rekrutieren?«, murre ich.
»Tschuldigung, aber wir haben nicht wirklich die gleichen Reviere«, erwidert sie grinsend. »Was glaubst du, ob ich Chancen bei ihm habe?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Na gut, also muss ich es mal wieder selbst herausfinden«, mäkelt sie. »Am besten auf der Verabschiedung von dem Kollegen Schulze, heute Abend. Ob Marc da auch hin kommt?«
»Das darfst du selbst herausfinden. Ich muss jetzt wieder«, antworte ich mürrisch und mache mich wieder auf, um die letzten Stunden an Arbeitszeit hinter mich zu bringen.
»Halt, warte!«, ruft sie und hält mich am Arm fest. »Du musst mich doch vorstellen!«
»Moment! Ich wollte da gar nicht hin, bin ich doch nur eine Hilfskraft«, antworte ich und entziehe mich ihrem Griff.
»Wer weiß, ob er da überhaupt hingeht. Willst du ihn nicht für mich fragen?«, säuselt meine Schwester und setzt ihren Bitte-Bitte-Blick auf.
»Geh mir nicht auf den Wecker, frag ihn doch selbst.«
»Ich kenne ihn doch gar nicht … offiziell«, antwortet sie und legt den Kopf schief.
»Seit wann ist das für dich ein Hinderungsgrund? Wo sind deine Eier?«, mosere ich.
»Ich und Eier? Ach so! … Jetzt versteh ich, sie fehlen dir.« Meine Schwester schlägt sich vor die Stirn. »Und? Schon die Lage sondiert?«
»Da ja, wie allgemein bekannt, alle attraktiven Männer verheiratet oder hetero sind, rechne ich mir bei Marc keine Chancen aus«, gebe ich zu.
»Tatsächlich? Jetzt muss ich aber fragen, wo denn deine Eier sind? Hör erstmal auf mit dem Herumgeeiere«, spottet meine Schwester und grinst.
Ich sehe an mir runter. »Da, wo sie immer sind«, antworte ich schulterzuckend. »Und jetzt geh mir nicht auf selbige!«
»Kommt gar nicht infrage«, ruft sie. »Das Ding ziehst du jetzt durch. Und wenn er nichts für dich ist, knöpf ich ihn mir vor. Denk dran, du bist mir was schuldig. Schließlich habe ich dir den Job hier organisiert.«
»Ach, so rum soll das gehen? Sehr elegant, Didi!«
»Wehe, du erwähnst bei Marc diesen Spitznamen«, mault sie.
»Wenn du nicht brav bist«, drohe ich augenzwinkernd.
»Dann also heute um sechs, bei der Verabschiedung in der Kantine. Angeblich soll es sogar Fischeier geben«, flötet sie und zwinkert zurück.
»Du bist echt eine Strafe.« Ich stöhne übertrieben.
»Sorg dafür, dass er auch kommt. Sag ihm, das wäre gut, falls er noch öfter als Hilfskraft hier arbeiten will«, instruiert sie mich ungerührt.
Ich frage mich manchmal wirklich, wie meine kleine Schwester es immer wieder schafft, mich um den Finger zu wickeln. Obwohl wir schon öfter kurz miteinander geredet haben, hat es mich vorhin echte Überwindung gekostet, Marc anzusprechen. Schließlich ist das eine ganz andere Nummer. Vor allem war es anstrengend meine Überraschung zu überspielen, als er zusagte. Am liebsten wäre ich heute Abend weggeblieben, denn wer lässt sich schon gern verkuppeln? Aber da muss ich nun durch, denn ich hätte nie mehr Ruhe vor Diana, wenn ich kneifen würde.
Nun stehe ich in der Kantine neben ihr und würde am liebsten im Erdboden versinken. Nervös sehe ich mich um. Ich habe keine Ahnung, was passiert, wenn er hereinkommt. Diana ist alles zuzutrauen. Wenn sie erstmal einen Plan hat, nützt keine Flucht, sie würde das sicher zu verhindern wissen.
Der Raum ist von meiner Schwester geschmückt worden und sie hat sich mächtig ins Zeug gelegt. Goldene Ballons, Girlanden, Luftschlangen – der Schulze war glatte fünfzig Jahre in der Firma tätig und dreißig davon als Verkaufsleiter. Dieses Unternehmen war sein Leben. Deshalb hätte ich eigentlich eine flammende Rede erwartet, aber sie ist - wie die meisten Abschiedsreden - traurig und langweilig. Möglicherweise empfinde ich das nur so, weil ich hier nur wenige Leute kenne, denn Diana schmunzelt öfters.
Wie schafft man es nur so locker zu sein, wo doch Marc jeden Augenblick um die Ecke kommen kann?
Irgendwann applaudieren alle und ich klatsche eilig mit. Die Menge löst sich auf und stürmt das üppige Buffet, denn der Schulze hat es freigegeben. Diana und ich warten brav in der Schlange.
Als wäre es kein Zufall sehe ich gerade zur Tür, als Marc auftaucht. Meine Kehle schnürt sich zu. Leider ist sein Eintreffen auch Diana nicht entgangen. Sie winkt aufgeregt.
»Sag mal, hattest du nicht gesagt, ich müsste ihn dir vorstellen? Und jetzt hast du plötzlich gar keine Berührungsängste mehr?«, frage ich meine Schwester.
»Immer ran an den Feind! Nur wer wagt, gewinnt«, murmelt sie und setzt ein strahlendes Lächeln auf.
Mir wird mulmig zumute. Marc hat uns gesehen und steuert lächelnd auf uns zu. Fuck! Warum werde ich jetzt rot wie eine Tomate? Geht’s noch? Verlegen weiche ich seinem Blick aus und überlege, was ich mir von diesem tollen Buffet holen werde.
Unglücklicherweise habe ich ganz plötzlich keinen Hunger mehr, also werde ich welchen vortäuschen müssen. Wir sind bereits an der Reihe, als Marc uns erreicht.
»Komm, Marc, gesell dich zu uns«, fordert Diana ihn auf.
»Hey! Schön hinten anstellen!«, murrt jemand von hinten.
Wir drehen uns um. Ich kenne den Kollegen nicht. Der zuckt unter Dianas tödlichem Blick zusammen.
»Was? Ich will auch noch was von den Eiern mit Kaviar!«, verteidigt der Meckerer sich.
»Unser lieber Kollege wird doch wohl noch auf Klo gehen dürfen«, rüffelt sie zurück.
Der unbekannte Mitarbeiter scheint blitzschnell zu kapieren, dass weiterer Protest sinnlos ist.
»Na gut! Dann will ich aber gleich einen Tanz mit Ihnen«, antwortet er.
»Sie sind anscheinend neu hier«, murrt noch ein mir fremdes Gesicht von hinten. »Unsere Diana ist wahrlich keine leichte Jagdbeute. Passen Sie auf, dass Sie sich nicht übernehmen.«
»Vielen Dank für den Tipp«, antwortet der Meckerer. »Aber das habe ich schon selbst im Griff. Ich bin übrigens John«, ergänzt er und streckt Diana die Hand hin. Die beiden sehen sich wie hypnotisiert in die Augen.
Marc guckte mich ungerührt an und zuckt mit den Schultern. Ob der gar nicht enttäuscht ist? Meine Aufregung wächst.
»Geht’s hier jetzt langsam mal weiter? Wir haben Hunger«, beschwert sich wieder jemand hinter uns.
›Reiß dich zusammen‹, fordere ich mich auf und greife endlich nach einem Teller.
»Was soll ich dir mitbringen?«, fragt Diana Marc. »Du kannst uns ja schon mal einen Tisch für vier reservieren. Oder wie siehst du das?«
»Klar, mach ich«, antwortet Marc und seine raue Stimme vibriert in meinem Bauch. »Bring mir irgendwas mit. Nur kein Ei, dagegen hab ich eine Allergie.« Marc dreht sich um und Diana nimmt einen zweiten Teller.
Die beiden klingen irgendwie vertraut, oder bilde ich mir das nur ein? Und jetzt soll ich auch noch in Marcs Anwesenheit essen? Mein Magen dreht sich um. Die Schlange nähert sich allmählich dem Ende des Schlemmerparadieses und ich habe immer noch nichts ausgesucht. Wahllos packe ich ein paar Häppchen auf meinen Teller.
Meine Nervosität will einfach nicht weichen, dabei ist es doch Diana, die Marc erobern möchte. Das scheint sie offensichtlich vergessen zu haben, denn sie flirtet immer noch mit John.
Ich schüttle den Kopf, während ich zu dem von Marc reservierten Platz gehe. Er lächelt mich an, ich muss schlucken. Hilflos stehe ich da, mit meinem Teller in der Hand.
Diana und John setzen sich wie selbstverständlich einander gegenüber hin. So bin ich gezwungen, mich auf dem einzigen freien Stuhl niederzulassen. Während die beiden munter drauflosplappern, taxieren Marc und ich uns heimlich. Immer wieder weichen wir unseren Blicken gegenseitig aus. Bei diesem Spiel finde ich kaum Zeit zum Essen, wobei man mein Herumgestochere kaum so nennen kann.
Eine Kantinenfrau bringt Getränke vorbei. Ich wähle Bier und trinke gierig, das beruhigt den Magen. Etwas entspannter wische ich mir den Schaum von der Oberlippe, sehe auf und stelle fest, dass Marc genau dasselbe getan hat, als wäre er mein Spiegelbild. Es funktioniert, wie bei dieser Verhüllungskunst. Ein wahnsinnig sinnlicher Mund zieht meinen Blick magisch an. Sofort habe ich das Bedürfnis, ihn zu küssen. Marc lächelt mich an, als könnte er meine Gedanken lesen. Ich muss schwer schlucken.
Wie kann man nur so verklemmt reagieren?
Es nützt alles nichts. Ich kann mich nicht mal annäherungsweise natürlich benehmen.
»Ich muss mal auf Toilette«, verkünde ich, um mir eine Auszeit zu verschaffen. Marc nickt und lächelt verständnisvoll.
»Was? Wieso?«, fragt Diana verständnislos. »Hast du etwa Probleme mit der Prostata? Du warst doch vorhin schon.«
»Boah Diana!«
»Ist ja schon gut! Viel Spaß, Brüderchen.«
»Danke!«, murmle ich und verschwinde schnellstmöglich.
Auf der Toilette lasse ich das kalte Wasser fasziniert über meine Hände laufen, bevor ich es in mein Gesicht schaufle.
Wie gut das doch tut!
Das raue Papierhandtuch kratzt ein wenig beim Abtrocknen. Nachdenklich betrachte ich mein Gesicht im Spiegel. Ich sehe leider Gottes nur mittelmäßig aus. Nase zu groß, zu wenig Bartwuchs und zu allem Überfluss beginnende Geheimratsecken. Ein absolutes Durchschnittsgesicht, kein Vergleich zu dem von Marc. Da bringt es auch nichts, wenn Diana mich tröstet, mein Haaransatz sei immer schon so hoch gewesen.
Wie soll ich gegen so einen Mann bestehen?
Die Konfrontation mit der Realität lässt meinen letzten Mut schwinden. Er reicht nicht einmal mehr zum Zurückgehen. Es ist wohl besser, wenn ich mich verpisse – im wahrsten Sinne des Wortes.
Während ich an der Garderobe nach meiner Jacke suche, tippt mir jemand auf die Schulter.
»Feige sein gilt nicht, Brüderchen.«
Verzweifelt schließe ich meine Augen. »Das darf doch nicht wahr sein! Du bist ein echter Fluch, Schwesterchen.«
»Ich bin ein echter Segen, mein Lieber. Ohne mich würdest du einsam sterben. Da bin ich mir sicher.«
»Quatsch! Und jetzt lass mich endlich gehen. Ich wollte sowieso nie hierher.«
»Ach … sieh mal einer an. Jetzt sind sie dir doch abhandengekommen!«
»Was?«
»Na, deine Eier! Sind sie ins Klo gefallen, oder was?«
»Ach! Hör jetzt endlich auf mich zu nerven!«, knurre ich und greife meine Jacke.
Diana hält meinen Arm fest. »Moment! Ich habe dir noch nicht alles erzählt.«
Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen, als ich ihr einen vernichtenden Blick zuwerfe.
»Du denkst sicher, du bist nicht attraktiv genug für Marc, oder?«
Bingo!
»Aber da irrst du dich gewaltig. Er ist derjenige, der dich kennenlernen will. Mein neuer Kollege John aus der Sicherheitsabteilung ist sein Bruder und hat mich gefragt, warum du immer so kühl bist.«
»Ich und kühl?«
»Das hat mich auch gewundert. Marc scheint eine ähnlich verzerrte Wahrnehmung zu haben, wie du. Jedenfalls wirkst du auf ihn wie ein Eisblock, weil du immer so kurze Antworten gibst. Ich habe ihm dann geantwortet, dass du vielleicht in Schwulitäten bist, weil du ihn zu gut findest.«
»Schwulitäten?«
»Ja, ich liebe diese Wortspiele. Lass sie mir einfach«, erklärt sie lächelnd. »Also, lange Rede kurzer Sinn. Sieh zu, dass du deine Eier wiederfindest. Er steht auf dich, Junge!«
»Du verarschst mich doch!«
»Warum sollte ich? Es war wirklich so, wie ich gesagt habe. John hat mich gefragt, ob man da nichts machen kann. Das Gute daran ist, dass ich dadurch John nähergekommen bin … und der ist hetero.« Meine Schwester strahlt triumphierend.
»Dann war das ja eine ganz schon fiese Nummer, die du da heute Nachmittag abgezogen hast«, überlege ich.
»Na ja, ich kenn dich doch und wusste, dass du dir nur ungern bei der Eiersuche helfen lässt.«
»Kannst du jetzt bitte mal aufhören mit deinen blöden Sprüchen?«, schimpfe ich.
»Kannst du jetzt bitte mal aufhören mit deinem unreifen Gehabe?«, ranzt sie zurück. Sie bekommt diesen harten Gesichtsausdruck, bei dem sich kein weiterer Streit lohnt.
»Komm jetzt endlich!«, fordert sie mich auf und zieht mich am Ärmel.
Seufzend ergebe ich mich, schließlich meint sie es nur gut.
»Was kann schon groß passieren?«, tröstet sie mich.
Ich nicke.
Kurz vor der Kantine werden wir von John und Marc abgefangen. Auch John zerrt an Marcs Ärmel.
»So, hier ist das andere Königskind«, sagt er grinsend zu Diana und schiebt ihn in meine Richtung. Marc lächelt und sieht mich schulterzuckend an.
»Ich glaube, wir lassen die beiden jetzt mal besser allein.«
»Seh ich auch so«, antwortet sie und öffnet die Kantinentür, aus der mittlerweile Musik dringt. Der Tanz scheint eröffnet.
»Komm, lass uns tanzen«, schlägt John vor, bevor sie verschwinden.
Eigentlich ist es ein Moment, den ich mir immer gewünscht habe. Marc und ich stehen uns gegenüber und sehen uns in die Augen. Aber es ist verdammt schwer gegen meine Verlegenheit anzukämpfen, obwohl die Fronten ja geklärt sind. Mein Herz klopft wieder einmal bis zum Hals.
»Und du? Hast du auch Lust auf Tanzen?«, fragt Marc mich irgendwann.
»Ich tanze nicht so gerne«, antworte ich.
»Wirklich?«
»Na ja, nicht unter den Augen dieser vielen Heteros.«
»Das ist ein ewiger Eiertanz, nicht wahr?«
Ich muss lachen. »Bist du auch ein Freund von Wortspielen?«
»Was hältst du davon, wenn wir in der Kneipe schräg gegenüber noch was trinken und uns dabei ein bisschen kennenlernen? Dann verrate ich es dir«, regt Marc an.
»Okay. Kann ja nicht schaden«, antworte ich. Es ist ein Phänomen, dass einem immer nur dämlich klingende Antworten einfallen, wenn man verknallt ist.
»Na, dann komm«, fordert Marc mich auf.
Wir holen unsere Jacken und machen uns gemeinsam auf den Weg in die Schwulenkneipe. Plötzlich sind meine Eier wieder da. In einem Anfall von Frühlingsgefühlen ergreife ich im Gehen seine Hand.
Er drückt fest zu und sieht mich voller Gefühl an.
Mein Herz schmilzt.
Ich glaub, das wird was!
Die Kinder rennen aufgeregt um den großen Weihnachtsbaum im Speisesaal. Die geschmückte Tanne funkelt und leuchtet ganz unschuldig an diesem Heiligabend. Langweilige Kaufhaus-Weihnachtsmusik macht die Show komplett.
»Will die eigentlich keiner zur Ordnung rufen?«, maule ich und nicke mit dem Kopf in die Richtung. Meine Mutter lächelt nur verständnisvoll.
»Als ich Kind war, hättest du das nie erlaubt«, setze ich hinterher.
»Du weißt, das stimmt gar nicht. Warum bist du nur so auf Krawall gebürstet?«
»Warum nicht? Ich bin schließlich nicht freiwillig hier.«
»Jetzt mach aber mal einen Punkt. Natürlich war es deine Entscheidung, Weihnachten und Sylvester hier mit uns zu verbringen«, tadelt mein Vater mich.
»Ja, aber da wusste ich noch nicht, dass hier kein Schnee liegen wird. Diese Aktion wird tödlich langweilig«, meckere ich.
»Wir wussten das auch nicht, mein Junge. Da muss man eben das Beste draus machen«, meint meine Mutter besänftigend.
»Kannst du mich bitte nicht ›Mein Junge‹ nennen?«
»Wieso? Bist du das nicht?«
Genervt rolle ich mit den Augen. Gott sei Dank wird gerade der Nachtisch des Festmenüs mit einem Riesenspektakel zelebriert und alles starrt auf die brennenden Wunderkerzen.
Mir wird auch eine Portion vor die Nase gestellt. Lebkuchencreme – wer denkt sich eigentlich solche perversen Sachen aus? Angewidert schiebe ich die kleine Schüssel mit dem braunen Etwas in die Mitte des mit Tannenzweigen und allerlei blinkendem Krimskrams geschmückten Tisches.
»Möchtest du deine Portion nicht?«, fragt meine Mutter beiläufig. »Ist doch lecker.«
»Wie das schon aussieht!«
»Warum musst du uns eigentlich diesen schönen Abend verderben?«, fragt sie.
»Geh doch auf dein Zimmer und langweile dich da«, schlägt mein Vater vor.
»Es war ein Fehler mitzufahren … okay?«
»Vor allem war es ein Fehler dich mitzunehmen, wenn du hier nur schlechte Stimmung verbreiten willst«, mault Paps.
»Streitet euch doch nicht. Wir haben es nur gut gemeint, Junge«, fleht meine Mutter.
»Sorry, bin nicht gut drauf … wenn wenigstens Schnee liegen würde.«
Meine Eltern seufzen und ich seufze hinterher. Mein Budget als Student ist nur begrenzt und allein zuhause wollte ich die Feiertage auch nicht verbringen. Aber ohne die Zerstreuung im Schnee ist es sehr schwer, seine Freizeit mit den Eltern zu verbringen. Um besser Luft zu bekommen, lockere ich meine Krawatte.
»Sieh mal, Max, das hübsche Mädel dort. Wäre das nicht etwas für dich? Sie sieht so aus, als würde sie sich auch langweilen. Sprich sie doch einfach mal an, ob ihr zusammen ins Kino gehen wollt … oder so.«
Genervt reibe ich mir über die Augen. »Hörst du bitte auf mich zu verkuppeln, Mama? Du weißt doch, dass ich schwul bin.«
»Ich verkupple dich doch nicht«, entrüstet sie sich. »Ich mache nur Vorschläge. Du hast es noch nicht mit einer Frau probiert. Sei doch mal ein bisschen offener für Alles.«
»Sei DU doch mal ein bisschen offener für Alles!«
»Pssst! Nicht so laut. Es müssen doch nicht alle davon erfahren!«, raunt sie entsetzt. »Der Sex mit einer Frau ist doch bestimmt viel besser. Das musst du nur mal ausprobieren.«
»Ich muss vor allem den Sex mit einem Mann ausprobieren. Mutter, ich bin stockschwul, finde dich damit ab.«
»Du bist noch Jungfrau!?«; ruft meine Mutter einen Tacken zu laut. Eine Frau am Nebentisch dreht sich dezent um und ich möchte im Boden versinken.
Mit roten Ohren rutsche ich ein Stückchen weiter den Stuhl runter.
»Du musst ja auch nicht gleich mit ihr ins Bett gehen«, mault Mama beleidigt.
»Ich. Will. Aber. Nicht. Ich will mich auch mit nicht mit einer Frau anfreunden. Nachher versteht sie es falsch und verwandelt sich zur Klette.«
»Psssst!«, zischt meine Mutter.
»Lass ihn doch«, wirft mein Vater ein. »Du weißt doch, er mag das nicht!«
»Nee, einfach kein Bedarf«, erkläre ich mit gedämpfter Stimme. »Wenn die wirklich keine Beziehung wollen, dann werde ich womöglich der Vorzeigeschwule, den man einfach in der Freundesliste haben muss . Da gibt es viel zu viele einschlägige Filme.«
»Die Filme kenn ich auch, aber das sind doch alles Schwuchteln! Du bist doch keine Schwuchtel!«
Jetzt bin ich dran mit dem: »Pssst!«
Freundschaft mit Frauen, ein leidiges Thema, von dem ich eigentlich noch gar nicht weiß, was ich davon halten soll.
Meine Grübeleien werden unterbrochen, als die Musik aussetzt und der Wirt nervtötend mit dem Finger auf ein Mikro klopft. »Wir kommen jetzt zum Höhepunkt unseres heutigen Abends, der Bescherung. Die findet natürlich nur für artige Kinder statt, also setzt euch.«
Sofort rennen alle Kids zu ihren Sitzplätzen. Als Geräuschkulisse hört man sie aufgeregt tuscheln und nervös auf ihren Stühlen herumrutschen.
»Aber ihr wisst ja, liebe Kinder, ohne Weihnachtslied keine Geschenke. Schließlich muss etwas den Weihnachtsmann anlocken. In Anbetracht des Wetters schlage ich mal Schneeflöckchen Weißröckchen vor«, führt der Ansager weiter aus.
Oh je, warum tue ich mir das an? Der Gastwirt fängt an zu singen - nein, eher zu krächzen - und die Menge stimmt fröhlich ein. Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten, denn so viel gute Laune ist nur schwer zu ertragen. Ein Weihnachtsmann betritt kurz darauf den Speisesaal. Erfreut gibt der Wirt an ihn das Micro weiter und jetzt fängt der auch noch an zu singen…
Doch schon nach wenigen Worten hänge ich an seinen Lippen. Der Mann kann singen – und wie! Sein aufregendes Timbre geht mir, trotz des harmlosen Liedes, durch Mark und Bein. Wie er wohl unter Bart und Mantel aussieht?
Die Kaufhausmusik setzt ganz leise wieder ein, als die Geschenke von ihm verteilt werden. Jeder Gast wird aufgerufen und bekommt eine Tüte mit weihnachtlichen Leckereien. Die Kinder bekommen auch ihre Geschenke überreicht. Ich muss schon sagen, der Santa mit der heißen Stimme hat eine echte Gabe mit denen umzugehen. Er entlockt ihnen Lieder, Gedichte und allerlei Beiträge, die zur allgemeinen Erheiterung beisteuern. Fasziniert beobachte ich das Geschehen.
Als mein Name aufgerufen wird, wünschte ich erneut der Erdboden würde mich verschlucken. Da aber alle anderen Erwachsenen das Spiel mitmachen, kann ich schlecht den Spielverderber mimen. Außerdem erhasche ich so vielleicht einen nähern Blick auf den lieben Santa. Also erhebe ich mich und mache mich auf den Weg, um meine Geschenke in Empfang zu nehmen.
»Untersteh dich zu fragen, ob ich brav war«, raune ich ihm so leise zu, dass der Rest des Saals nichts verstehen kann.
Der Weihnachtsmann lacht und seine blauen Augen mit den langen schwarzen Wimpern funkeln amüsiert. Sein Lachen fährt in meinen Unterleib – schräge Geschichte. Ich schnappe nach Luft und meine Ohren werden warm. Hoffentlich merkt keiner, wie verlegen ich bin.
»Möchtest du vielleicht ein Gedicht aufsagen?«
Diese Bemerkung ist wie eine Ohrfeige und meine Stimmung fällt in eine Gletscherspalte. Ich versuche, ihm den tödlichsten Blick meines Lebens zu senden – Weihnachtsmann hin oder her. »Tut es vielleicht Zicke Zacke Hühnerkacke?«
Wieder dieses Lachen, das erneut meine Sehnsüchte weckt. Zögernd stimmt das Publikum ein.
»Na, vielleicht etwas kurz … aber … na ja.« Mit diesen Worten überreicht er mir eine Naschtüte und dazu eine festlich verpackte Rolle. Die kann ja nur von meinen Eltern kommen. Umgehend nehme ich mir vor, nie wieder mit den beiden in den Urlaub zu fahren, sonst werde ich nicht alt. Nachdenklich drehe ich die geschmückte Rolle in der Hand, während Santa schon den nächsten Namen aus dem dicken Buch vorliest.
Zurück auf meinem Platz packe ich mein Geschenk aus. Es ist ein Snowboardkurs mit allem Drum und Dran. Auch wenn ich den wegen des Schneemangels wohl nicht in Anspruch nehmen kann, so bin ich meinen Eltern doch wahnsinnig dankbar. »Mama … Papa … Danke für das tolle Geschenk. Drückt die Daumen, dass es doch noch schneit.« Die beiden bekommen ein Küsschen und strahlen um die Wette.
»Das war ja eine tolle Bescherung. Vielen Dank an den lieben Weihnachtsmann!«, verkündet der Wirt am Ende. »Vielleicht treffen wir uns jetzt beim nächsten Programmpunkt, den Glühwein auf Kosten des Hauses.«
Ich nicke begeistert. Glühwein ist jetzt genau das Richtige. Gott sei Dank sind meine Eltern zu müde.
Ich betrete die Après-Ski-Bar, als die Party schon voll in Gange ist. Wer kann schon in Schlips und Kragen Spaß haben? Und das hier ist so ziemlich meine letzte Möglichkeit, an diesem Tag Spaß zu haben. Deshalb habe ich erstmal meinen ›leichten ‹ angelegt. Meine Lieblingsjeans, die nach Meinung meiner Mutter viel zu verschlissen sind, und ein knallenges schwarzes Shirt. Das bringt wunderbar meine Muskeln zur Geltung. Die vielen Stunden in der Muckibude müssen sich schließlich irgendwann mal rentieren. Okay, ich geh ebenfalls deshalb hin, weil so viel heiße Typen da sind.
Wie auch immer, ich bin kaum drin, da wird mir schon der erste Glühwein von einem hübschen Mädel hingehalten. »Kannst ruhig annehmen, ist vom Wirt bezahlt.«
Ich sehe sie fragend an. Hoffentlich will sie keinen Flirt anbahnen.
»Ich trinke keinen Alkohol, weil ich sonst so leicht die Kontrolle verliere«, erklärt sie.
»Oh … ja … danke. Kontrolle verlieren … das wollen wir ja alle nicht.« Und noch während ich das sage, bleibt mein Blick wie hypnotisiert an Santa hängen. Er hat den Bart heruntergezogen und die Mütze abgesetzt. Ein Gesicht, das mindestens so heiß ist wie seine Stimme, war darunter verborgen. Mein Unterleib fängt schon wieder an zu kribbeln.
Angeregt unterhält er sich mit einem älteren Pärchen. Er muss wirklich ein Charmebolzen sein, denn die Blicke des Pärchens kann man nur als entzückt bezeichnen. Jetzt lachen sie auch noch aus vollem Hals.
Irgendwie wünsche ich mir gerade nichts sehnlicher, als auch vom Weihnachtsmann beachtet zu werden. Aber wie stelle ich das verdammt nochmal an? Man könnte sich ja vielleicht Mut antrinken, schießt es mir durch den Kopf … und sich dann immer mehr in seine Richtung vorarbeiten.
Dank des Weins, den es zum Essen gab, steigt mir der Punsch gleich zu Kopf. Als er ausgetrunken ist, hält mir eine Bedienung gleich einen neuen vor die Nase. Sie lächelt mich vielsagend dabei an, aber ich bedanke mich nur und weiche ihrem Blick aus.
Vorsichtig linse ich zu Santa hinüber. Es soll schließlich keiner denken, ich starre ihn an. Die Bar ist schrecklich voll, überall muss ich mich durchschlängeln. Immer wieder werde ich von Leuten aufgehalten, die mich zum Trinken einladen. Da nehme ich doch gerne an, schließlich wollte ist das mein Plan. Zum Ausgleich wechsle ich ein paar höfliche Worte mit den lieben Spendern.
Immer mutiger drängle ich mich so Schritt für Schritt voran. Mein Herz jubiliert als ich sehe, dass das einnehmende Pärchen sich von meinem Hot Santa verkrümelt. Richtig so, ist schließlich Bettgehzeit für alte Leute.
Jetzt bleiben meine Augen doch wie Magneten an ihm hängen. Lässig an die Bar gelehnt blickt er zufrieden über die Menge, was ihm bei seiner imposanten Größe auch nicht schwerfällt. Wie er wohl unter seiner Verkleidung aussieht? Ob es gepolsterte Weihnachtsmannmäntel gibt? Wohl eher nicht, aber das deutet dann auf ein breites Kreuz hin. Ich muss schlucken, als in meinem Kopf ein Bild von einem muskelbepackten Supermann entsteht. Ob da irgendwelche anderen Drogen in dem Glühwein sind? Mir wird jedenfalls fast unerträglich heiß.
Gleichzeitig lähmt mich diese Phantasie, weiter auf ihn zuzugehen. Wie soll ich Hänfling Eindruck bei so einem machen? Durch meine Wortgewandtheit? Keine Chance! Ein Stoßseufzer entfährt mir.
Da ich ziemlich dicht an der Bar bin, bestelle ich mir diesmal selbst einen Wein. Mein Alkoholpegel reicht definitiv nicht, um mein schwaches Selbstbewusstsein auszublenden. Ab jetzt werde ich mich am Tresen langhangeln. Inzwischen brauche ich auch etwas zum Festhalten, denn mir wird langsam schwindelig.
Nur noch ein paar Meter, dann bin ich da und mir fällt sicher etwas als Anmachspruch ein.
Vielleicht so etwas wie: ›Ich will jetzt doch ein Gedicht aufsagen: Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich bitte begehrlich an. Packe deine Rute aus, dann geht die Party ab im Haus.‹
Durch den alkoholbedingten Tunnelblick muss ich das Objekt meiner Begierde immer stärker fokussieren. Plötzlich nimmt er mich wahr, unsere Blicke bleiben sekundenlang aneinanderhaften. Was geht ihm da durch den Kopf? In seinem Gesicht erscheint eine Regung: Leider bin ich nicht mehr in der Lage sie zu analysieren. Ich sehe nur, dass sein Mund sich öffnet, als wolle er mir etwas sagen.
Fuck! Ich hab es mit dem Alkohol übertrieben!
Bevor ich mich weiter vorarbeite, werde ich besser ein Wasser trinken. Erst als die Bedienung es mir hinstellt merke ich, wie durstig ich bin. Gierig stürze ich das kalt prickelnde Getränk in mich hinein. Immer wieder sehe ich zu meinem Santababy hinüber.
Manchmal linst er zurück, aber ich kann seinem Blick nicht standhalten, bevor ich wieder nüchtern bin. Als eine Frau meine Observierung behindert muss ich husten, weil ich mich verschluckt habe. Das darf ja wohl nicht wahr sein! Ausgerechnet die Schnalle, die mir meine Mutter vorhin andrehen wollte. Und er? Gibt erneut den charmanten Plauderer.
Fuck! Er ist bestimmt wieder so ein verdammter straight guy, auf die ich viel zu oft abfahre.
Eifersucht lässt meinen Atem stocken. Ich muss jetzt wieder runterkommen und das Manöver abbrechen. Da sehe ich, wie er aufblickt. Hitze steigt in meinen Schädel und sprengt ihn fast.
Er legt die Hand auf die Schulter der Tante und fängt an, sich zu mir durchzudrängeln.
Oh mein Gott!
Meine Kehle wird verdammt trocken und ich hab kein Getränk mehr. Krampfhaft klammere ich mich ans Thekengeländer. Je näher er auf mich zukommt, desto breiter wird sein Grinsen.
»Hi Max! So heißt du doch, oder?«
Ich kann nur nicken und versuche verzweifelt, die Wüste in meiner Kehle durch schlucken zu befeuchten – vergeblich.
»Du hast echt Glück mit deinem Snowboardkurs. Es soll heute Nacht noch anfangen zu schneien.«
»Echt?«, krächze ich. Woher weiß der eigentlich von meinem Snowboardkurs?
»Morgen wird es laut Wettervorhersage erstmal kräftig schneien. Übermorgen kann‘s dann losgehen.«
»Aha«, antworte ich nickend, mehr bekomme ich einfach nicht heraus. Wenigstens ist das Ende der Langeweile absehbar.
Ich weiß selbst nicht, wie es mir einfallen konnte, ausgerechnet am Sonntag in den Alsterpark zu gehen. Wenn es nur nicht so beruhigend wäre, spazieren zu gehen. Es ist Frühling. Die Sonne scheint, die Blumen sprießen und die Hormonhaushalte der Leute schießen über. Wo man hinsieht, verliebte Pärchen.
Eine Kutsche fährt an mir vorbei, natürlich mit knutschenden Menschen. Mir wird schlecht. Das ist doch alles so verlogen! Man trifft sich, macht sich wer weiß was vor, nur damit man zum Vögeln kommt, und eh man sich’s versieht, ist man der Gefickte. Ich habe einfach keine Lust mehr auf diese ganzen hohlen Leute und diese oberflächlichen Dates.
Endlich erblicke ich eine Bank, die nicht von einem knutschenden Pärchen okkupiert ist, und setze mich leise schnaufend hin. Die Sonne spiegelt sich in der Außenalster. Der Wind säuselt durch die blühenden Zierkirschen, was die Vögel aber nicht vom Zwitschern abhält. Das ist ja alles ganz nett, aber macht mich nicht glücklicher.
Ich bin jetzt Mitte zwanzig und spüre als Schwuler natürlich keine biologische Uhr ticken, aber doch so etwas wie Paarungsdrang. Leider will es bei mir einfach nicht klappen. Ob es für mich überhaupt den Richtigen gibt? Meine Oma sagte zwar immer, auf jeden Topf passt auch ein Deckel. Aber ich zweifle langsam, dass das auch für mich gilt.
Die Leere, die ich seelisch empfinde, schlägt mir auf den Appetit. Ich habe heute noch nichts gegessen, doch ich vermisse auch nichts. Seit Theo mich verlassen hat, ist mein Leben grau geworden. Dabei hatten wir nur vierzehn Tage zusammen. Für mich die schönsten meines Lebens … bis Theo meinte, ich wäre ihm zu fett, er hätte etwas Besseres verdient. Er hatte, getreu dem Motto festhalten und weitersuchen, schon jemanden an der Hand.
Ein Typ kommt auf meine Bank zu und lächelt mich freundlich an. »Moin, Moin.«
Was für ein Schwätzer! Weiß der denn nicht, dass nur Touristen zweimal mit moin grüßen?
»Moin«, brumme ich, nehme mich zusammen und lächle höflich zurück. Schließlich muss ich die Vorurteile vom unterkühlten Norddeutschen oder dem arroganten Hamburger nicht noch weiter befeuern.
»Ist hier noch frei?«, fragt er.
»Klar«, antworte ich schulterzuckend und rücke auf den Rand, während ich ihn mir genauer ansehe. Er ist unglaublich schön. Dunkle, dichte Haare, männliche Gesichtszüge, athletischer Körperbau – heterolike. Wenn er schwul wäre, könnte er sich sicher nicht vor Angeboten retten. Aber auch als Hetero wird er keine Probleme haben, irgendwo zu landen.
Der schöne Fremde atmet tief durch. »Was für ein herrliches Fleckchen Erde«, erklärt er euphorisch. »Ich wohne in einem Hochhaus in der City von Frankfurt, typischer Betonbunker. Aber hier, das ist etwas ganz anderes. Die Luft ist viel besser.«
»Hmhm«, antworte ich nickend. Ich habe keine Lust, mir einen Small Talk aufdrängen zu lassen.
»Ich bin hier auf Dienstreise und bin extra früh angereist, damit ich mir Hamburg ansehen kann«, plätschert es weiter.
»Soso«, antworte ich gelangweilt.
»Wie ist das eigentlich hier so mit dem Nachtleben? Ist hier was los?«, lässt er sich nicht abschrecken.
»Keine Ahnung, ich gehe nicht aus«, brumme ich, denn ich nehme nicht an, dass er die beste Schwulenkneipe hier im Viertel meint. »Reeperbahn, wo sonst.«
»Ach schade, da war ich gestern schon. Reeperbahn ist nicht so mein Ding. Ich bin übrigens Felix«, setzt er nach und streckt mir seine Hand entgegen.
Er erwartet jetzt doch wohl nicht, dass ich ihm meinen Namen nenne? In der letzten Zeit habe ich mir abgewöhnt, den zu verraten, denn er lautet Vincent. Zu oft kam bei unbedarften Heteros die Frage: Ach, der, der keinen hochkriegt, wenn er an Frauen denkt. Am Anfang fand ich es lustig, zu antworten: Genau. Die blöden Gesichter waren einfach zu köstlich. Aber seit Theo mich verlassen hat, ist mir der Spaß daran vergangen. Aller Spaß vergangen. »Schön für dich«, brumme ich den Fremden an und drehe mich weg.
Felix lässt scharf die Luft heraus. »Oh, Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
Na, dann ist ja gut.
Mein Banknachbar raschelt mit Pergamentpapier und packt sein Frühstück aus, Sandwiches. Kohlenhydrate! Wer traut es sich heutzutage noch, Kohlenhydrate zu essen?
»Möchten Sie auch eins?«, fragt er höflich und streckt mir den Stapel hin. »Suchen Sie sich eins aus.«
»Nein, danke. Ich habe keinen Hunger«, antworte ich und zwinge mich wieder zu einem Lächeln.
»Nehmen Sie ruhig.«
»Nein, danke, wirklich nicht.«
»Die Brote schmecken köstlich«, nervt er weiter.
»Was an Nein danke haben Sie eigentlich nicht verstanden? Sehe ich etwa verhungert aus?«
Felix weicht zurück. »Ehrlich gesagt, ja«, gesteht er grinsend. »Und traurig. Aber Entschuldigung, ich habe es nur gut gemeint.«
»Alle meinen es immer nur gut mit mir«, schimpfe ich und stehe auf.
»Es tut mir wirklich leid. Kommen Sie doch zurück! Ich wollte Sie nicht vertreiben!«, ruft er mir hinterher.
Ich drehe mich um und sehe einen zerknirschten Felix. »Schon gut. Ich wollte sowieso gerade gehen«, tröste ich ihn.
Er schluckt, als ob er es nicht glaubt. »Tschüss«, haucht er.
»Ich bin übrigens Vincent«, ergänze ich versöhnlich und überlege, ob ich ein Vielleicht sieht man sich ja mal wieder dazusetzen soll. Ich entscheide mich dagegen, weil ich keine falschen Signale senden will. Ich kenne mich doch, ich darf nicht freundlich zu schönen Fremden sein. Am Ende habe ich mich wieder in einen Hetero verliebt. Schuster, bleib bei deinen Leisten. Das ist noch so ein Spruch von meiner Oma, den ich diesmal aber beherzigen sollte.
Zu Hause angekommen meldet sich doch noch mein Magen. In meinem Kühlschrank ist nur ein Magerjogurt zu finden. Ich schnipsle mir eine Banane herein und esse ihn vor dem PC.
Das Surfen macht mir keine Freude. Deshalb schnappe ich mir mein Smartphone und öffne die Dating-App Grindr, das Tinder-Äquivalent für homosexuelle Männer. Und das, obwohl ich mir eigentlich vorgenommen hatte, erst mal nicht mehr zu daten. Ich seufze, Grindr ist beliebt. Nicht zuletzt wegen der zahlreichen Kategorisierungsmöglichkeiten, was die ganze Sache natürlich noch oberflächlicher macht. Beliebt heißt viel Auswahl. Zu viel Auswahl für mich, denn da gehe ich in der Menge unter. Muskeln, Alter und Dichte der Körperbehaarung … Dabei sind Bear, Hunk und Co. viel dabei, doch das Nonplusultra heißt: »Heterolike« – Man(n) ist so männlich wie möglich. Logisch, wenn man auf Männer steht. Ich erwische mich beim Hashtag #nofatsnofems, was so viel bedeutet wie »Keine Fetten, keine Tunten« und vergleiche mein Gewicht mit dem der anderen Kandidaten.
Plötzlich steigt Magensäure auf. Was mache ich eigentlich hier? Ich wollte doch nicht mehr bei diesem Ding mitmachen, nicht mehr so oberflächlich sein. Doch das ist gar nicht so einfach. Wenn ich jetzt keinen Schlussstrich ziehe, bin ich bald wieder drauf.
In einem Anfall von Wut über mich selbst lösche ich die App. Und jetzt? Ich beschließe, mir einen Film anzusehen. Brokeback Mountain? Nein, dann überkommt mich wieder das heulende Elend. Nach langem Hin und Her entscheide ich mich für Titanic. Da stirbt der Schönling, bevor er sein Glück ausleben kann. Das kommt meiner Stimmung sehr entgegen.
Mit steifem Nacken wache ich wieder auf. Ich bin eingeschlafen, der Film ist zu Ende. Draußen wird es schon dämmrig. Ich habe Hunger und einen leeren Kühlschrank. Irgendwie komme ich nicht umhin, meinen Hintern noch einmal nach draußen zu bewegen. Aber vorher muss ich duschen.
Nachdenklich betrachte ich mein nacktes Spiegelbild. Wie immer bin ich nicht mit mir zufrieden, was ich wohl auch in diesem Leben nicht mehr sein werde. Muskeln, ich brauche definitiv mehr Muskeln – und ein Sixpack. Ich werde mich im Fitnessstudio anmelden. Wie oft habe ich mir das schon vorgenommen? So wie ich aussehe, schäme ich mich, dort hinzugehen. Ich hasse mich.
Na ja, wenigstens will ich nicht stinken und gehe unter die Dusche. Wofür ich mich so sorgfältig rasiere, weiß ich nicht. Ist wohl reine Gewohnheit. Ich fühle mich so gut, wie ich mich gerade fühlen kann, als ich meine Stammkneipe betrete.
Es ist sehr voll an diesem Samstagabend. Die ersten Tische stehen draußen, aber um jetzt schon draußen zu sitzen, bin ich zu sehr Warmduscher. Drinnen schlägt mir eine feuchte Wärme entgegen. Ein paar Leute heben den Kopf, um zu sehen, wer hereinkommt. Es ist kein bekanntes Gesicht dabei – außer einem. Mir stockt der Atem.
Der schöne Felix aus dem Park sieht mich mit seinen tiefblauen Augen, umrahmt von langen Wimpern, an. Sind die getuscht? Er sitzt allein an einem kleinen Tisch und fängt an zu strahlen, als er mich sieht. »Vincent! Na, das ist ja ein Zufall!«, ruft er erfreut.
Es kann ihm nicht entgangen sein, dass er sich in einer Schwulenkneipe befindet.
»Ja …«, stottere ich. »Ich … ähm …«
»Felix war mein Name. Mensch komm, setz dich doch. Oder bist du verabredet? Ich wollte mir gerade etwas zu essen bestellen.«
Es gelingt mir nur ein schiefes Lächeln. »Ich bin überrascht, dich hier zu sehen.«
»Echt jetzt? Ich habe heute im Park schon so eine seltsame Anziehung gespürt, deshalb hatte ich mich ja auch zu dir gesetzt. Aber dann dachte ich, es war ein Irrtum, als du so abweisend warst.«
»Ähm ja, entschuldige. Ich bin zur Zeit nicht gerade die lustigste Gesellschaft«, sage ich und setze mich, denn jetzt bin ich neugierig geworden.
Eine Bedienung kommt und wir bestellen beide ein Bier und die Karte.
»Was kannst du empfehlen?«, fragt Felix.
»Ich esse hier immer den Salat mit Putenstreifen.«
»Ach nein, das ist nichts für mich. Ich brauche etwas Deftigeres. Weißt du, ich habe zu lange diesen Shape-Wahnsinn mitgemacht und bin irgendwann einfach umgekippt. Das will ich nie wieder erleben, denn das Leben macht so keinen Spaß mehr. Man darf sich nicht für solche dummen Äußerlichkeiten versklaven.«
»Du hast leicht reden, so wie du aussiehst«, knurre ich.
»Na, ich weiß nicht. Du hast es doch auch gar nicht nötig«, erklärt er lächelnd.
»Warum glaube ich dir das nicht?«
Felix bläst die Backen auf. »Ich glaube, das nennt man fishing for compliments.«
»Wie kommst du denn da drauf?«, frage ich fast beleidigt.
»Na, du bist mir sofort aufgefallen. So einer wie der hat an jedem Finger zehn, dachte ich. Ich dachte noch viel mehr, aber nicht, dass du nicht mit dir zufrieden bist.«
Ich nicke nachdenklich, denn seine Sätze klingen glaubwürdig. »Die Aalsuppe.«
»Was?«
»Du hast mich gefragt, was du essen sollst. Die Aalsuppe ist eine hiesige Spezialität.«
»Ach so, ja«, antwortet er verwirrt.
Ich bestelle auch Aalsuppe, denn die habe ich schon Ewigkeiten nicht mehr gegessen. Wir essen, erzählen und verstehen uns prächtig. Er war auch enttäuscht von seiner großen Liebe, sagt aber jetzt, dass er dank seinem Ex das Leben mit ganz anderen Augen betrachtet, weil er sich nicht mehr verbiegen lässt.
Genau das nehme ich mir im Laufe des Abends auch vor. Scheiß auf die Äußerlichkeiten! In Felix’ Nähe ist das spielend leicht. Bei ihm habe ich das Gefühl, dass ich ganz ich selbst sein kann. Und ganz von selbst kommen wir uns näher.
Ein Hauch seines köstlichen Duftes kommt zu mir herüber, als sich unsere Gesichter nähern. Felix’ Augen funkeln, als er mir über die Wange streichelt, bevor er seine vollen Lippen auf meine presst. Wir knutschen und knutschen und knutschen und knutschen wie die Teenager … bis unsere Münder geschwollen sind. Jede Zelle meines Körpers ist wie elektrisiert.
»Und jetzt?«, frage ich, als Felix sich plötzlich löst. »Darkroom?«, setze ich ernüchtert nach. In meinem Liebesrausch hatte ich völlig ausgeblendet, dass er ja nur auf Dienstreise hier ist. Was soll so einer sonst wollen als einen guten Fick?
Felix lächelt und streichelt mir übers Haar. »Nein, ich muss morgen früh raus und dringend ins Bett.«
Fuck! Was habe ich erwartet? »Ach so, ja klar. War schön, dich kennengelernt zu haben«, stottere ich.
»Nimm’s mir nicht übel, aber ich habe mit One-Night-Stands keine guten Erfahrungen gemacht. Ich brauche Vertrautheit, brauche es zärtlich und vor allem nicht oberflächlich. Du bist zu gut, um dich zu ficken und danach zu vergessen. Es würde mir das Herz brechen.«
Meine Augen werden groß. Zu gut? Verstehe, eine nette Abfuhr.
Felix lächelt schief. »Ich weiß, das klingt jetzt weibisch, aber so bin ich eben. Ich bin kein Mann für eine Nacht und möchte dich gerne näher kennenlernen.«
»Aber …«
»Sorry, wenn ich dich enttäusche. Ich fand dich gleich so toll. Und jetzt, wo ich dich etwas kennengelernt habe, finde ich dich noch toller. Also, ich bin noch ein paar Tage da. Wenn du willst, können wir uns jeden Abend treffen und sehen, was passiert.«
»Du meinst ... vielleicht eine Fernbeziehung?«, frage ich ungläubig und merke, wie mein ganzer Körper anfängt zu kribbeln, während er von einem warmen Strom durchzogen wird.
Felix zuckt mit den Schultern. »Warum nicht? So was soll funktionieren. Oder hast du kein Interesse?«
Mein Herz klopft bis zum Hals. »Ja, klar. Ja doch«, stammle ich begeistert und kann mein Glück gar nicht fassen. Der schönste Mann der Welt interessiert sich für mich!
Wir bezahlen und gehen zusammen nach draußen. Meine Schritte federn wie auf Wolken. Die Lichter der Nacht funkeln romantisch. Die Luft duftet nach Frühling, tief sauge ich sie in meine Lungen. Mein Brustkorb weitet sich, ich richte mich auf.
Verstohlen greift Felix nach meiner Hand, die ich ihm nur zu gern überlasse. Ein warmer Strom von Glück zieht von dort bis zu meinem Herzen. Die Welt ist farbiger als vorhin.
Wie sagte meine Oma noch so schön?
Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her.
Stimmt. Man muss nur dran glauben.
Texte: Alica H. White
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2017
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