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Bonuskapitel Frederic

»Dominic, ich weiß jetzt nicht, wie ich anfangen soll. Also … ich … ich … habe mit Lisa geredet. … Ich … sie … sie wird noch bis zum Ende des Studiums bei mir wohnen bleiben«, stottere ich mein Anliegen hinaus. Wie wird er es aufnehmen?

Ich höre, wie meiner großen Liebe am anderen Ende der Leitung der Atem stockt. Ein ungutes Gefühl erfasst mich. Das habe ich immer, wenn etwas ganz fürchterlich in die Hose geht …

»Was soll das heißen? Was willst du mir damit sagen? Du willst …? Das kann nicht dein Ernst sein! Sag, dass das nicht wahr ist!« Ich höre, wie die Stimme am anderen Ende des Telefons wütend zittert und schließlich bricht.

Ich tue ihm weh! Was für ein Scheiß-Gefühl! Ich will das alles gar nicht, will nicht von Angst getrieben sein.

»Lisa müsste ihren Traum mit dem Studium aufgeben. Sie ist noch nicht so weit, mit Raphael zusammenzuziehen. Ich kann und will sie nicht im Stich lassen. Nicht jetzt, nicht so.«

»Und was ist mit uns?« Er schluckt und räuspert sich, versucht wohl, ein Weinen zu unterdrücken. Fuck!

»Mit uns bleibt alles beim Alten, wie immer. Bitte, lass uns bis zum Ende von ihrem Studium einfach so weitermachen.« Immer wenn ich ihn so angefleht habe, hat er doch bisher Verständnis gezeigt. »Bitte, bitte, komm schon Nic. Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, eigentlich zu viel.«

»Das sind doch noch ganze zweieinhalb Jahre! So lange kann und will ich nicht warten! Wer weiß, ob du dich bis dahin überwinden kannst!« Die Verzweiflung ist Dominics Stimme deutlich anzumerken.

Aber ich bin auch in einer Zwickmühle, was immer ich ihm sage, ich werde einem von beiden wehtun müssen. Lisa verlässt sich auf mich, auf meine Unterstützung. Schließlich habe ich sie damals mit erheblichem Aufwand hierhergelockt, da kann ich sie doch nicht einfach wieder vor die Tür setzen. Sie hat mir so geholfen, meine Neigungen vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Sie hat ihre Wohnung und ihr Leben aufgegeben, da kann ich doch jetzt nicht so einfach sagen, dass ich es mir jetzt anders überlegt habe. Sie ist so lieb und nett, ihre lebhaften Kinder haben endlich diese Totenstille in dieser riesigen Villa beendet. Ich mag mir gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, wenn sie wieder auszieht.

»Bitte, gib mir doch noch diese Galgenfrist! Ich brauche einfach noch Zeit!«, beschwöre ich ihn. »Mann, ich liebe dich doch! Ich will dir nicht wehtun!«

»Selbst wenn ich wollte, ich kann nicht mehr. Ich geh dabei kaputt, bin ja jetzt schon ein Wrack! Ich kann und will dich nicht wiedersehen! Es ist aus! Endgültig!« Sein Schluchzen zeigt mir, er kann seine Gefühle nicht mehr kontrollieren.

Er hat es getan! Er hat Schluss gemacht, mit mir, mit uns. Er hat es tatsächlich getan …

Alles Blut weicht aus meinem Kopf und mir wird schwindelig.

Da ist er jetzt, der Supergau.

Genau das Szenario, vor dem ich mich am meisten gefürchtet habe.

Wie gelähmt halte ich das Telefon in der Hand, und bin völlig unfähig auch nur zu überlegen, was zu tun ist.

Warum kann ich denn nichts tun? Ich muss doch etwas tun! Ich muss ihn überzeugen, weiter durchzuhalten, bei mir zu bleiben. Er kann mich doch nicht verlassen. Wie soll es dann weitergehen?

»Bitte lass mich in Ruhe!«, schreit er krächzend ins Telefon und legt auf.

Meine Knie wackeln wie Pudding. Schweiß bricht aus, und mir wird heiß, dann wieder kalt.
Jetzt ist es soweit, ich habe die ganze Sache vergeigt … gegen die Wand gefahren. Genau das wollte ich doch immer vermeiden. Und nun bin ich grandios gescheitert. Mit einem Schlag ist alles sinnlos geworden.

Vor Wut mit mir und der Welt schmeiße ich das Telefon mit aller Wucht gegen die Wand. Es zerschmettert in seine Einzelteile, genau wie mein Leben.

Ich bin wie gelähmt und innerlich taub. Was jetzt? Kraftlos lasse ich mich auf mein Polstersofa sinken. Vollkommen ratlos und erschöpft verberge ich mein Gesicht in den Händen. Vor meinem inneren Auge erscheint Dominic. Meine Seele schmerzt und eine tiefe Sehnsucht nach ihm baut sich auf.

Er ist noch keine Minute aus meinem Leben verschwunden und ich kann es jetzt schon kaum ertragen. Ich weiß wirklich nicht, wie das so einfach passieren konnte. Ich bin ein Idiot, den Bogen so zu überspannen.

Da komme ich wohl nicht mehr raus. Und jetzt? Soll ich ihn noch einmal anrufen? Ich habe mich doch geirrt? Er würde mich auslachen.

Doch Lisa sagen, dass sie ausziehen soll? Wie soll ich ihr meinen plötzlichen Sinneswandel erklären?

Ich habe Nic falsch eingeschätzt. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. So will ich Lisa nicht behandeln. Nein, das kann ich nicht machen.


Geräusche an der Tür sagen mir, Lisa kommt zurück. Normalerweise freue ich mich immer sehr, die ganze Bande zu begrüßen. Sie freuen sich genauso, mich wiederzusehen. Aber heute kann ich das einfach nicht ertragen.

»Ric«, ruft der kleine Leon, »kuck doch mal, ich hab Kaugummi.« Mit seiner kleinen Hand hält er mir drei klebrige Kugeln unter die Nase. Die Farbe der Kugeln hat sich zum großen Teil in seine kleine Hand abgefärbt. »Willst du auch eins?« Müde schüttle ich meinen Kopf.

Die sportliche Anna ist schon aufs Sofa geklettert. Ihre Hand streicht durch mein Haar. »Ric traubig.«

Ich ringe mir ein Lächeln ab und streiche mit den Fingerrücken über ihre weiche Kinderwange. Sie drückt mir einen klebrigen Kuss auf meine Wange.

Einen kurzen Moment lang lenkt mich diese Geste ab, ich lege meinen Arm um die süße Maus.

Eifersüchtig kommt jetzt auch Leon näher und schlingt mir seine Arme um den Hals. Das Ganze ist so niedlich, aber trösten kann es mich leider gar nicht.

Lisa tritt hinzu. »Ric? Alles in Ordnung mit dir?«

Ich muss schlucken, nicke nur stumm. »Mir … mir ist nicht gut. Ich glaube, ich gehe besser ins Bett.«
Fluchtartig, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, verlasse ich das Wohnzimmer. Lisa hat natürlich sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich schüttle nur den Kopf, als ich mich Richtung Tür schleppe. Ich kann jetzt einfach nicht mit ihr darüber reden.


Die Tage vergehen quälend langsam. Eine Depression hat mich voll im Griff, lähmt meine Glieder. Die meiste Zeit liege ich mit schmerzender Seele und dunklen Gedanken im Bett. Mir schmeckt kein Essen, ich habe keinen Durst, mein Körper verspürt gar nichts. Eine dumpfe Taubheit hat sich wie ein Schatten über mich gelegt. Immer wieder spielen sich die Bilder unserer schönen, gemeinsamen Zeit vor meinem inneren Auge ab.

Wie ich in sein Büro kam, damals, kurz nach dem Tod meiner Eltern. Schlagartig war mir klar, dass ich für diesen Mann etwas empfinde. Schlagartig war mir klar, mich selbst belügen hatte keinen Zweck mehr. Jahrelang habe ich versucht, es zu verdrängen, mir sogar Frauen gesucht.

Natürlich haben die sich nach einiger Zeit verabschiedet, keine war zufrieden und ich sowieso nicht. Nur meine Eltern meinten wohlwollend, ich werde die Richtige schon noch finden. Es ist ein gewisser Trost, dass sie die Wahrheit bis zu ihrem Tode nicht kannten.

Sie wären sicher sehr enttäuscht von mir gewesen, wenn sie von meiner Neigung erfahren hätten. So ein missratener Sohn ist nicht gerade ein Aushängeschild für unser Geschäft. Ich habe damals alles getan, um nicht auch noch in anderer Hinsicht zu fehlzuschlagen. Everybodys' Darling. Einser-Abi und auch das Studium hätte ich sicher mit Auszeichnung bestanden.


Aber dann hat das Schicksal mit aller Macht zugeschlagen. Nach dem verheerenden Unfall meiner Eltern, die zusammen mit meinen Geschwistern ihr Leben verloren haben, habe ich mein Studium abgebrochen, um den Betrieb in ihrem Sinne weiterzuführen und so ihr Andenken zu bewahren.


Es war sehr schwer, als ich in die Villa zurückkam, in der früher immer etwas los war, und jetzt Totenstille herrschte. Ohne Christine und Gerd, die langgedienten Hausangestellten, hätte ich es hier niemals ausgehalten.

Natürlich waren viele rechtliche Dinge zu regeln. Unsere Firma arbeitet schon lange mit der Anwaltskanzlei zusammen, in der Dominic angestellt ist. Wir beide empfanden es als magischen Moment, als wir uns dort das erste Mal sahen. Nach dieser ersten Begegnung mit ihm war dann plötzlich wieder Licht am Horizont. Wie ein Vorhang, der immer weiter ein Fenster freigibt, wenn er langsam beiseitegezogen wird, wurde mein Leben von Tag zu Tag wieder heller.

Er fand anfänglich immer wieder Vorwände für erneute Treffen. Ich war damals überglücklich und genoss das Bauchkribbeln. Ich wollte ihm unbedingt näherkommen, wusste aber nicht wie. Ich ahnte schon, dass er auch etwas für mich empfindet, aber sicher war ich mir natürlich nicht.

Als er dann auf dem Golfplatz den Ungeschickten mimte, habe ich sofort den Braten gerochen und diese Gelegenheit schnell genutzt. So zeigte ich einem Golfspieler mit Handicap 5 den richtigen Abschlag und wurde mit einem Kuss belohnt.

Ich weiß noch genau, wie mir der sofort in den Unterleib fuhr und ich einen Moment lang alles um mich herum vergaß.

Ein Motorengeräusch holte mich zurück in die Wirklichkeit. Schlagartig wurde mir klar, dass ich nie wieder so unvorsichtig sein darf. Unsere Treffen waren selten, aber intensiv. Besonders die Wochenenden in Südfrankreich gehören zu der schönsten Zeit in meinem Leben.

Sein Lachen, das glückliche Funkeln in seinen Augen und seine unglaubliche Schönheit. Seine Liebe, sein Ergebenheit, seine Zärtlichkeit und die Art, wie er mir endlich körperliche Befriedigung verschaffte.

Ich liebe ihn so sehr.

Warum habe ich ihm das eigentlich nie gesagt? Ich Feigling … als wenn ich mir damit etwas vergeben hätte. Meine ewige Angst entdeckt zu werden … er hat immer mitgespielt, bei all meinen schrägen Ideen. Er hatte solch eine Geduld mit mir … Und ich? Ich habe ihn beharrlich eine Armlänge auf Abstand gehalten. Nur kein Risiko eingehen! Ich war ein Arschloch und er? Er hat mir vergeben … immer, spätestens nach dem Sex. Ich habe alles für selbstverständlich gehalten. Dabei wusste ich es doch immer, seine Liebe ist nicht selbstverständlich.

Wenn wir zusammen waren, war ich der glücklichste Mensch. Und jetzt soll das alles vorbei sein? Warum? Warum kann ich nicht einfach so sein, wie ich bin? Warum habe ich so eine Scheißangst?

Angst vor der Reaktion der Gesellschaft, wenn ich mich oute. Angst, offen schwul zu leben und damit ein Außenseiter sein. Angst mein Geschäft zu schädigen, meine Angestellten entlassen zu müssen.

Raphael meint, das ist heute alles kein Problem mehr, so viele Prominente haben sich doch geoutet. Für ihn ist alles so einfach …

Sicher, es wird von den meisten akzeptiert, dass es Schwule gibt. Von den meisten … nicht von allen. Aber sowas sucht man sich nicht aus, diese Gefühle sind einfach da. Ich kann doch nichts dagegen tun. Warum schäme ich mich trotzdem? Warum fühle ich mich weniger wert, als andere?

Für viele von uns ist schwul sein mittlerweile selbstverständlich, für viele … nicht für alle. Viele haben den Mut, offen schwul zu leben … viele … aber nicht alle.

Meine Gedanken drehen sich im Kreis, jeden Tag, stundenlang. Jedes Mal steigen mir wieder die Tränen auf, jeden Tag, immer wieder.


Irgendwann werde ich aus meinen Gedanken gerissen, weil es an der Schlafzimmertür klopft.

»Frederic, willst du nicht mit uns frühstücken?«

Lisa startet mal wieder einen Versuch, mich aus dem Bett zu locken. Ich kann doch nicht, meine Glieder sind tonnenschwer. Ich fühle mich wie vergiftet.

»Ich habe keinen Hunger, ich stehe später auf!« Meine Stimme klingt schon wieder verheult.

Eigentlich will ich gar nicht aufstehen … nie mehr. Der Liebeskummer will einfach nicht besser werden. Ich müsste mich längst mal wieder in der Firma blicken lassen, aber irgendwie ist mir alles so egal geworden.

»Frederic, darf ich reinkommen?«, fragt Lisa, während sie schon die Tür geöffnet hat. »Mensch, so kann das mit dir doch nicht weitergehen.«

»Ich weiß, aber ich kann einfach nichts dagegen tun«, während ich das sage, ziehe ich mir die Decke über den Kopf.

Sie zieht sie sanft zurück und streichelt mir über das Haar. Diese Geste tut so gut, sie ist so eine gute Freundin.

»Wenn du ihn so vermisst, warum redet ihr dann nicht noch einmal miteinander?«

»Es ist endgültig aus, er kann nicht mehr. Ich soll ihn in Ruhe lassen, hat er gesagt.«

»Aber warum nur? Warum so plötzlich? Am Wochenende in Südfrankreich wirktet ihr doch noch so glücklich.«

»Wir waren auch glücklich. Aber er … er wollte immer mehr, als ich ihm geben konnte. Er hat seine Homosexualität zwar nicht unbedingt allen verkündet, aber er hat sich auch nicht versteckt. Er hat sogar seinen konservativen Eltern reinen Wein eingeschenkt … und ist seitdem nicht mehr bei ihnen gewesen.«

»Er wollte dich zwingen, dass du dich auch outest?«, fragt sie und streichelt meine Wange.

»Darauf läuft es wohl hinaus, ich sollte mich zu ihm bekennen. Das, was wir hatten, war ihm wohl einfach nicht genug.«

»Aber er wirkte doch immer so souverän, so cool. Er hat doch alles mitgemacht, was du so vorgeschlagen hast.«

»Ich habe mich da wohl auch getäuscht. Es hat ihm mehr ausgemacht, als er zugegeben hat. Wenn er sich beschwert hatte, habe ich ihn immer wieder rumgekriegt. Vielleicht hab ich es auch nicht sehen wollen, dass er leidet. Als du dann mit Raphael zusammenkamst, hat er sich Hoffnungen gemacht, dass du über kurz oder lang ausziehst. Er ist wohl doch irgendwie eifersüchtig auf das, was wir haben.«

»Oder er ist ganz einfach einsam … Ihr seht euch schließlich nicht so oft«, sagt Lisa nachdenklich.

Auf einmal schäme ich mich zutiefst. »Du hast sicher recht, ich bin wohl ziemlich egoistisch gewesen. Er wollte mich öfter sehen, ich habe es nicht zugelassen. Dabei möchte ich doch jede Sekunde mit ihm zusammen sein. Ich hab nur immer Angst, entdeckt zu werden. Ihr macht mir die Zeit ohne ihn erträglicher. Er hat niemanden, das hat ihm wohl mehr zu schaffen gemacht, als ich glaubte, glauben wollte. Ich konnte einfach nicht aus meiner Haut. Diesen Mut, offen schwul zu leben, den habe ich einfach nicht. Aber ohne ihn kommt mir mein Leben jetzt sinnlos vor. Ich bin ratlos, was soll ich nur tun?«, mit einem lauten Seufzer, schütte ich ihr endlich mein Herz aus.

»Mein Rat ist, rede mit ihm noch einmal. Man sollte immer über seine Gefühle reden, das hat mir kürzlich ein guter Freund geraten«, als sie das sagt, zwinkert sie mit Auge und grinst. »Und man sollte manchmal auch seine eigenen Ratschläge beherzigen.«

»Was ist, wenn er nichts mehr von mir wissen will?«

»Ehrlich gesagt, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Das, was ihr da hattet, was euch verbunden hat, das ist nicht von heute auf morgen vorbei.«

»Was ist, wenn ich mich zu ihm bekenne und mein Geschäft geschädigt wird. Womöglich leidet es so, dass ich Leute entlassen muss. Wer weiß, vielleicht komme ich sogar ins Straucheln, oder noch mehr …«

»Geht es vielleicht noch eine Nummer schwärzer? So ein Horrorszenario kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Glaubst du wirklich, dass dein Geschäft im Moment keinen Schaden nimmt? Wie lange willst du dich hier noch in deinem Unglück wälzen? Wenn du ihn wiederhaben willst, musst du wohl Zugeständnisse machen. Keiner bekommt alles, jeder muss Abstriche in Kauf nehmen. Aber die Abstriche müssen für beide Seiten erträglich sein. Nimm all deinen Mut zusammen und springe über deinen Schatten, du wirst sehen was passiert.«

»Und wenn er will, dass du ausziehst?«

»Dann ziehe ich aus, irgendwie bekomme ich das schon hin. Ich möchte wirklich nicht der Grund für diese Trennung sein. Mir liegt viel an dir, an euch. Ich möchte, dass du glücklich bist, genauso glücklich wie ich, im Moment. Dass alles so gekommen ist, das verdanke ich schließlich dir«, sagt sie und nimmt mich ganz fest in den Arm.

»Und jetzt gehst du duschen und rasierst dich«, fügt sie in einem bestimmenden Ton an, als sie sich wieder von mir trennt. »Ich werde zu Dominic fahren und ihn hierher holen, dann kann ich ihn schon mal etwas vorbereiten. Vielleicht fällt es ihm dann leichter, dir zu verzeihen.«

Ich kann nur dankbar nicken, will mir lieber nicht zu viele Hoffnungen machen.

Als ich in den Badezimmerspiegel sehe, bekomme ich einen Schreck. Ich habe abgenommen, einen ungepflegten Bart und tiefe Ringe unter den immer noch geröteten Augen.

Ja, so sieht ein Wrack aus. Das kann ich niemals mit Duschen und Rasieren wegbekommen.

Egal, soll er doch sehen, wie sehr ich leide. Was habe ich jetzt noch zu verlieren?

Als ich gesäubert auf meinem Polstersofa im Wohnzimmer sitze, verlässt mich wieder der Mut.
Was ist, wenn er mich doch nicht mehr zurücknimmt? Dann weiß ich wirklich nicht, was ich machen soll. Ich werde den Fernseher anschalten, mich hinlegen und warten. Ganz einfach warten, so wie er wohl immer auf mich gewartet hat …


Ich höre, wie sich die Haustür sich öffnet. Kurz darauf treten Nic und Lisa ins Wohnzimmer. Die Sonne kommt gerade heraus und wirft Licht in den Raum.

Lisa entfernt sich diskret. »Ich fahr zu meiner Freundin Jo, später hole ich dann die Kinder von Alex. Ich bin erst heute Abend wieder zurück, ja? Also nutzt die Zeit gut!«

Gespannt richte ich mich auf und sehe zu ihm herüber. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Er setzt sich auch auf das Sofa und sieht mich an.

Es wärmt mir das Herz, in dieses schöne Gesicht zu sehen. Ein Gesicht, das auch vom Seelenschmerz gezeichnet ist. Kummer, den ich verursacht habe …

Wie wird er reagieren? Ob es gut ist, mich ihm so verletzlich zu präsentieren? Er sieht selbst so verletzt aus, genauso, wie ich mich fühle.

Ich kann nicht anders, als mich zusammenzukauern, und die Arme um die angezogenen Beine schlingen. Das habe ich schon als Kind immer gemacht, mich selbst umarmt um mich, meine Seele, zu schützen. Vor Aufregung wage ich es kaum, zu atmen. Es kostet mich unendlich Kraft, den Kopf zu heben und in sein Gesicht zu blicken.

Er holt tief Luft und sieht mich an. Er scheint genauso aufgeregt zu sein wie ich. Auch er sieht schlecht aus, dünner und mit Ringen unter den Augen. Sein Gesicht ist angespannt, trotzdem lächelt er mich schüchtern an.

Es lässt mich ein wenig entspannen, dass ich nicht als Einziger nervös bin.

Eine gefühlte Ewigkeit sehen wir uns nur in die Augen, nonverbale Kommunikation. Ja, das war schon immer da, dieses Gefühl, verbunden zu sein, ohne Worte dafür wechseln zu müssen. Warum dringt es mir erst jetzt mit aller Macht ins Bewusstsein?

»Ich hab mich gefühlt, wie der Esel, dem sein Reiter eine Möhre an der Angel vor die Nase hält, um ihn voranzutreiben«, sagt er ganz leise zu mir.

»Das ist mir jetzt endlich klar. Aber vor allem ist mir klar, wie sehr ich dich liebe!«, erwidere ich. »Ich war so einsam, wollte aber keine Schwäche zeigen, jetzt bin ich einsamer als vorher.«

Er sieht mich liebevoll an. Dieser Blick geht mir durch Mark und Bein.

»Ich … liebe dich«, kommt es leise und heiser aus ihm hervor. »Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen. Ich brauche dich. Ich will dich zurück! Egal wie!«

»Ich war ja so ein Idiot! Ich brauche dich doch auch«, gestehe ich.

Auf einmal möchte ich ihn nur noch festhalten und nie mehr wieder loslassen. Ich klammere einfach meine Arme und Beine um ihn. »Ich liebe dich auch … so sehr«, flüstere ich ihm zu.

Jetzt ist es endlich raus … das war doch gar nicht so schwer.

»Das war die schrecklichste Zeit meines Lebens.« Den Kopf so nah an seinem Ohr, nehme ich seinen Geruch wahr. Wie hat der mir doch gefehlt. Die alte Vertrautheit ist sofort wieder da. Das Gefühl der Geborgenheit hüllt meinen Körper in einen Mantel von Glückseligkeit.


Nun wendet auch er sich mir zu und umklammert mich ganz fest. Eine ganze Weile verharren wir still in dieser intensiven Verbindung. Ich genieße es in vollen Zügen, ihn endlich wieder zu spüren. Er entspannt sich spürbar. Ich lege mein Gesicht an seinen Hals, das Gefühl ist so vertraut, so himmlisch.

Auf einmal ist es Gewissheit. Jetzt wird alles gut!

»Ich will dich einfach nur öfter sehen, ohne Angst entdeckt zu werden«, sagt er zu mir.

Auf diese Worte habe ich doch insgeheim gehofft. »Auch ich will dich viel öfter sehen, du Chaot. Ohne dich, ist für mich, das Leben nicht lebenswert. Ich weiß, ich muss jetzt meine Angst überwinden. Lisa hat mich schon etwas beruhigen können. Ich will dich auch öfter sehen, am liebsten jeden Tag. Ich werde sie bitten, auszuziehen.«

Er rückt von mir ab, legt mir den Zeigefinger unter sein Kinn und zwingt mich ihn anzusehen. Sein intensiver Blick lässt einen kurzen Moment der Angst aufflattern.

»Ich will überhaupt nicht, dass Lisa auszieht! Ich mag sie, sehr sogar, und die Kinder mag ich auch. Ich will dich nur öfter sehen. Am liebsten jeden Tag.«

Gott sei Dank! Ich muss Lisa nicht bitten auszuziehen. Mensch, mein Haus ist doch groß genug für uns alle. Ich will einfach nicht mehr ohne ihn sein, keinen Tag.

»Dann weiß ich nur eine Lösung, du ziehst hier ein. Wir wohnen im Elternflügel, und Lisa bleibt mit den Kindern im Kindertrakt. Raphael behält sowieso vorerst seine Wohnung, er wird also nicht immer hier sein. Lisa meint, er braucht einen ruhigen Rückzugsort. Wir müssen die ganze Sache mit dem Outing ja nicht an die große Glocke hängen. Wir werden sehen, was dann passiert.«

Sein Gesicht hellt sich auf, ein strahlendes dankbares Lächeln erscheint. Die Woge des Glücks, die mich jetzt überrollt, ist mit Worten nicht zu beschreiben. Ich sehe die Liebe in seinen Augen funkeln. Aber auch mein Gesicht wird auch Bände sprechen.

Dann senke ich ganz langsam meinen Mund auf seinen, verliere mich in einen zärtlichen, intensiven Kuss, den ich niemals beenden möchte.

Als wir uns dann endlich doch wieder lösen, sprudelt es aus mir heraus: »Ich gehöre dir, nur dir, mit Haut und Haaren. Du kannst mit mir machen, was du willst, nur verlass mich niemals wieder.«

»Du ahnst nicht, wie sehr ich auf diese Worte gewartet habe«, raunt er mit dunkler Stimme zurück.

 

 

Impressum

Texte: Alica H. White
Bildmaterialien: Alica H. White
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Freunde von "Somebody Perfect?" und "Herz in der Hand"

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