Er keuchte. Eine Person eilte durch die Dunkelheit auf die andere Straßenseite. In ferner weite schlugen die Glocken zwei Uhr. Drüben angekommen, lehnte er sich gegen die Steinmauer. Die Kälte der Wand schnitt in seinen Rücken. Eine Windböe wehte einige Blätter vom Boden auf. Es war Herbst. Er hielt den Gegenstand, der umhüllt von einer Decke war, schützend an seiner Brust. Er blickte kurz zurück, sah nichts und rannte die Straße hinunter zur Kirche. Behutsam legte er es auf die Stufen, schob die Decke vom kleinen Gesicht und küsste sie ein letztes Mal auf die Stirn. Er nahm seine Kette vom Hals und hielt sie vor sich. Ein Schlüssel baumelte an der Kette. Mit einer schnellen, aber sanften Bewegung legte er die Kette unter die Decke des Kindes. Er klopfte einmal an der Großen Tür und lief auf den Weg ein Stück zurück. Hinter einem Baum versteckt, beobachtete er, wie die Tür geöffnet wurde und eine Nonne das Kind zu sich nahm. "Ich hoffe du verzeihst mir", flüsterte er, dann verschwand er in die Dunkelheit.
18 Jahre später.
Die ersten Strahlen der Sonne weckten Marie. Halb unter der Decke vergraben, stand sie mit zerzausten Haaren auf und wankte zum Fenster. Blinzelte schaute sie heraus auf die belebte Straße, Kutschen fuhren fröhlich über den asphaltierten Weg und ab und zu rumpelte ein Automobil von hier nach da. Ihre Laune stieg schnell an und fröhlich vor sich her summend ging sie durch den Raum und zog sich an. Nach dem sie mit ihrer Toilette fertig war, ging sie hinunter zu Schwester Margarete und rief ihr fröhlich zu. "Mein liebes Kind, nicht so schnell, du verletzt dich noch bevor hier raus bist!", lächelte die Nonne hinterher. Im großen Saal angekommen, grüßte sie die anderen Kinder und Nonnen und setzte sich an den Tisch. Vor ihr lagen 18 Blumen. 18 Jahre. Sie lächelte und erhob sich:"Ich danke allen hier für die schöne Zeit. Ich bin nun volljährig und werde mich auf den Weg machen und das suchen, was mir am wichtigsten ist." Während ihrer sehr kurzen Ansprache wurde sie zum Ende hin immer leiser. Die Leute im Raum blickten sie verwirrt an, aber schoben dies auf ihre Aufgeregtheit. Verlegen setzte sie sich und begann zu essen.
Zum Abschied küsste sie alle Schwestern und Kinder auf die Wange bevor sie aufbrach. Mit großen Schritten ging sie aus der großen Tür hinaus, drehte sich beim gehen immer wieder um und winkte zurück. Marie atmete tief ein und aus. Ihr erster freier Tag. In ihrer tasche hatte sie 30 Mark. Mit der Summe müsste sie vorerst klarkommen. Als sie auf den großen Marktplatz hinausschritt schrien Zeitungsboten die Schlagzeilen aus, Karren mit Geflügel und frischem Obst und Gemüse fuhren entlang. Es ist der 25 August 1932. Auf den Tag genau, hat ihr Vater sie damals vor der Tür abgelegt. Wieso, wusste sie nicht, aber das wollte sie herausfinden. Das einzige was sie hatte, war der Schlüssel mit dem kleinen schönen blauen Stein. Sie wollte zuerst zu den Juwelieren gehen und herausfinden was das für einer ist. Marie glaubte kaum, das es ihr auf irgendeine Weise helfen würde, aber es war ihre einzige Chance. Zielstrebig, bevor sie sich umentschied, bewegte sie sich nach rechts und ging zu einem kleinen Laden ganz am Rand des Marktplatzes. Juwelier
Hermus stand groß dran. Eine junge Dame stand an den Tresen und bediente gerade einen alten Herr, der seine goldene Uhr verpfänden wollte. Nach einer geraumen Zeit, verschwand er mit ein paar Münzen. Grimmig blickte er Marie an und verschwand schließlich. "Machen sie sich keine Sorgen, es war kein echtes Gold. Das ärgert ihn." Zaghaft lächelte Marie sie an und stellte ihre Frage: „Guten Tag, können sie mir was zu diesem Schlüssel sagen?“ Sie holte ihre Kette hervor und zeigte sie der Juwelierin. Nach einer eingehenden Untersuchung konnte die Juwelierin ihr keine besonderen Informationen geben, außer das der blaue Stein ein Lapislazuli ist. Marie verließ enttäuscht den Laden, gab aber dennoch nicht auf. Der Tag war noch frisch und so machte sie sich auf den Weg zu anderen Juwelieren. Gegen Abend hatte sie sechs verschiedene Juweliere besucht, sie ging jedoch davon aus, dass nur fünf von ihnen echte sein konnten, da der eine sogar vermutete, dass der Stein ein Rubin ist. Es dämmerte bereits als sie den letzten Juwelier betrat. Dieser konnte ihr zuerst nichts anderes sagen, als die vorherigen. Doch gerade als sie gehen wollte, sie hatte die Türklinke schon in der Hand, fiel dem Juwelier etwas ein. „Warten sie, dürfte ich nochmal die Kette bitte kurz sehen?“ Marie ging zurück und gab ihm wieder die Kette zurück. Erneut hielt er den Schlüssel unter die Lupe, erst lächelte, dann lachte er laut heraus. Marie bekam es kurzzeitig mit der Angst zu tun. „Sehen sie diese kleine Kerbe hier, Madame? Zuerst dachte ich, es sei ein üblicher Riss im Stein, also ein Stein, geringeren Wert. Jedoch fiel mir dann ein, das der Riss keiner ist, sondern eine Initiale. Diese Kerbe, getarnt als Riss, macht nur ein Juwelier. Hermann Mencke. Einer der besten Juweliere. Dies ist sein Markenzeichen“, der Juwelier riss ein Stück von einer Zeitung ab, ging zurück zu den Tresen und meinte, „Ich schreibe ihnen die Adresse auf. Bitte sehr Madame.“ Er gab ihr die Kette mit dem Zettel zurück und wünschte Marie noch einen Schönen Abend. Marie gab ihm ein Mark und lief glücklich aus dem Laden. Sie hatte endlich eine Spur! Jetzt kann sie vielleicht ihre Herkunft erfahren.
Marie brauchte vier Tage bis sie in der Kleinstadt ankam, wo der erfolgreiche Juwelier lebte, der dieses Schmuckstück hergestellt hatte. Sie brauchte zwei weitere Stunden, den Juwelier überhaupt zu finden. Als sie ihn endlich fand, war es schon Mittag. Freundlich klopfte sie an der Ladentür und ging hinein. Der Juwelier saß an einem großen Tisch, mehrere große Schubladen standen darauf, alle mit winzigen kleinen weiteren Fächer, die mit verschiedenen Steinchen befüllt waren. Alle ebenfalls sorgfältig beschriftet und nummeriert. Hermann Mencke blickte Marie über seine Halbrundbrille an. „Sie wünschen?“. Marie zögerte, ging ein paar Schritte vorwärts, näher an den Tisch heran und meinte: „Man sagte mir, sie wären der Mann, der dieses Stück gefertigt hat. Ich suche meine Familie, das einzige, was ich von ihnen habe, ist dieses Schmuckstück.“ Der alte Mann lächelte sie an und erwiderte freundlich: „Ja der bin ich. Ich warte schon sehr lange auf sie“, der Juwelier stand auf und suchte etwas im Regal, „ihr Vater hat damals diesen Schlüssel bei mir beauftragt. Symbolisch gesehen ist es sein Erbe an ihnen.“ Marie blickte verwirrt den Juwelier an. „Erklären Sie“, verlangte Marie. Hermann blickte sie an und meinte weiterhin freundlich: „Keine Sorge, Fräulein, ich erkläre es ihnen alles, setzen sie sich“, er bot ihr einen Stuhl an, dann fuhr er fort, „Ich war ein guter Freund ihres Vaters, er hat mich gebeten, ihnen, wenn die Zeit reif ist, alles zu erzählen. Ihr Vater musste sie abgeben, denn die Stimmung in Europa war kurz vor einem Krieg. Wie sich später herausstellte, hatte er Recht. Es brach tatsächlich ein großer Krieg aus, der fünf Jahre lang andauerte. Der erste Weltkrieg. Ihr Vater sah dies nach dem Attentat auf dem Prinzen Serbiens kommen. Er wusste es und brachte sie in Sicherheit. Er tat dies nur, weil ihr an der Grenze zu Frankreich wohnten. Frankreich und Deutschland waren schon zu der Zeit sehr verfeindet. Ihr Vater wollte sie schützen. Es ist ihm auch gelungen, er hat sie ins Landesinnere in Sicherheit gebracht.“ Vollkommen überwältigt von dem was Marie gerade erfahren hat, fragte sie unter Tränen, wo den ihr Vater jetzt sei? „Ihr Vater ist leider drei Monate danach im Krieg gefallen.“ Marie brach auf dem Stuhl zusammen. Sie hatte solange gesucht, solange gehofft, dass sie ihre Eltern wiedersehen könnte. Aber es ist alles vorbei, sie hatte absolut niemanden. Jahrelang hat sie es sich vorgestellt, ihre Eltern zu treffen. Dieser Gedanke hat sie durchhalten lassen. „Ihr Vater hat sie geliebt, er hat sich geopfert um sie zu schützen. Dieser Schlüssel ist für diese Kiste.“ Der Juwelier gab ihr die kleine Kiste, die er vorher vom Regal geholt hatte. Das ist sein Vermächtnis. Es befinden sich 1200 Mark im inneren und eine Anleitung zu eurem Wohnort. Der alte Leuchtturm. Ihre Großmutter wohnt dort jetzt.“
Es dauerte Wochen bis sich Marie damit abfand, dass ihr Familie nicht mehr am Leben ist. Über diese Zeit hinweg lebte sie bei Hermann Mencke, der ihr seine Gastfreundschaft anbot. Die größte Zeit über wollte Marie alles über ihren Vater in Erfahrung bringen. Ihre Mutter ist bei der Geburt gestorben. Ihr Vater hat sie 6 Monate lang alleine aufgezogen, dann musste er sie weggeben. Er hat als Leuchtturmwärter gearbeitet. Es war sein Traumberuf. Im ersten Weltkrieg wurde der Leuchtturm, wie durch ein Wunder verschont. Nach dem Krieg zog ihre Großmutter mit ihrem Neffen ein, die sich um den Leuchtturm kümmerten bis letztes Jahr. Dann wurde der Betrieb eingestellt und der Leuchtturm zu einem Wohnhaus umgebaut. Als Marie glaubte genug zu wissen und sich bereit fühlte loszuziehen, brach sie zu ihrem neuen Zuhause auf. Am neunten Tag, sah sie in der aufgehenden Sonne, am Horizont den Leuchtturm.
Epilog
„Und das meine Enkel ist die Geschichte, weshalb wir hier leben“. In dem Turm, an dem noch euer Urgroßvater gearbeitet hatte. Maries Enkel blickten sie mit großen Augen an. „Das war eine schöne Geschichte Oma.“
Tag der Veröffentlichung: 29.06.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner Freundin, die immer hinter mir steht. Danke.