Die Nacht war dunkel, kein einziger Stern am Himmel zu sehen und ein dichter, gleichmäßiger Regen fiel fast senkrecht nieder, beinahe so, als hielte die Welt selbst den Atem an und trauerte mit ihm.
Vielleicht tat sie das auch?
Vielleicht weinte der Himmel anstelle von Aiden, der die Nässe kaum spürte, während er den Karren durch die kalte, trostlose Nacht lenkte. Er ließ das Pferd langsam gehen, bedauerte zwar, dass er es in der Dunkelheit noch einmal aus dem Stall hatte holen müssen, aber sein Entschluss stand fest.
Er warf einen Blick über die Schulter, wie schon öfters in der knappen Stunde, die er nun unterwegs war, lediglich den Weg vor sich schwach ausgeleuchtet durch die Laterne, die außen am Karren baumelte und deren Lichtschein flackerte, wenn die hölzernen Räder des Karrens durch ein Loch rüttelten.
Seinem Passagier machte das nichts mehr aus. Er lag still und kalt in der schmalen Holzkiste, die Aiden im Laufe des Tages gezimmert hatte und rührte sich nicht, beklagte sich nicht und würde das auch niemals wieder tun.
Joseph war sein Name gewesen, doch nun war er bloß noch ein weiterer toter, ehemaliger Soldat, den die Welt und die Geschichte schon bald vergessen haben würde.
Aiden dagegen würde sich immer an ihn erinnern.
Dabei hatte ihm der große, schmutzige Mann in der zerlumpten Uniform zu Anfang, als er plötzlich auf der kleinen, heruntergekommenen Ranch aufgetaucht war, ziemlich Angst gemacht. Nach dem Ende des Bürgerkrieges waren viele marodierende Banden unterwegs und Aiden wusste, dass abgelegene Farmen häufiger Ziel von deren Raubzügen und Mordtaten wurden.
Dem Mann, der da so unerwartet bei Aiden aufgetaucht war konnte man allerdings deutlich ansehen, dass er schon sehr lange keine ordentliche Mahlzeit mehr gehabt hatte und seine dunklen Augen hatten viel zu groß aus einem wilden Bartgestrüpp herausgestiert, während er mit der Waffe im Anschlag in dem kleinen Häuschen stand, den Blick fest auf das Essen geheftet, welches gerade dampfend auf dem Tisch stand.
Im ersten Moment war Aiden überzeugt gewesen, dies sei sein Ende, stattdessen war es ein Anfang geworden. Der Anfang von etwas Wunderbarem, denn Joseph hatte ihn nicht nur nicht getötet, er hatte ihm auch etwas gebracht, was Aiden hatte glauben lassen, lebendig in den Himmel gekommen zu sein – die Liebe.
Von Schmutz, verfilzten Haaren und Bartgestrüpp befreit, war Joseph ein mehr als ansehnlicher Mann und nachdem er einfach ohne zu fragen bei Aiden geblieben war und sich stillschweigend in dessen Arbeits- und Tagesablauf eingefügt hatte, waren bei beiden Männern mit der Zeit Gefühle erwacht, die sie nicht lange unterdrücken konnten. Sie waren allein hier draußen in der Prärie und hatten keinen Grund gesehen, ihre gegenseitige Leidenschaft lange zu verbergen.
So kam es, dass Joseph aus dem Stall bald in Aidens Bett umsiedelte und dieser einen unerwarteten Sommer voller Liebe und Glück erlebte.
Von weiteren ungebetenen Besuchern war die Ranch verschont geblieben, doch als der Herbst herannahte, glaubte Aiden häufig, einen schwarz gekleideten Reiter am Horizont zu sehen, der von Mal zu Mal näher zu kommen schien. Jedoch hielt er ihn zunächst für ein Trugbild, etwas was man irrtümlich aus dem Augenwinkel heraus zu sehen glaubt, denn wenn er bewusst hinschaute, war die Spukgestalt stets verschwunden. Aiden schüttelte über sich selbst den Kopf, konnte aber das unbehagliche Gefühl nicht abschütteln und sprach auch nicht mit Joseph über seine merkwürdige Beobachtung.
Es wurde kälter und mit dem Winter und dem Schnee kam der Husten. Aidens Geliebter wurde blass und magerte ab, der Husten schüttelte ihn nächtelang und Aiden brauchte nicht erst die roten Flecken auf seinem Taschentuch zu sehen, um zu wissen, dass ihre gemeinsame Zeit unerbittlich ablief. Er wusste es, seit in einer kalten, mondhellen Nacht der schwarze Reiter am äußeren Zaun der Farm gestanden hatte und diesmal nicht verschwunden war, als Aiden aus der Tür ins Freie trat.
Sein Herz hatte schmerzhaft geklopft, als er den Reiter betrachtet hatte, von welchem er eigentlich nur die Hände zu sehen vermochte. Lange, dünne Finger, knochenbleich, welche die Zügel des dampfenden, schwarzen Pferdes locker hielten, während das Gesicht in den Tiefen einer Kapuze verborgen blieb. Die war ebenfalls schwarz, so wie auch alles Übrige an ihm.
Reglos, scheinbar völlig gelassen saß der Reiter auf seinem Tier, so als wollte er sagen: „Ich habe keine Eile, denn ich bekomme weswegen ich hier bin. Und auch du wirst mich nicht daran hindern.“
Das war vor einem Monat gewesen und vor zwei Tagen war Joseph gestorben, der Schwindsucht zum Opfer gefallen, die aus dem kräftigen Mann ein hilfloses Bündel hatte werden lassen.
Nun war Aidens Liebster für immer fort, hatte nur seine kalte, leblose und ausgezehrte Hülle zurückgelassen, in welcher er Mühe hatte, den Mann zu erkennen, den er mit jeder Faser seines Herzens geliebt hatte. Ohne Joseph war die Welt leer, aller Farben beraubt und das Leben hohl. Beim Gedanken daran, womöglich noch Jahrzehnte so allein verbringen zu müssen, krampfte sich alles in Aiden zusammen und für die Vorstellung, noch einmal einen anderen Menschen zu finden, der ihm so viel bedeutete, wie Joseph, war kein Platz in seinem vom Schmerz zerrissenen Herzen. Dann wollte er ihm lieber folgen, an welchem unaussprechlichen Ort sich seine Seele nun auch immer befand.
Ginge es nach ihm, Aiden, so wäre Joseph natürlich ohne Umwege in den Himmel aufgefahren, aber was wusste er schon von dem Leben das sein Geliebter geführt hatte, bevor sie sich trafen? Er war Soldat gewesen, ein Schicksal, dem Aiden nur durch seine Jugend und die einsame Lage der elterlichen Farm entgangen war. Hätte der Bürgerkrieg länger angedauert, hätte man mit Sicherheit auch ihn noch zu den Waffen gerufen. Und Soldaten töteten Menschen. Mord, ob nun auf Befehl oder nicht, war eine der Sünden, die eine menschliche Seele auf direktem Wege in das Fegefeuer brachte, so hatten es Aidens Großvater und seine Mutter ihn gelehrt, als er noch ein Junge gewesen war und wenn er auch viel von seinem naiven Kinderglauben im Laufe der neunzehn Jahre seines Lebens eingebüßt hatte – von diesem Gedanken hatte er sich nie freimachen können. Doch wenn Joseph schon in der Hölle büßen musste, dann wollte Aiden zumindest an seiner Seite sein!
Nach mehr als drei Stunden Fahrt hatte er sein Ziel erreicht, zog die Zügel an und starrte nach vorn, dorthin, wo sich das Wasser eines breiten Stroms gluckernd seinen Weg durchs Gebirge bahnte und binnen Jahrhunderten ein tiefes Tal hinein gegraben hatte. Die Felswände zu beiden Seiten warfen das Rauschen des Flusses vielfach verstärkt zurück und übertönten das Rollen der Karrenräder auf dem harten Untergrund. Ein Stück weiter vorn befand sich eine breite Furt und genau dort wollte Aiden Josephs Sarg dem Strom übergeben.
Sein Geliebter hatte nicht viel über sich erzählt, nur ein einziges Mal erwähnt, dass er an der Küste aufgewachsen war und eigentlich immer erwartet hatte, dort auch eines Tages im Kreise seiner Kinder und Enkel zu sterben.
Der Krieg hatte alle seine Pläne zunichte gemacht, nachdem er sich hatte verleiten und im naiven Glauben an einen leichten Sieg, wie so viele andere ebenfalls, anwerben lassen.
Seine Familie hatte er seither nicht wiedergesehen, war nach dem Ende der Kämpfe ziellos durch ehemaliges Feindesland geirrt und schließlich bei Aiden gelandet. Und dieser wollte ihn nun zumindest nach seinem Tod dorthin auf die Reise schicken, von wo er einst aufgebrochen war, mit dem Fluss zurück an die Küste.
Und wenn alles so vonstatten ging, wie er es sich ausgemalt hatte, würde er ihm bald schon nachfolgen.
Den Sarg von der Ladefläche zu wuchten und ins eisige Wasser zu schieben war schwere Arbeit für einen einzelnen Mann, zumal es noch immer dunkel war und Aiden dementsprechend kaum sehen konnte, wohin er die Füße setzte. Doch schließlich war es geschafft und ein letztes Mal öffnete er den Sargdeckel, starrte auf das geliebte Gesicht und flüsterte: „Warte auf mich, ich bin bald wieder bei dir!“
Zuletzt drückte er drei kleine Münzen in die schlaffe rechte Hand des Toten, nagelte den Deckel wieder auf den Sarg und gab ihm einen kleinen Stoß, dass er hinaus in Richtung Flussmitte getrieben wurde, wo ihn die Strömung erfasste und er rasch in der Nacht verschwand.
Eine Weile sah Aiden noch in die Dunkelheit hinaus und watete dann langsam zurück ans Ufer. Er spannte sein Pferd aus, jagte es mit einem Schlag auf die Kruppe davon und löschte die Laterne. Es hatte aufgehört zu regnen und am Himmel trieben dichte Wolkenfetzen vor dem Mond dahin, tauchten die Felsen und den Fluss abwechselnd in fahle Helligkeit und dann wieder in dichte, erstickende Finsternis.
Aiden griff in die Tasche, holte drei kleine Münzen hervor und umschloss sie mit der Faust, als er langsam zurück ins Wasser schritt.
Als ihm das kalte Nass bis zu den Hüften reichte, blieb er stehen und wartete. Er wusste, er durfte nicht weitergehen. Wenn er das tat und dabei ertrank, sah er Joseph nie wieder. Er musste mit dem schwarzen Reiter selbst sprechen, damit der ihn zu seinem Liebsten schickte. Irgendwie musste er ihn dazu überreden, ihn überzeugen, das hatte jedenfalls sein Großvater früher so erzählt, in den Geschichten, vor denen sich der kleine Aiden immer angenehm gegruselt und die ihm später, wenn er im Bett lag Albträume von schwarzen, knochigen Reitern und Tod beschert hatten.
Es dauerte lange. Nichts rührte sich und Aiden spürte, wie ihm die Kälte bald in alle Knochen kroch, ihn dazu verführen wollte, sich der Umarmung des dunklen, schlammigen Wassers zu ergeben. Doch der Gedanke an Joseph ließ ihn immer wieder zurückzucken, wenn die glitzernde Oberfläche näher kam und das Gluckern und Plätschern zu verführerischem Sirenengesang zu werden drohte.
Am östlichen Horizont zeigte sich bereits ein kaum wahrnehmbarer, blass-rötlicher Streifen, als endlich die leisen Tritte und das Schnauben eines Pferdes hinter ihm erklangen.
„Du stehst an der Schwelle, Sterblicher“, erklang eine Stimme in seinem Kopf, weder männlich, noch weiblich, nicht jung und nicht alt, oder vielleicht auch alles gleichzeitig. „Was willst du von mir? Wieso wartest du auf mich? Du trägst meinen Lohn bei dir, aber bist nicht tot. Noch nicht. Warum?“
Aiden zwang seine steifen, schlotternden Glieder zum Gehorsam, wandte sich langsam um und – da war er.
Das Pferd erschien ihm riesig und der Kapuzenmantel des Reiters erweckte den Eindruck, als habe er sich in die Nacht selbst gehüllt.
„Ich möchte zu meinem Liebsten, zu Joseph. Es heißt, dass du mich zu ihm bringen kannst und deshalb habe ich die Münzen bei mir.“ Er konnte kaum sprechen, so sehr klapperten seine Zähne.
Der Reiter schwieg und die düstere Kapuze blieb in Aidens Richtung gewandt, als musterte er den durchnässten und halb erfrorenen jungen Mann im Fluss eindringlich.
„Du bist noch jung an Jahren, Mensch. Das Leben kann dir noch vieles geben. Es ist ein Geschenk des Schöpfers und du willst es von dir werfen? - Nicht dass mich das etwas anginge, aber wenn du das tun willst, brauchst du mich nicht dafür. Schließ` deine Augen und ergib` dich dem Fluss. Er wird deinen Körper dann dorthin tragen, wo auch der Leib deines Liebsten landet.“
Irrte Aiden sich, oder klang die Stimme nun eindeutig lauernd, wie die eines Lehrers, der bewusst etwas Falsches erzählt, um seine Schüler auf die Probe zu stellen. Heftig schüttelte er den Kopf.
„Nein! Wenn ich das täte, wäre ich als ruheloser Geist eines Selbstmörders für alle Ewigkeit an die Erde gebunden. Joseph dagegen ist bereits frei und auf dem Weg in die nächste Welt. Weder könnte er mir folgen, noch ich ihm. Wir wären auf ewig getrennt und das wäre noch schlimmer, als weitere trostlose, einsame Jahrzehnte ohne ihn zu leben, bis mich der Tod endlich holt.“
Er bemühte sich, seiner Stimme einen festen und entschlossenen Klang zu geben und wieder blieb der schwarze Reiter lange still. Aidens Augenlider wurden schwer in der eisigen Kälte des Wassers, der Fluss zog und zerrte an seinen tauben Gliedern, doch er widerstand.
Allerdings wusste er nicht, wie lange er das noch schaffen konnte.
Dann – endlich! - schien der Schwarze eine Entscheidung getroffen zu haben. Er stieg von seinem Pferd und kam langsam zu Aiden, wobei er den Erdboden ebenso wenig zu berühren schien, wie gleich darauf das Wasser.
Der Mann im Fluss musste den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufsehen zu können, dorthin, wo er das Gesicht vermutete, wo er aber nichts sehen konnte, als undurchdringliche Schwärze und das, obwohl der winterliche Himmel inzwischen langsam heller wurde.
„Weißt du, was mit der Seele eines Menschen nach seinem Tod geschieht? Eines Menschen, der sich nicht selbst das Leben genommen hat?“, erklang die dröhnende Stimme erneut zwischen Aidens Ohren und hallte in seinem Schädel wider. Er war bereits zu schwach, um zu antworten, doch der schwarze Reiter schien auch gar keine Antwort erwartet zu haben. „Sie reist zurück an ihren Ursprung, zur Quelle der Seelen. Dort wartet sie, bis sie erneut auf die Reise geschickt wird und einen weiteren Lebenszyklus durchläuft. Auf dem Weg zur Quelle streift eine Seele alles ab, was sie ans irdische Leben bindet, alle Erinnerungen, alle Gefühle, alles was den Menschen dem sie gehört hat ausmachte. Nur wenn ein Gefühl oder eine Erinnerung stärker ist, als das was eine Seele zurück zum Ursprung zieht, kann es sein, dass sie erhalten bleiben. Diese Gefühle und Erinnerungen bringt sie dann mit in ihr neues Leben. Deshalb sind manche Menschen von Geburt an gut und andere böse, wieder andere schwermütig oder von unerschütterlichem Frohsinn. Ich mache dir einen Vorschlag, Aiden Jenkins. Ich gestatte dir, deinem Liebsten zu folgen. Seine Seele ist seit zwei Tagen auf der Reise. Wenn es dir gelingt, ihn zu finden und wenn er sich noch an dich erinnert, lasse ich euch beide gehen. Ich gebe euch zwanzig gesunde, gemeinsame Jahre - ob es mehr werden, liegt allein bei euch. Falls es dir aber nicht glückt – ist dein Leben verwirkt und du bleibst für hundert Jahre an diesen Ort gebunden, als ruheloses Gespenst und als Warnung für andere Sterbliche, die den Schwarzen Reiter herausfordern wollen. Wie ist es? Gehst du darauf ein oder willst du doch lieber nach Hause fahren und noch weitere dreißig oder vierzig Jahre hinter dich bringen?“
Die Stimme klang weder verächtlich, noch böse. Der Reiter unterbreitete ihm lediglich ein Angebot und es lag allein bei Aiden, ob er es annahm oder ausschlug. Und obwohl es nüchtern betrachtet mehr als wahrscheinlich war, dass er alles verlor, kam es ihm nicht einen Moment lang in den Sinn, abzulehnen. Das hier war zwar nicht, worauf er gehofft hatte, als er sich mit dem Sarg seines Liebsten auf den Weg gemacht hatte, aber die Aussicht, ihn lebendig zurück zu bekommen, war ungleich viel köstlicher, als das, worauf er ursprünglich spekuliert hatte. Wenn es ihm gelang, wenn er Joseph fand und der sich an ihn erinnerte, bekamen sie eine zweite Chance - eine gemeinsame zweite Chance! Was blieb da noch zu überlegen?
Er nickte mit klappernden Zähnen. „Abgemacht! Ich nehme deinen Vorschlag an!“
Eine bleiche Hand wurde Aiden entgegengestreckt und mit letzter Kraft legte er die Münzen hinein. Erleichtert sank er in sich zusammen und im selben Augenblick, wo sein Kopf unter Wasser tauchte, wurde er gleichsam emporgerissen, hinein in einen Wirbel aus Farben und Geräuschen, mit rasender Geschwindigkeit vorangezogen und fand sich schließlich in einem kleinen Boot, welches über ein nächtliches Meer dahintrieb.
Noch immer war Aiden kalt, sein Denken langsam und mühselig, doch mit jeder Sekunde, die verstrich, wich das klamme Gefühl und sein Kopf wurde klarer. Er schaute sich um und erkannte, dass er keineswegs allein hier unterwegs war. Eine schier unendliche Zahl an kleinen, hölzernen Booten schwamm in allen Richtungen um ihn herum und alle schienen sie ein gemeinsames Ziel zu haben.
In jedem der Gefährte saß jemand, Männer und Frauen jeden Alters, Junge, Alte, selbst Kinder und doch lag eine gespenstische Stille über der ganzen Szenerie, denn jeder Passagier blickte nur starr und stumm geradeaus und rührte sich nicht.
Aiden begriff, ohne zu wissen woher seine Erleuchtung kam. Dies hier war das Gewässer auf welchem die Seelen der Verstorbenen zurück zum Ursprung fuhren.
Er schaute sich um. Hier musste doch irgendwo auch Joseph sein. Nur – wie sollte er ihn bloß finden? Die schiere Anzahl der Boote war ja kaum zu überblicken.
„Ganz ruhig!“, mahnte er sich selbst. „Wenn er hier ist, wirst du ihn auch finden!“
Er fühlte, wie neue Zuversicht ihn durchströmte, holte tief Atem und schloss, einer Eingebung folgend, die Augen, tastete gleichsam mit den Fingern seines Geistes nach irgendetwas, was ihn anzog, denn hier konnte das nur Joseph sein.
Lange Zeit fühlte er überhaupt nichts. Er umklammerte die raue Bootswand mit den Fingern und grub die Nägel ins Holz, um nicht vor Angst und Frustration aufzuschreien. Wo war sein Geliebter? Wo?
Es dauerte. Zeit verstrich, ohne dass er hätte sagen können, wieviel.
Da! Was war das? Hatte er gerade etwas gespürt?
Noch fester kniff er die Lider zusammen und konzentrierte sich auf den schwachen Hauch, der ihn von rechts angeweht hatte, wie eine kaum spürbare, warme Brise.
Ja! Dort war etwas! Ganz sicher!
Aiden öffnete die Augen und spähte in die Richtung, aus der die Brise kam, konnte aber unter der Vielzahl der Boote, die bis an den Horizont zu reichen schienen, keines ausmachen, in dem Joseph gesessen hätte.
Wie sollte er nun dort hinüber kommen um nachsehen zu können? Suchend schaute er um sich, bis ihm auffiel, dass ein paar Ruder auf dem Boden seines Bootes lagen.
So schnell er konnte, setzte er sie in die zugehörigen Halterungen und machte die ersten, noch etwas ungeschickten Bewegungen.
Es war schwerer als er gedacht hatte. Noch niemals zuvor war Aiden gerudert. Er wusste wie es gehen musste, hatte es bei Anderen schon gesehen, aber es noch niemals selber versucht.
Eine andere Schwierigkeit tat sich auf, denn – wie sollte er jetzt seinen Kahn zwischen den anderen Booten hindurch steuern?
Die Frage beantwortete sich schon im nächsten Augenblick, als er sah, wie sie ganz von selbst vor ihm auseinander wichen. Mit neuem Mut legte er sich in die Riemen und brachte sich langsam, aber immer sicherer von der Stelle.
Als hätte er einen Kompass in der Brust, der nun beharrlich die Richtung vorgab, wusste er mit jedem Meter den er vorankam mit steigender Gewissheit, dass er sich nicht irrte. Er war auf dem richtigen Weg und Joseph irgendwo dort drüben.
Die Arme wurden ihm lahm, sein Atem ging pfeifend, doch selbst als die Muskeln schier brannten und seine Lunge sich anfühlte, als müsste sie platzen, ließ er nicht nach, verlor jedes Zeitgefühl und ruderte, ruderte, ruderte.
Er passierte andere Boote, sah in die Gesichter der Passagiere, doch keines rührte ihn wirklich an. Sein Herz sang allein Josephs Namen und sein Liebster war alles woran er denken konnte.
Und dann – endlich! - sah er ihn.
Er trug seine Uniform und starrte ebenso blicklos geradeaus, wie alle anderen um ihn herum.
„Joseph!“ Aiden lachte und weinte gleichzeitig, ließ aber nicht vom Rudern ab, bis er seinen Kahn neben den seines Liebsten gesteuert hatte. Ein heller Schein erleuchtete dessen Gesicht und Aiden brauchte einen Moment, bis er begriff, dass dieses Licht real war, tatsächlich existierte und langsam näher kam. Noch war es klein und machte nur einen Punkt am Horizont aus, doch es strahlte, warm und hell und mit Schrecken erkannte Aidens Herz, worum es sich dabei handeln musste: die Quelle der Seelen, das Ziel der Reise!
Hastig wandte er sich wieder Joseph zu, welcher sich nicht gerührt hatte und mit keiner Regung erkennen ließ, dass er Aiden überhaupt bemerkt, geschweige denn erkannt hatte.
„Joseph! Liebster!“, beschwor ihn Aiden, „Sieh mich an! Ich bin es! Aiden! Erkennst du mich denn nicht?“
Aber sein Geliebter sah nur immer stur geradeaus, egal was Aiden sagte und der Lichtschein nahm mittlerweile bereits den gesamten Horizont ein.
„Bitte! Joseph! Du musst mich nur ansehen!“, flehte er verzweifelt. „Du kannst mich doch nicht vergessen haben! Ich liebe dich und du liebst mich doch auch! Weißt du nicht mehr? Die Farm? Der Tag, als du plötzlich in meinem Haus aufgetaucht bist? Sag` doch was!“
Tränen sprangen ihm aus den Augen. Es war zwecklos. Joseph hatte ihn vergessen.
Hatte er ihn also nie so sehr geliebt, wie Aiden geglaubt hatte?
War er nur einer Illusion aufgesessen, als er in Joseph den Mann seines Lebens gesehen hatte?
Nein! Das durfte nicht sein!
Aiden dachte an all die innigen Momente trauter Zweisamkeit, wenn sie etwa, erschöpft vom gemeinsamen Liebesspiel, einander in den Armen gelegen hatten, wenn ihre Herzen im gleichen Takt zu schlagen schienen und keine Worte nötig gewesen waren, um sich der gegenseitigen Gefühle zu versichern. Das war keine Illusion gewesen! Das war eine Verbindung, die stärker war, als der Tod, davon war er überzeugt. Und wenn das so war, dann musste die Erinnerung daran doch auch noch irgendwo in Josephs Seele stecken, oder?
Er schaute sich um. Wieder war das Licht größer geworden und näher gekommen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie die Quelle erreicht hatten und dann gab es keine Hoffnung mehr. Was konnte er also tun?
Kurz entschlossen packte er die Kante von Josephs Boot und mit einem kräftigen Schwung sprang er hinüber, purzelte seinem Liebsten vor die Füße, ohne dass der es auch nur mit einem einzigen sichtbaren Zucken zur Kenntnis genommen hätte.
Aiden kämpfte sich in die Höhe, packte Joseph bei den Schultern und wollte ihn auf diese Weise zwingen, ihn anzusehen, doch der Blick seines Gegenübers ging glatt durch ihn hindurch, als wäre er überhaupt nicht vorhanden.
„Verdammt, Joseph! Tu` nicht so, als wäre ich nicht hier!“, schluchzte Aiden voller Verzweiflung und schüttelte den vor ihm Sitzenden kräftig, doch wie schon vorher gelang es ihm nicht, auch nur die geringste Reaktion zu provozieren. Als er das einsah, sank der junge Mann schließlich resigniert auf die Knie zu Füßen seines Geliebten.
Es war vorbei. Er hatte verloren. Joseph erinnerte sich nicht mehr und in wenigen Minuten würden sie das Licht, die Quelle der Seelen erreichen. Dann würde er zu einem ruhelosen Gespenst werden, während sein Liebster sich in die Masse der Seelen einreihen und warten musste, dass er ein neues Leben zugeteilt bekam. Ein Leben ohne Aiden.
Heiße Tränen rannen ihm über die Wangen, als er in das Gesicht über sich aufblickte. Mittlerweile war das Licht so hell, dass er jede Einzelheit deutlich erkennen konnte. Außerdem glaubte er, einen leisen, wohltönenden Gesang zu vernehmen, der mit jeder verstreichenden Minute lauter wurde.
Aiden sah noch einmal über die Schulter und entdeckte ein gewaltiges, goldenes Tor, zum Greifen nah und himmelhoch. Das Wasser strömte hindurch und mit ihm die Boote. Es waren vielleicht noch ein gutes Dutzend davon vor ihrem und plötzlich wollte Aiden seinen Liebsten wenigstens noch ein letztes Mal küssen, bevor er für immer Abschied von ihm nehmen musste.
In einem verzweifelten Aufbäumen reckte er sich empor, warf ihm die Arme um den Nacken und presste seine tränenfeuchten Lippen auf die von Joseph, legte sein gesamtes Gefühl in diesen Kuss und hätte am liebsten geschrien, als der Mund, an welchen er sich drängte starr blieb.
Er löste den Kuss, ließ seinen Kopf auf Josephs Schulter sinken und seinem Kummer freien Lauf.
„Aiden?“
Ungläubig hielt er inne, wagte aber noch nicht, den Kopf zu heben. Hatte er sich die leise Stimme eingebildet?
„Aiden? Was machst du hier?“
Nein! Es war real! Es MUSSTE einfach real sein!
Mit einem Aufkeuchen hob er das Gesicht, starrte in Josephs blaue Augen, die eindeutig auf ihn gerichtet waren.
Sein Liebster erkannte ihn!
In einer Mischung aus Lachen und Weinen drückte Aiden ihn an sich und dann – verschluckte sie das Tor …
Finsternis.
Eine Stimme, dröhnend wie eine Kirchenglocke hallte sie in Aidens Kopf.
„Du hast es geschafft, Sterblicher und mir meine Beute entrissen. Ich stehe zu meinem Wort. Zwanzig gesunde Jahre, vielleicht mehr. Nur vergiss` nicht, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden! Und dann wird es keinen Handel mehr geben. Nicht für dich und auch nicht für ihn.“
Die Stimme verhallte und dann spürte Aiden warmen Sonnenschein im Gesicht. Er öffnete die Augen und schaute sich um. Neben ihm lag Joseph, halb auf der Seite, mit geschlossenen Augen und blassem Gesicht.
Angst griff nach Aiden. Hatte der schwarze Reiter ihn betrogen? Oder war er dabei den Verstand zu verlieren und hatte sich alles nur eingebildet?
Er fasste nach der Schulter seines Liebsten und zog ihn vollends auf den Rücken. Mit einer Hand tastete er nach dem Puls an der Halsschlagader und musste ein Aufschluchzen unterdrücken, als er den Herzschlag kräftig und regelmäßig unter seinen Fingerspitzen fühlte.
Joseph lebte! Er lebte tatsächlich! Er hatte nicht geträumt und war auch nicht verrückt! Er hatte seinen Geliebten aus dem Tod zurück ins Leben geholt!
Aidens Tränen tropften auf Josephs Gesicht und der schlug langsam, blinzelnd gegen die Helligkeit die Augen auf. Zuerst schaute er blicklos hinauf in den Winterhimmel, dann drehte er den Kopf und sah zu Aiden auf.
„Aiden …“, murmelte er, als müsse er sich erst mühsam erinnern. „Ich hab` geträumt, dass du mich von den Toten zurückgeholt hast. … Mein Aiden … mein süßer Aiden ...“
Noch immer sprach er leise, aber was viel wichtiger war: kein Husten unterbrach ihn nach nur wenigen Worten, wie in den letzten Tagen vor seinem Tod, als er kaum noch einen zusammenhängenden Satz hatte hervorbringen können. Sein Atem roch nicht mehr übel, nach Blut und Tod und seine Wangen hatten auch nicht mehr die grässliche, graugelbe Farbe eines Sterbenden. Joseph lebte und war gesund!
Mit einem Lachen auf den Lippen warf Aiden sich ihm in die Arme und als er ihn diesmal küsste, bekam er die Reaktion, die er sich erhoffte.
Es war bereits später Vormittag, die Sonne stand hoch am Himmel und schien warm auf die beiden Männer herab. Wenn es nach Aiden gegangen wäre, hätten sie für immer und ewig so auf dem hart gefrorenen Boden liegenbleiben können, schweigend, küssend, einander im Arm haltend, aber schon allzu bald wurde es ungemütlich. Schließlich setzte Joseph sich auf und griff nach Aidens Hand.
„Es war kein Traum, oder? Ich war tot und du hast mich zurückgeholt.“
Aiden nickte. „Der schwarze Reiter hat uns zwanzig gemeinsame Jahre versprochen. Vielleicht mehr“, sagte er und diesmal war die Reihe an Joseph zu nicken. Er stemmte sich in die Höhe und klopfte seine Kleider ab, schaute sich um und wies mit einer Hand in die Richtung, wo Aidens Kutschpferd bei einem nahegelegenen Strauch stand und die zarten, grünen Triebe abweidete.
„Dann sollten wir den Braunen einfangen und nach Hause fahren, oder was meinst du? Ich bin zwar noch nie vorher von den Toten auferstanden und weiß deshalb nicht, ob das normal ist, aber ich bin hungrig. Du nicht?“
Aiden konnte nicht anders – er musste lächeln. Ganz dicht trat er zu Joseph und schlang ihm die Arme um die Taille, reckte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Doch“, sagte er, „Ich bin auch sehr hungrig. Lass` uns fahren!“
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Tag der Veröffentlichung: 28.06.2014
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