Lebensgeschichte
Wir waren 10 Geschwister. Als meine Mutter mich als Älteste ihrer Kinderzahl lehrte, zu funktionieren, waren wir erst drei. Ich war 3 Jahre alt, als mein Bruder Peter das Licht der Welt erblickte und als meine kleine Schwester Gabi zur Welt kam, war ich gerade fünf Jahre alt.
Meine Mutter hat mir schon mit 4 Jahren gezeigt, wie man Babys wickelt, ihm das Fläschchen zubereitet und füttert. Ich bekam eine Fußbank und so waltete ich meines Amtes als Älteste.
Ich war klein, sehr mager – eigentlich unterernährt und wurde sehr krank. Damals – Anfang der 50iger Jahre gab es die „Kinderland – Verschickung“, und auf diesem Wege kam ich nach Schweden in eine Pflegefamilie.
Es war der Himmel auf Erden. Ich hatte nicht nur eine Mama, sondern auch einen so liebevollen Papa! Und dazu noch 2 ältere Geschwister, die mich verwöhnten und liebten. Ich bekam regelmäßig zu essen, wurde mit den „Geheimnissen“ der Natur vertraut gemacht, ging mit Mama und Papa fischen und fuhr mit Papa mit dem Pferdefuhrwerk sonntags zur Kirche. Ich wurde gesund und liebte das Leben. Ich fing an, für meine kleinen Geschwister Essen in meinem Schrank zu horten. Bis Mama die große Pelzmütze auffiel, die aus meinem Schrank roch und hervorquoll. Sie entsorgte alle meine gehorteten Schätze, nahm mich in den Arm und sagte, dass ein extra großes Paket für meine Geschwister mit auf die Reise gehen würde, wenn ich wieder nach Deutschland führe.
Eigentlich sollte mein Aufenthalt in der Fremde nur 6 Wochen dauern. Doch als der Tag der Abreise gekommen war, weinten wir alle bittere Tränen. Meine Mama Syster, mein Papa Sidney, Torbjörn und Reida. Ich stieg in den Bus ein und als er abfuhr, saß ich mit meinem Gepäck auf der Strasse. Ich war wieder durch die Hintertür ausgestiegen. Niemals wollte ich wieder fort von hier.
Ein weiters halbes Jahr verging. Ich kam in die Schule. Damals, in Deutschland war ich mit 5 Jahren auch schon in der Schule. Hier war die Schule im Dorf. Ein schmaler Sandweg – wie ihr ihn aus der Geschichte: Michel aus Lönneberga kennt – führte mich dort hin. Drei Klassen waren in einem Schulraum.
Aber das Schicksal wollte es anders. Ich musste wieder einmal mein Köfferchen packen und der Bus wartete auf mich. Ich bin wieder hinten ausgestiegen und beim nächsten Versuch, mich auf die lange Reise nach Deutschland zu schicken, habe ich abermals gestreikt.
Ich war nun 10 Jahre alt. Papa und Mama machten mit den Behörden die Adoptionspapiere fertig und baten meine deutsche Mutter um ihre Einwilligung.
Viele Jahre kam keine Antwort aus Deutschland und meine jetzigen Eltern und ich taten und fühlten so, als wäre ich ihr Kind. Ich sprach schon lange kein Wort deutsch mehr. War echte Västerbotternerin, habe den Slang und den Dialekt gesprochen. Ich war HIER zuhause!
Dann kam der alles zunichtend machende Brief meiner deutschen Mutter: ich habe inzwischen 9 Kinder und ich brauche die Älteste, um mir die Arbeit abzunehmen. Ich gebe meine Einwilligung nicht.
Ein Schlag ins Gesicht für uns alle. 3 Tage blieben uns noch gemeinsam. Mein großer Bruder Torbjörn ließ mich nicht aus den Augen. Er klebte an mir wie ein doppelseitiges Klebeband. Wir weinten oft zusammen. Teilten wir uns doch ein kleines Kinderzimmer, machten viele Streiche zusammen, und versuchten, die Eltern auszutricksen, was meistens nicht gelang.
Ein letztes Mal ging ich mit Mama in die Backstube um Knäckebrot zu backen…Tränen liefen über ihr Gesicht, was mir nicht verborgen blieb.
Den nächsten Tag packten wir – Mama und ich – meine Sachen. Ich war inzwischen 14 Jahre alt und hatte einen genauen Plan für meine schulische Zukunft. Hier in Schweden hatte ich eine Klasse übersprungen und meine Gedanken waren: Abitur zu machen und zu studieren.
Dies alles sollte nun nicht mehr stattfinden??? Meine geliebte Heimat verlassen, meine Freunde? In ein für mich inzwischen fremdes Land gehen, die Sprache wieder erlernen, und die Erinnerungen meldeten sehr laut aus der Vergangenheit: „Kind, du bist die Älteste, du hast dafür zu sorgen, dass es deinen Geschwistern gut geht“…. Ein Alptraum! Den ich erleben durfte, als ich wieder nach Deutschland kam. Ich fiel vom Himmel direkt in die Hölle.
Meine Mutter hatte wieder geheiratet und 7 weitere Kinder bekommen. Mich grauste vor dem Mann mit dem großen Hund, wie ich ihn bis zu seinem Tod nannte. Er war brutal. Trank und schlug. Drangsalierte nicht nur meine Mutter, sondern auch mich, meinen Bruder Peter und meine kleine Schwester Gabi. Er war ein Schwein! SEINE Kinder hatten alle Vorrechte der Welt. So hatte ich mir meine Zukunft nicht vorgestellt. Diese Familie wollte ich auf keinen Fall.
Ich wandte mich an meinen Patenonkel Max Schmeling. Tante Anni Ondra und Onkel Max ließen ihre Beziehungen spielen und so bekam ich einen Internatsplatz im Albert-Schweitzer-Gymnasium.
Aber da war immer dieses verdammte Heimweh, Heimweh nach zuhause, nach Schweden, wo ich die schönsten Kinder- und Jugendjahre verbringen durfte, die mich gelehrt hatten, dass ich- der Mensch - etwas Wert bin und das man Menschen so akzeptiert, wie sie sind. Denen man alle Möglichkeiten zur Verfügung stellt, um sie bei dem Start ins Erwachsenenleben zu unterstützen um ihnen mit unendlicher Liebe und Verständnis ihren weiterm Weg begleitend zur Seite zu stehen.
Was ich auch tat, das Heimweh blieb. Ich war in einem verkehrten Land geboren worden.
Ich machte mein Abitur und ging auf die Schwesternschule. Nebenbei fing ich an, Ernährungswissenschaften zu studieren. Ich wurde also Krankenschwester und machte meinen Abschluss als Master of sience in Ernährungswissenschaft.
Das Heimweh blieb und es verging nicht ein Jahr, in dem ich meine schwedischen Eltern nicht besucht habe. Hier fühlte ich mich geborgen, hier war ich zuhause!
Zuhause…was für ein wunderbares Wort…
KEIN Land der Welt konnte mir geben, was mich mit Schweden verband. Ich kaufte ein Wohnmobil und ging auf Reisen. Habe alle Länder Europas bereist, war in Amerika.
Ich war eine Suchende. Immer nach einem Zuhause und der Ruhe in mir.
Gottes Vorsehung war es, was mich meine große Jugendliebe wieder treffen ließ. Den Jungen, den ich damals, als ich in Deutschland ankam als erstes traf und mich unsterblich in ihn verliebte. Ja, damals war ich 14 und mein Harry 18 Jahre alt.
Ich lebte damals in Dänemark, hatte ein eigenes Fuhrunternehmen aufgebaut und fuhr LKW.
Da traf ich IHN wieder: die Liebe meines Lebens, meinen Harry. Der mit mir bereit war, MEIN Zuhause zu finden. Meinen Traum in Schweden Wirklichkeit werden zu lassen
Mit ihm wurde mit einem Mal alles ganz einfach. Wir kauften uns ein Haus in Norrbotten. Das Haus war nur 60 km vom Polarkreis entfernt. Es war das Paradies. (wer neugierig ist: auf bookrix, Paradiese von harrein, darf hier gerne stöbern). Leider brannte ein Teil unserer Aussengebäude am 9. November 2009 ab. Eine Ratte hatte sich an den Elektrokabeln in Harry’s Werkstatt zu schaffen gemacht.
Hier wollten wir nicht mehr bleiben. Harry’s Gesundheit war inzwischen so schwer angeschlagen, dass wir es nicht mehr geschafft hätten, neue Gebäude aufzubauen. Ausserdem wohnten wir wirklich in der Wildnis. Und ich war pausenlos im Einsatz als Krankenschwester und als Köchin. Morgens um 5 Uhr verlies ich das Haus und abends um 22 Uhr kam ich nach hause.
Wir beschlossen, uns eine andere Bleibe zu suchen. Ich telefonierte mit meinem Bruder Torbjörn, der mir sagte, dass Papas Haus zu verkaufen sei.
Das Leuchten in meinen Augen muss unbeschreiblich gewesen sein! ENDLICH zuhause angekommen, dachte ich mir. Mein Harry war sofort einverstanden. Er ist mit ALLEM einverstanden, was MIR gut tut. Er ist ein Engel!
Also fuhren wir nach Västerbotten und gingen in Papa’s und Mama’s Haus. Total heruntergekommen, nicht gepflegt, alte Wasserleitungen, veraltete Stromversorgung, das Badezimmer in 2,5 qm unter der Treppe untergebracht Kacheln aus den 50gern Jahren, Fußbodenbelag aus dergleichen Epoche. Ein offener Kamin war nicht betriebsfähig, weil der Schornstein im Laufe der Zeit zusammengebrochen war. Eine große, ertrunkene Ratte im Geschirrspüler und ein Herd, dem sämtliche Schaltknöpfe und Funktionen fehlten, eine Dunststabzugshaube, die beim Einschalten Funken sprühte, zerbrochenen Fensterscheiben und ein alter Wasserschaden im Badezimmer der den Fußboden im angrenzenden Wohnzimmer in die Knie gezwungen hatte. Nun gut, haben wir uns gesagt, in Norrbotten hätten wir auch investieren müssen.
ABER: dieses Haus hat mein Papa und sein Vater, Opa Gustav, 1938 selbst gebaut. Alles, was an diesem Haus Schrott war, liebte ich auf Anhieb. Es war einmal MEIN zu hause. Und wegen der Eltern, die mich mit so unendlich viel Liebe beschenkt hatten, sollte nun, dass, was damals für mich eine heile Welt war, für uns – Harry und mich – ein endgültiges Zuhause werden. In Papa’s und Mama’s Gedenken.
Unseren kleinen Hof nennen wir: „Sidney’s minne“: Gedenken an Sidney.
Wir sind endlich angekommen! Bei uns selbst, in unserer Findung, in unserer Liebe zur Natur, in unserer unendlichen Liebe zu einander. Hier hat sich der Kreis geschlossen. Es gibt keinen Ort auf der Welt, der uns das geben kann, was uns Nordschweden gibt!
© britta r. 2015
Mama und ich. Eine Samin aus Kiruna voller Liebe für alles, was lebte.Besonders liebte sie Kinder!
Kaum zu glauben, aber auf diesem Bild war ich 6 Jahre alt...es ist laaaange her!
Mein geliebter Papa Sidney! Er war ein grossartiger Vater und Mensch. Ich liebte ihn über Alles!
"Ladygård" wurde früher der Kuhstall genannt. Heute steht nur noch die Tenne. Und das Haus links im Bild ist nun Harry's Werkstatt. Neben mir steht meine Schwester Reida.
das waren Papa's Laydies! Er liebte sie, seine Kühe. Und ich - als Kalb - lach - bin auch dabei.
Ein Blick in meine Kindheit. Eine Sekunde nur im Geschehen des Universums. aber für mich: die wunderbarste Zeit meiner frühen Jugend. Ich wünsche JEDEM Kind auf dieser Welt Eltern, wie ich sie hier in Schweden hatte!!!
Zu guter letzt noch ein Bild von 1978. Mama Syster mit Sohn Nr.1, Sohn Nr.2, Papa Sydney und seiner Hündin "Tascha".
Texte: britta r.
Bildmaterialien: alle Bilder und Cover
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2015
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