Cover

»Ich lag still da und hörte zu...«

 

28.07.15

Di, vierter Fastentag:

morgens: 50,6kg   -800g

abends: 50,1kg     -500g

 

 

»Du musst was essen!«

»Musst du nicht. Nurnoch einen Tag, dann kannst du wieder. Nurnoch einen Tag mehr.«

»Du hast seit vier Tagen nichts gegessen! Sei vernünftig, Juki!«

»Lass es bleiben. Nurnoch einen Tag, morgen darfst du nach Plan Gemüse essen. Denk an dein Ziel, du hast nurnoch zwei Wochen.«

 

Ich lag still da und hörte zu.

Ich kannte es, ich war es gewohnt. 

Die beiden Stimmen in meinem Kopf begleiteten mich nun schon seit geraumer Zeit, um genau zu sein seit sechs Monaten. Viel war passiert, in diesem Abschnitt meines Lebens, und ich wagte zu bezweifeln, dass sich Dasselbe oder auch nur Ähnliches ohne die Beiden -vorallem ohne die eine von ihnen- so zugetragen hätte.

Ich hob meine Hand und verfolgte die Linie ihres Umrisses. Diesmal aber nicht darauf bedacht, wie so oft davor, "Fortschritte", wie es die eine Stimme nannte, an ihnen zu erkennen. Nein, ich tat es, um besser entscheiden zu können, auf welche von beiden ich denn nun hören sollte.

Tatsache.

Meine Hand zitterte.

Sie zitterte sogar sehr.

Wenn man es genau nahm, dann war es ein regelrechtes Schütteln, was meine Hand unkontrolliert durchzog.

 

»Siehst du, du musst was essen!«

»Das kommt nur vom Koffein im Kaffee.«

 

Ana. So hatte ich sie genannt, die eine Stimme. Letztere, die mir, ihren eigenen Worten zufolge, helfen wollte.

 

»Den Kaffee hast du vor zwei Stunden getrunken, es war außerdem nur eine Tasse. Du musst was essen, deine Organe brauchen Nährstoffe, dein Körper braucht Energie! «

»Du hast schon ein Tütchen Magnesium getrunken, das reicht deinem Körper allemal. Morgen darfst du wieder etwas essen, einen Tag hält der auf jeden Fall noch durch, vertrau mir.«

 

Ich ließ meinen Blick zu dem leeren Glas auf meinem Nachttisch gleiten, an dessen Rand weiße Spuren sichtbar waren. Ich hatte mir vor längerer Zeit, für genau solche Situationen Nahrungsergänzungsmittel geholt, Magnesium, Calcium, Eisen usw. - wenig Kalorien, trotzdem große Wirkung. Ich wand den Blick wieder ab und konzentrierte mich weiter auf das Gespräch in meinem Kopf.

 

»Deine Eltern haben dir doch heute morgen ein Rosinenbrötchen mitgebracht, das sind nur 180 Kalorien. Das kannst du locker essen, du wirst trotzdem abnehmen.«

»Aber nicht so viel, wie du ohne würdest...und willst du wirklich dieses reine Gefühl der Leere aufgeben? Du hast nicht mal Hunger, also isst du auch nichts. Außerdem ist da ja auch noch der Jojo-Effekt, das weißt du doch. Denk dran wie dick dich das machen wird, dein Magen quellt auf, dabei ist dein Bauch doch grade so schön flach...«

 

Ich senkte meine Hand und ließ sie stattdessen unter mein Shirt wandern, um nachzufühlen, nachzuschauen, ob Ana wirklich Recht hatte. Etwas, was ich oft tat. 

Meine Finger streiften über meine Rippen, hinunter zu der Kuhle, die das Ende meines Brustkorbs bedeutete. Tatsächlich, danach gab es keine weiteren Erhebungen mehr, bis zu den Hüftknochen.

Ein warmes Gefühl von Freude, auch ein wenig Stolz, blitze in mir auf und ich konnte nicht anders, als meinen Mund zu einem breiten Lächeln zu verziehen.

Damit war wohl geklärt, auf wen der beiden ich hören würde.

Ich nahm meine Hand von meinem Bauch und meine Gedanken richteten sich auf ein Gespräch, welches ich am Vormittag mit meinen Eltern geführt hatte. Wenn man es denn Gespräch nennen konnte, so einseitig wie es gewesen war. Thema war mein Essverhalten gewesen, das erste richtige Gespräch dazu. Nicht mehr nur ein „Iss mal mehr!" oder ein „Hast du abgenommen?" und ich musste leider zugeben, dass es mich auf eine gewisse Weise freute, es so weit gebracht zu haben, dass meine Eltern schon so ernst mit mir darüber reden mussten. Ich wusste, dass das keinesfalls etwas war, was man in so einer Situation fühlen sollte...aber ich tat es nunmal.

Ich hatte das "Gespräch" über geschwiegen - naja, eher die Zeit über in denen meine Eltern auf mich eingeredet hatten, wie gesagt, ein Gespräch war es kaum gewesen. Sie fragten, warum ich hungern würde, dass ich doch schon an der Grenze war und wieviel ich denn eigentlich jetzt noch wiegen würde.

Die ganze Zeit über rieb ich meinen Daumen- und meinen Zeigefingernagel aneinander, was ein schnipsenden Laut erzeugte, nur um ansonsten ruhig zu bleiben. Das Geräusch war mir vertraut, es war ein Tick von mir, ich machte es immer, wenn ich nervös war.

Ich konnte nicht mit ihnen darüber reden.

Ich wollte nicht.

Ich durfte nicht.

Ana hatte es mir verboten.

So waren meine einzigen drei Sätze, die ich in der gesamten Konversation sagte: „Ich mache das nicht um abzunehmen.", „Ich wiege mich nicht." und: „Es geht mir gut und ich esse genug."

Nach Letzterem stand ich auf und ging in mein Zimmer. Die Rufe meines Vaters, ich solle doch dableiben ignorierend.

Dass ich mich nicht wog, war eine große Lüge gewesen, ehrlich gesagt tat ich es mehrmals am Tag, genauso wie ich beim zweiten Satz geflunkert hatte. Natürlich wollte ich abnehmen. Zwar war dies nicht der einzige Grund für mein Verhalten, aber es war doch einer der Hauptgründe, das ließ sich nicht verleugnen. 

Ein Klopfen schreckte mich aus meinen Gedanken und nach einem gemurmelten 'Herein', betrat mein Vater das Zimmer. 

„Deine Mutter und ich sind jetzt einkaufen, möchtest du vielleicht mitkommen?"

Ich zögerte, nicht, weil ich Angst hatte, dass mich beim Anblick des vielen Essens vielleicht der Hunger überkommen würde, nein, vielmehr hatte ich Angst davor, dass meine Eltern mir irgendetwelche Lebensmittel aufzwingen wollten. Ich wurde, was das angeht schnell wütend. 

Essen, wenn ich nicht essen wollte, machte mich wütend.

Also verneinte ich, darauf bedacht, es so klingen zu lassen, als hätte ich nur einfach keine Lust.

„Sollen wir dir dann etwas mitbringen?", fragte mein Dad weiter. 

Wieder überlegte ich kurz, verneinte dann allerdings abermals. Zwar konnte ich Magermilch gebrauchen, wir hatten nur welche mit 3,5 % Fett, viel zu viel also, aber das konnte ich ihm ja schlecht sagen.

Kurz schwieg er, schien zu überlegen, abzuwägen, ob er das nächste Thema ansprechen sollte, oder nicht. Dann beugte er sich mit einem Blick auf meine angelehnte Zimmertür zu mir und bat mich in einem etwas leiseren Tonfall: „Bitte rede mal mit deiner Mutter, sie macht sich echt Sorgen. Die ist völlig fertig."

Meine Mutter litt, genau wie ich, an Depressionen und Panikattacken. Beziehungsweise hatte sie mal beides gehabt und anscheinend schien diese Themen wieder aktueller bei ihr zu werden.

Sofort kam ein altbekanntes Gefühl in mir hoch: Schuld.

Ich bin schuld. 

Ich machte mit meinen Problemen meine ganze Umgebung, die Menschen die mir nahestanden, kaputt, das hatte ich schon seit langer Zeit bemerk. Aber geschafft es zu ändern, hatte ich nie. Im Gegenteil, je stärker ich probierte meine Probleme von meinem Umfeld abzuschirmen, desto größer und unübersehbarer wurden sie, vermehrten sich noch und machten alles noch schlimmer.

Ich bin schuld. 

Es wiederholte sich leise in meinem Kopf.

Ich nickte einfach und mein Vater schaute mich lange wortlos an, anscheinend wieder am überlegen.

Als ich gerade fragen wollte, ob sonst noch etwas sei, fragte er langsam, immer noch halb in Gedanken:

„Wieso machst du sowas?...Ich hab eben eine Reportage gesehen, über den Krieg im Jemen, über die Hungersnöte dort. Da hab ich Bilder gesehen von abgemagerten Kindern, weißt du, da frag ich mich einfach nur wie...", er hielt kurz inne, schien nach den richtigen Worten zu suchen „...wie man sowas freiwillig wollen kann. Ich hoffe du erklärst mir das irgendwann mal, ja?"

Er verwechselte da etwas. Ich wollte es nicht, ich machte es nicht freiwillig.

 

»Doch, das tust du.«

»Nein, Ana zwingt dich.«

 

...In diesem Punkt konnte ich mich nicht mit mir selbst einigen, irgendwie fühlten sich beide Aussagen, sowohl zustimmend, als auch verneinend, falsch, aber auch richtig an.

Allerdings hatte ich gewusst, dass mein Vater mein Verhalten am wenigsten verstand, mit sowas hatte er keine Erfahrungen, auch wenn ich mir sicher war, dass er es, nachdem ich ihm ausführlich über meine Gründe berichtet hätte, verstehen würde. 

Aber das würde ich nicht tun.

Ana hatte es verboten. 

Und Ana wusste, wie man mich bestrafen konnte.

Ich nickte also wieder einfach nur kurz und mein Vater verließ nach einem, von mir erneut verneinten 'Und du willst sicher nichts vom Einkaufen?' den Raum.

 

 

 

 

 
 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.07.2015

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /