Cover

Prolog

Es hätte nicht so weit kommen müssen. Alles hätte anders verlaufen können. Das alles ist nur passiert, weil sie nicht aufgepasst hatte. Weil sie nicht rechtzeitig die Reißleine gezogen hatte. Wohl einer der größten Fehler ihres Lebens. Und jetzt steckte sie ziemlich tief drin im Dilemma. Allein, hilflos und ohne jeglichen Schutz.

Sie fragte sich oft, wann sie an dem Punkt angelangt war, an dem sie die letzte Chance hatte, in ihr altes Leben zurückzukehren. Ihre Chance, den unwillentlich eingeschlagenen Weg nicht weiter zu verfolgen. Und sie nicht ergriffen hat.

Und dann im nächsten Moment fragte sie sich, ob vielleicht alles genau so laufen musste.

Kapitel 1

 Schmale Schlitze in den Rollos ließen ein wenig Licht der Mittagssonne hinein, ansonsten war es schummrig und dunkel im Büro. Feine Rauchschwaden hingen in der Luft, die definitiv zu wenig Sauerstoff zum Atmen bereithielt. Kaffeetassen stapelten sich in der Mitte des Raumes auf dem Schreibtisch, hinter dem ein unrasierter Mann mittleren Alters saß und mit einer Zigarette im Mund auf einen Bildschirm starrte.

Alva stand im Türrahmen und betrachtete das Chaos in diesem Raum, der in diesem Zustand gewiss keine inspirierende Energie freisetzte, um den Artikel des Jahres zu verfassen. Sie räusperte sich, doch vom Schreibtisch kam keinerlei Reaktion.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Der Mann hinter dem Schreibtisch schreckte auf, glotzte Alva aus müden, blutunterlaufenen Augen an und deutete mit einer winzigen Handbewegung auf die Kaffeetassen. Sie atmete tief ein und aus, betrat den dunstigen Raum und sammelte das Geschirr zusammen. Dabei erhaschte sie einen Blick auf den Bildschirm, auf dem ein Schreibprogramm geöffnet war. Eine leere Seite strahlte ihr entgegen.

Sie hustete, um ein aufkommendes Lachen zu unterdrücken und fing sich dabei einen vernichtenden Blick ein. Sie hauchte ein „Verzeihung“ und verließ schnurstracks den Raum, um endlich wieder tief durchatmen zu können.

Seufzend machte sie sich auf den Weg in die Küche, um das schmutzige Geschirr zu spülen und neuen Kaffee zu machen. Sie belud gerade den vollautomatischen Spüler, als jemand hereinkam.

„Hat Mr. Adamson hat wieder sein kreatives Tief?“ Er nahm sich einen grünen Apfel aus der Obstschale und rieb ihn an seinem Pulli ab, bis er glänzte.

Alva warf einen Blick über die Schulter und grinste schief, als sie ihren Mitpraktikanten Mick erkannte. „Hat das nicht immerzu? Wenn er denn überhaupt mal da ist.“

Er lachte und warf den Apfel von einer Hand in die andere. „Es wird aber langsam mal wieder Zeit für einen Kracher in der Redaktion. Sonst ist unser Job bald Geschichte.“

„Daran habe ich auch schon gedacht. Aber zum Glück gibt es noch andere Schreiber hier, die etwas von ihrem Fach verstehen.“ Die Kaffeemaschine gab ein wohliges Summen von sich, als Alva sie einschaltete. Sie hatte beschlossen, gleich eine ganze Kanne zu befüllen.

„Aber keiner ist so gut wie Adamson.“

Damit hatte Mick es auf den Punkt getroffen. Keiner hier war so gut wie der Typ, der gerade ideenlos und übermüdet hinter seinem Schreibtisch vor sich hinsiechte. Die anderen in der Redaktion machten ihren Job, den machten sie auch gut, aber Rowan Adamson war ein journalistisches Genie. Mit gerade mal sechzehn Jahren hatte er einen Bericht über die politische Lage des Landes verfasst, der die gesamte Bevölkerung in Erstaunen versetzt und so einige Politiker die Wahlstimmen gekostet hatte. Seitdem war viel passiert, Adamson hat viele glänzende Berichte geschrieben und diverse Preise erhalten. Doch seit einigen Monaten wurde nichts mehr von ihm veröffentlicht. Der Redaktionsleiter traute sich anscheinend nicht, ein solches Genie zu feuern, aus Angst, jemand anderes könnte ihn und seinen irgendwann wieder aufblühenden Ruhm abgreifen. Diesen Eindruck machte er jedoch nicht. Er war nicht einmal täglich im Büro. Manchmal tauchte er ein paar Tage lang einfach nicht auf, nur um dann völlig abgekämpft hier in der Dunkelheit zu sitzen und nichts zu tun.

Alva zuckte mit den Schultern und starrte auf das monotone Tröpfeln der Kaffeemaschine. Seit drei Wochen war sie als Praktikantin angestellt. Sie hatte sich sehr über diese Möglichkeit gefreut, da sie sich schon immer vorgestellt hatte, irgendwann eine große Journalistin zu sein. Ihr großes Vorbild als Kind war kein geringerer als Rowan Adamson. Als der Redaktionsleiter ihr auch noch ihr berühmtes Vorbild als Mentor zuwies, dachte sie, ihr Glück könnte nicht größer sein – bis sie schließlich das erste Mal auf ihn traf. Es war ein ernüchternder Schlag und mit den Wochen musste sie erkennen, dass Adamson seine Blütezeit definitiv hinter sich hatte.

„Na gut, ich muss los. Raina hat wohl einen neuen Skandal gerochen und nimmt mich mit auf die Jagd.“ Mick zwinkerte ihr zu, biss herzhaft in seinen Apfel und verließ die Küche. Sehnsüchtig blickte Alva ihm nach. Warum hatte sie nur so ein Pech. Mick wurde alle paar Tage mitgenommen, um zu lernen, wie Interviews geführt wurden oder Berühmtheiten nachzuspionieren und die neuesten Skandale aufzudecken. Seine Erzählungen klangen so aufregend, dass Alva das Gefühl hatte zu platzen. Sie wollte das auch. Sie wollte etwas tun. Und nicht Tag für Tag damit zubringen, einem ungeduschten Ex-Genie Kaffee zu bringen und hinter ihm aufzuräumen.

Sie füllte den Kaffee in die Kanne, nahm eine neue Tasse aus dem Schrank und machte sich auf den Weg zurück in Adamsons Büro.

Adamson saß nicht mehr an seinem Platz. Alva warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Es war halb eins, eigentlich zu früh, um das Büro zu verlassen. Möglicherweise schnappte er kurz Luft draußen im Innenhof. Oder er kaufte sich neue Zigaretten.

„Was lerne ich hier? Kaffeekochen“ Etwas angesäuert murmelte Alva vor sich hin und nutzte ihre Chance, indem sie die Rollos hochzog und die Fenster öffnete. Der frische Luftzug und die warmen Sonnenstrahlen besserten ihre Laune und ließen die düsteren Gedanken verschwinden. Sie griff nach ihrem Laptop und machte es sich im Ohrensessel vor dem Fenster bequem.

Es schienen Stunden zu vergehen, in denen Alva recherchierte, um neue Informationen für Adamsons aktuellsten Bericht zu sammeln. Ein Bericht über ein Familienunternehmen in der Stadt, eine Restaurantkette. Kein allzu spannendes Thema. Die langsam untergehende Sonne schien mittlerweile durchs Fenster der westlichen Hauswand und warf flammendes orangerotes Licht in den Raum, das das unaufgeräumte Büro irgendwie faszinierend aussehen ließ.

Adamson war noch immer nicht zurückgekehrt. Alva legte ihren Laptop zur Seite und trat vor den Schreibtisch. Sie durfte hier eigentlich nichts anfassen. Dennoch gewann ihre Neugier. Sie tippte einmal gegen die Maus, um den Bildschirmschoner zu beenden, eine SNAKE-Schlange, die seit Stunden über den Schirm geisterte. Das Schreibprogramm war noch immer geöffnet. Doch das Papier war nicht mehr leer. Es standen nur zwei Worte darauf: Hilf mir.

 

Ein Frösteln lief durch Alvas Körper und ihr Hirn lief auf Hochtouren. War etwas passiert? Steckte er in Schwierigkeiten? Oder kam er einfach mit seinem Bericht nicht weiter und waren seine Worte nichts als ein kleiner Hilferuf nach ihrer Unterstützung?

Falls er wirklich in Schwierigkeiten steckte, musste sie handeln. So schnell sie konnte, eilte sie durch die Redaktion, stürmte die Treppen hinauf bis ins oberste Stockwerk und kam hustend und keuchend oben an. Sie atmete kurz durch, um sich zu sammeln, stieß die Tür zur Chefetage auf und suchte das Büro von Mr. Winters, der Redaktionsleitung. Nach wenigen Minuten fand sie die rote Tür, hinter der sich das Büro befand. Sie stand einen Spalt breit offen.

Alva war drauf und dran, die Tür zu öffnen. Ihre Hand lag schon am Griff, als sie innehielt. Etwas in ihr hielt sie zurück, warnte sie davor, etwas Unbedachtes zu tun. Dann hörte sie Stimmen aus dem Raum.

„Wenn Sie den Bericht fallen ließen, wäre es das Beste.“ Es war eine tiefe, leise Stimme, die nicht Mr. Winters gehörte. Sie klang bedrohlich. Alva rückte näher an den Türspalt, sehr bedacht darauf, keinerlei Geräusche zu machen.

„Ich kenne Ihre Spielchen. Das mache ich nicht mehr mit.“ Das war Mr. Winters. Sonst so selbstbewusst und stark, klang er nun zittrig und verängstigt, während er versuchte, seine Meinung klar zu vertreten.

„Wenn Sie sagen, dass Sie unserer Spielchen kennen, wie können Sie sich dann trauen, sich uns entgegen zu stellen?“ Wieder die dunkle Stimme. Alvas Puls beschleunigte sich. Hier passierte etwas, das im schlimmsten Fall kein gutes Ende nahm. Sie ermahnte sich, ruhig zu atmen. Dann überkam es sie wie ein Geistesblitz. Sie nahm ihr Smartphone und startete eine Audio-Aufnahme des Gesprächs.

„Sie wissen, wozu wir fähig sind.“ Diese Stimme klang anders, sie klang glockenhell und freundlich, im Gegensatz zu der anderen. Doch der Schein schien zu trügen. „Während wir hier über Nichtigkeiten diskutieren, ist Ihr kleines Genie mittlerweile in unserer Obhut.“ Sie lachte und es klang hell und bezaubernd. Niemand würde darin etwas Böses vermuten. „Wenn man es so nennen mag.“

„Was haben Sie getan?“ Mr. Winters‘ Stimme wurde lauter, fester.

„Das braucht Sie nicht zu interessieren.“ Dieser Satz der dunklen, bösartigen Stimme blieb einige Sekunden im Raum hängen, in denen keiner etwas sagte. „Wir lassen Sie Ihre Arbeit hier weiter verrichten, wenn Sie keine Fragen stellen“, fuhr er fort. „Wie immer.“

Wie immer? Alva traute ihren Ohren nicht. Erschrocken trat sie einige, vorsichtige Schritte zurück, um ja kein Geräusch zu machen, das sie enttarnen würde. Sie drehte sich um und wollte zur Treppe zurückkehren, als etwas geschah, das in dieser Situation absolut unpassend war. Alva bekam eine Nachricht. Das Smartphone in ihrer Hand vibrierte.

„Was war das?“ Die helle Glockenstimme wurde lauter und Alva wusste, was sie zu tun hatte. Sie rannte.

 

 

Kapitel 2

Sie rannte, so schnell sie konnte. Die Treppen hinunter, mehrere Stufen auf einmal nehmend und hörte über sich fluchende Stimmen und das wilde Auftreten mehrerer Füße auf den Treppen. Sie waren ihr dicht auf den Fersen.

Alva merkte, wie ihr das Adrenalin durch den Körper schoss. Ihre Ohren wurden taub, sie spürte ein Ziehen in der Brust und in den Seiten, doch all das interessierte sie gerade herzlich wenig. Sie rannte zurück in Adamsons Büro, wohlwissend, dass man es abschließen konnte.

Dort angekommen drehte sie mit zittrigen Fingern den Schlüssel herum, schob den schweren Ohrensessel vor die Tür und sprang zum Fenster. Sie sah hinaus und wägte ihre Chancen ab. Es war zu hoch zum Springen, dabei würde sie sich sämtliche Knochen brechen. Also schloss sie die Fenster und zog die Rollos zu.

Schwer atmend sah Alva sich im Raum um. Es war dumm gewesen, sich hier einzuschließen. Sie hätte bis ins Erdgeschoss rennen und nachhause laufen sollen. Doch dann hätten sie sie vielleicht vorher schon erwischt und wer weiß, was dann passiert wäre… Sie schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Komm runter, Alva, beruhig dich. Denk nach. Denk scharf nach.

Die Stimmen waren mittlerweile wieder zu hören. Dumpf drangen sie durch die geschlossene Tür. „Wo ist er hin?“ Er? In der nächsten Sekunde begriff Alva. Sie hatten sie nicht gesehen. Das war vermutlich ihr Glück.

„Es ist keiner meiner Mitarbeiter mehr da, alle ausgecheckt.“ Das war Mr. Winters. Er schien sie decken zu wollen. Für die Angestellten gab es eine Art Automaten im Erdgeschoss, an dem sich diese an- und abmeldeten. Praktikanten waren davon nicht ausgenommen. Wenn es schlecht lief, würden sie es überprüfen und entdecken, dass sie die einzige war, die noch eingecheckt war.

„Dann muss er hier noch irgendwo sein. Lass uns das Gelände absuchen und absichern.“

Die Stimmen entfernten sich wieder. Nach kurzer Zeit war es totenstill.

Alva setzte sich in den Sessel und brauchte ein paar Minuten, um sich zu sammeln. Dann schärfte sich ihr Verstand wieder. Sie konnte wieder klarer denken und setzte sich an Adamsons Schreibtisch. Vielleicht würde sie hier nützliche Informationen zu seinem Verschwinden finden.

Sie öffnete verschiedene Ordner, entdeckte jedoch keine aufregenden Daten. Sie klickte sich durch das System, bis sie schließlich auf einen gesperrten Ordner stieß. Sein Name war „Achat“. Er war mit einem Passwort geschützt. Alva probierte verschiedenes aus, merkte jedoch schnell, dass sie Adamson zu wenig kannte, um ein persönliches Passwort von ihm herausfinden zu können. Also durchwühlte sie die Schubladen und fand schließlich einen USB-Stick, den sie anschloss, um den Ordner dort hinüberzuziehen. Auch alle anderen Ordner speicherte sie auf dem Stick und löschte sie anschließend vom PC. Als sie sich sicher war, dass sie alle Daten zusammen hatte, schaltete sie das Gerät aus.

Doch könnte ein begabter Computer-Nerd nun an das Gerät gehen und möglicherweise wertvolle Daten stehlen, obwohl sie gelöscht wurden…? Dafür kannte sie sich zu schlecht mit der Materie aus. Also dachte sie nicht lange nach, schraubte die Festplatte heraus, nahm eine Schere und versuchte so leise wie möglich, sie mit der Spitze zu zerstören. Unsicher, ob das ausreichen würde, steckte sie sie in ihre Tasche. Sie würde sie später loswerden.

Alva war nie wirklich technik-begeistert, aber ein wenig stolz auf sich war sie schon. Es fühlte sich richtig an, was sie getan hatte.

Dennoch stand sie vor einem weit größeren Problem als der Technik. Irgendwie musste sie hier rauskommen, ohne diesen gruseligen Unbekannten in die Arme zu laufen. Sie schritt den Raum ab und prüfte die Wände. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Krimi, doch in diesem Fall wollte sie alle Chancen nutzen. Selbst die schweren, wandhohen Bücherregale schob sie zur Seite, nur um festzustellen, dass sich natürlich keine Geheimtür dahinter verbarg.

Sie musste wohl oder übel hier raus. Leise rückte sie den Ohrensessel von der Tür weg und lauschte. Es war nichts zu hören. Sie drehte den Schlüssel im Schloss. Das Klicken dröhnte viel zu laut in ihren Ohren wieder. Dann öffnete sie die Tür einen Spalt breit und spähte hinaus auf den Gang.

Der Gang war dunkel und leer. Alva drückte ihre Tasche fest an sich und schlich in Richtung Treppenhaus. Die Sonne war inzwischen untergegangen. Dämmriges Licht, das durch die großen Fenster fiel, hüllte alles in einen gespenstischen Schimmer. Mit pochendem Herzen stieg Alva die Treppen hinab, die Ohren gespitzt, um das kleinste Geräusch wahrzunehmen.

Schließlich kam sie im Erdgeschoss an. Erst als sie die Lobby zur Hälfte durchquert hatte, fiel ihr etwas ein, das sie innehalten ließ. Sie war allein hier. Das hieß auch, dass jemand das Gebäude abgeschlossen und die Alarmanlage aktiviert hatte.

Bis hierher war sie jedoch gekommen, ohne einen Alarm auszulösen. Durfte sie es riskieren, eine Tür oder ein Fenster nach draußen zu öffnen? Oder wäre dann die ganze Heimlichkeit und das Versteckspiel umsonst gewesen, wenn sie erwischt wurde?

Erst jetzt fiel Alva ihr Smartphone wieder ein. Sie kauerte sich in eine Putzkammer, schloss die Tür und blickte das erste Mal seit dem Moment vor Mr. Winters Büro auf den Bildschirm. Die Nachricht, die sie enttarnt hatte, kam von Mick.

Wollen wir heute Abend was trinken gehen? Dann erzähle ich dir alles, was Raina und ich heute erlebt haben. Ich kann jetzt erstmal nicht mehr schreiben, Handyfreie Zone – melde dich! Mick

Alva schüttelte mit einem frustrierten Lachen den Kopf. Hätte Mick geahnt, was seine harmlose Nachricht hätte anrichten können… Sie rügte sich jedoch auch dafür, ihr Handy nicht lautlos gestellt zu haben, während sie verbotenerweise gelauscht hatte. Die Aufnahme lief noch. Sie stoppte sie und hörte sich die ersten Minuten davon wieder und wieder an. Das war definitiv etwas für die Polizei. Doch würden sie sie überhaupt ernst nehmen? Sie hatte nichts in der Hand, hatte nichts gesehen, wie sollten sie dann eine Spur aufnehmen können? Vielleicht waren aber auch Fingerabdrücke in Adamsons Büro… Fingerabdrücke. Alva starrte an die Decke und hätte sich ohrfeigen können. Sie war gerade an seinem Schreibtisch, an seinem Computer gewesen und hatte Daten entnommen, die bei der Ermittlung geholfen hätten. Doch damit tritt sie natürlich in den Tatverdacht. Wie dämlich muss man sein.

In diesem Moment summte das Smartphone erneut und es erschien eine weitere Nachricht auf dem Bildschirm.

Hey Alva, ich bin jetzt Zuhause. Du hast vermutlich keine Zeit, da du nicht antwortest. Wünsche dir einen schönen Abend!

Mick. Ihm würde sie sich sicher anvertrauen können. Er war immer freundlich und zuvorkommend gewesen. Mit zittrigen Fingern wählte sie seine Nummer aus und lauschte dem Geräusch in der Leitung.

„Hallo?“

Alva war so erleichtert, dass sie kein Wort herausbrachte. Sie schluchzte.

„Alva?“

„Mick“, brach sie hervor. „Ich stecke in Schwierigkeiten.“

Es folgte eine kurze Pause, am anderen Ende der Leitung fiel eine Tür ins Schloss. „Was ist los? Wo bist du?“

„Ich bin in der Redaktion. Mick, ich hab‘ solche Angst. Ich muss hier raus.“

„Was machst du um diese Uhrzeit noch in der Redaktion? Warum rufst du mich an und nicht Mr. Winters?“

„MICK! Ich. Muss. Hier. Raus! Verstehst du!“ Ihr Puls beschleunigte sich, der Raum um sie herum schien immer enger zu werden.

„Ja… warte… Ich habe mal mitbekommen, wie Raina mit jemandem über eine Tür im Keller gesprochen hat, die nie abgeschlossen ist. Kaum einer kennt die, aber einige nutzen sie wohl, um heimlich nachts weiter zu arbeiten. Versuch die zu finden! Ich mache mich auf den Weg und suche sie von außen.“

„Pass auf dich auf Mick, vielleicht sind sie noch irgendwo da draußen.“

„Wer?“

Alva schüttelte den Kopf, dann fiel ihr ein, dass Mick es nicht sehen konnte. „Böse Menschen. Ich erkläre dir nachher alles. Pass auf dich auf, hörst du?“

„Das mache ich. Bis gleich, Alva!“

Sie legten auf. Alva stand auf, klammerte sich an ihre Tasche und öffnete die Tür. Sie erstarrte. Draußen waren Schritte zu hören.

 

Sie blickte durch den kleinen Spalt in der Tür. Die Schritte wurden lauter, kamen näher. Jemand ging dicht an der Kammer vorbei, in der Alva festsaß. Er trug eine Uniform für Sicherheitsbeamte.

Leise aufatmend wartete Alva, bis er die Lobby verlassen hatte und schlich in die entgegengesetzte Richtung zum Treppenhaus. Der Weg in den Keller war bloß durch die grünlichen Notausgangsschilder beleuchtet wirkte mehr als unheimlich. Alva zwang sich, ihre Ängste und Beklemmungen vor der Dunkelheit hinunterzuschlucken und machte sich auf den Weg.

Sie war bisher nie im Keller gewesen. Hier befanden sich die Archive, die ihr Adamson eigentlich schon längst hätte zeigen müssen. Andere Praktikanten gingen hier täglich ein und aus, so wie Mick. Vorsichtig tastete sie sich voran, darauf bedacht, kein Geräusch zu machen und die Aufmerksamkeit des Sicherheitsbeamten auf sich zu ziehen.

Wo könnte sich eine geheime Tür befinden? Das Archiv war riesig. Alva schritt die Regale ab, prüfte den Boden und die Wände. Schließlich fiel ihr Blick auf einen großen goldenen Rahmen. Ein mannshohes Bild von dem Begründer der Zeitung mit seiner Familie. Sie rümpfte die Nase. Ganz schön prunkvoll und ein wenig überheblich, ein Bild von sich selbst im Archiv aufzuhängen.

Im Archiv. Wenn man so stolz auf sich und seine Familie ist, dann stellt man solch ein Bild doch nicht in einem dunklen Raum auf, in dem sich nur ab und an jemand aufhält, um alte Informationen rauszusuchen.

Vorsichtig zog Alva an dem goldenen Rahmen und tatsächlich. Er ließ sich wie ein Fenster öffnen und gab den Blick auf einen dunklen Gang frei. Das fühlt sich tatsächlich an wie in einem Krimi, schoss es Alva durch den Kopf. Sie spürte ein wenig Stolz in sich aufsteigen, nahm jedoch im nächsten Moment Schritte auf der Treppe wahr. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Rasch huschte sie durch die Öffnung und zog das Bild hinter sich zurück an die Wand.

Um sie herum war vollkommene Dunkelheit und Stille. Nervös grabbelte sie an ihrem Smartphone herum und fand die integrierte Taschenlampe. Sie leuchtete den Tunnel entlang. Die Wände bestanden aus Sand und grobem Stein, verstärkt mit Holzbalken und Dielen. Das Ganze sah nicht gerade vertrauenserweckend aus, schien aber seinen Zweck zu erfüllen.

Der Weg durch den Tunnel kam Alva ewig vor, sie fragte sich, wo sie sich mittlerweile befand und wo sie wohl herauskommen würde. Gefühlte Stunden später, nach vielen Windungen und Steigungen, kam sie an eine Tür. Sie schaltete die Taschenlampe aus und lauschte. Alles war still. Sie öffnete die Tür und erschrak vor dem leisen Quietschen, dass diese von sich gab. Sie war wohl eine Weile nicht benutzt worden.

Die Tür führte in einen kleinen Raum, helles Mondlicht schien durch ein Fenster an der Wand. Überall standen Gartengeräte herum. Verwirrt blickte Alva sich um. Sie kannte diesen Ort nicht. Aber immerhin hatte sie es geschafft, die Redaktion zu verlassen. Sie schloss die Tür hinter sich und bemerkte, dass sie gut getarnt war – wenn man es nicht besser wusste. An dieser Wand, einschließlich der Tür, hingen dem Türgriff ähnliche Knaufe, an denen Handschuhe und kleinere Geräte baumelten. Alva stieß einen bewundernden Pfiff aus.

Sie beugte sich zum Fenster und ihr Blick fiel auf ein Haus, das sie kannte. Es war das Anwesen des Bürgermeisters. Sie schickte Mick eine Nachricht.

Raus aus der Redaktion. Können wir uns bei Marco‘s treffen? Das ist ganz in der Nähe. Alva

Sie wagte es nicht, ihren Schutz zu verlassen und wartete im Schuppen auf Micks Antwort. Er ließ sich Zeit.

Nach einigen Minuten wurde Alva wieder nervös. Was war, wenn sie ihn erwischt hatten? Panik stieg in ihr auf. Es war allein ihre Schuld, wenn er mit in dieses Schlamassel gezogen worden ist. Was hatte sie sich dabei gedacht, ihn das Gelände absuchen zu lassen?

Das Smartphone vibrierte.

In 10 Minuten? Bis gleich!

Erleichtert atmete sie auf und steckte das Smartphone wieder ein. Bevor sie sich auf den Weg machte, zog sie die Festplatte aus ihrer Tasche, griff nach einem Hammer an der Wand und schlug einige Male kräftig darauf ein. Die Platte sah fürchterlich aus. Hoffentlich reichte es aus.

Sie verließ den Schuppen und lief durch die beleuchteten und belebten Straßen. Endlich wieder Menschen um sie herum. Menschen, die ihr nichts Böses wollten. Kurze Zeit später war sie beim Lokal angekommen, setzte sich an einen freien Tisch und wartete.

Mick kam nur wenige Augenblicke nach ihr an. Alva stürmte ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und ließ ihren Tränen freien Lauf. Die anderen Gäste warfen ihnen merkwürdige Blicke zu, doch das interessierte sie nicht im Geringsten. Endlich waren sie in Sicherheit.

Kapitel 3

„Was tun wir jetzt?“ Mick nippte an seiner Cola und blickte Alva erwartungsvoll an, als wüsste sie darauf eine Antwort.

Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Wir wissen ja nicht einmal, wem wir in dieser Sache trauen können.“ In den letzten Minuten hatte sie Mick alles erzählt, was sie erlebt und erfahren hatte.

„Die Polizei?“ Mick runzelte die Stirn und widersprach sich selbst. „Nein, keine gute Idee wegen der Fingerabdrücke. Was machen wir mit der Festplatte?“

„Ich entsorge sie auf dem Heimweg in irgendeiner Mülltonne.“

„Lass mich das machen. Dann bist du eine Sache los.“ Mick meinte es gut. Das wusste Alva, dennoch spürte sie Argwohn in sich aufsteigen. Nur etwas widerwillig reichte sie Mick die zerstörte Festplatte, der sie rasch einsteckte, damit sie niemand sah.

„Ich bin gleich wieder da.“ Alva deutete zur Toilettentür, schenkte Mick ein dankbares Lächeln und stand auf. Sie war beinahe an der Toilettentür angelangt, als sie eine Stimme hörte, die ihr erschreckend bekannt vorkam. Es war die düstere Stimme aus Mr. Winters Büro. Sie blickte sich um, sah jedoch niemanden, der bösartig genug aussah, um zu solch eine Stimme zu haben. Entspann dich, Alva. Du bist in Sicherheit. Dein Gehirn spielt dir einen Streich.

Sie öffnete die Tür zur Damentoilette und versuchte, ihre Angst und die dunklen Gedanken von sich zu stoßen. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, wurde sie prompt wieder aufgedrückt. Ein junger Mann kam herein und schloss die Tür.

Alva hob eine Augenbraue. „Das ist die Damentoilette“, erklärte sie und verschränkte die Arme vor der Brust, darauf wartend, dass er den Raum wieder verließ. Doch er rührte sich nicht vom Fleck. Er war groß und blond und hatte ein hübsches Gesicht. Aber davon würde sie sich nicht täuschen lassen.

Sie machte ein paar Schritte rückwärts. „Wenn Sie mir zu nahe kommen, schreie ich.“ Es klang wesentlich härter, als sie sich fühlte. Ihr Beine schienen wie aus Gummi zu sein und wollten sich nicht mehr bewegen.

„Ich tu dir nichts“, sagte er und Alva spürte wieder einmal Erleichterung in sich aufkeimen. Seine Stimme klang nicht einmal annähernd wie die aus dem Büro. Dennoch hatte er hier drin nichts verloren.

„Schön, aber was wollen Sie hier drin?“

„Ich habe dich gesucht.“

Gruselig. „Kennen wir uns? Oder warum duzen Sie mich?“ Alva errechnete ihre Chancen, an ihm vorbeizustürmen, oder das kleine Fenster zu erreichen und hinauszuklettern, doch beides schien unmöglich. Sie machte dennoch einen Schritt zur Seite in Richtung Fenster. Er schien es erwartet zu haben und machte ebenfalls einen Schritt zur Seite.

„Hab keine Angst. Ich möchte dir helfen. Wirklich. Ich bin Jaime.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. Alva nahm sie nicht.

„Lassen Sie mich in Ruhe. Ich möchte gehen.“ Sie versuchte sich ihren Weg zur Tür zu bahnen, doch in diesem Moment ging die Tür ein weiteres Mal auf. Ein weiterer Typ steckte seinen Kopf hinein.

„Jaime, wir müssen los. Ich kann die Gäste nicht ewig von den Toiletten abhalten.“

Alva starrte verwirrt von einem zum anderen. „Was ist das hier für ein Spiel?“

Der Typ in der Tür sah leidend aus. „Es ist kein Spiel. Nicht, wenn ein Leben in Gefahr ist. In diesem Fall deines.“

Der blonde Jaime trat neben sie. „Wir müssen dich hier rausbringen, bevor sie dich entdecken.“ Er nickte in Richtung Tür. „Sie fragen nach einer jungen Frau, die für Rowan Adamson arbeitet. Alva Pierce. Das bist du doch?“

Ein Kloß von der Größe eines Golfballs steckte in ihrem Hals. Das durfte nicht wahr sein. „Woher wissen Sie, wer ich bin?“

„Erklärungen folgen später, wir müssen hier dringend raus! Jaime, ich warte im Wagen.“ Er verschwand aus der Tür und gab sie frei.

„Du musst uns jetzt vertrauen, Alva.“ Jaime hob beschwichtigend die Hände. „Bitte. Sonst können wir dich nicht beschützen.“

Alva horchte tief in sich hinein. Sie fürchtete sich und wollte keinem Wildfremden Vertrauen schenken. Dennoch spürte sie aus irgendeinem Grund, dass sie genau das tun sollte. Sie nickte langsam. „Okay, ich werde mitgehen. Aber ich bin mit einem Freund hier, was passiert mit ihm?“

„Michael Cooper? Er ist bereits in Sicherheit. Mein Kollege Kevin hat ihn zum Auto gebracht.“

„Wo fahren wir hin?“ Alvas Schädel fühlte sich an, als wäre er kurz davor zu bersten.

„Keine Zeit mehr für Fragen, wir müssen los. Ich erkläre dir alles, wenn wir sicher reden können.“ Jaime wies aufs Fenster. „Du kletterst da raus, draußen steht ein blauer Wagen. Ich komme durch den Haupteingang zu euch und sichere die Lage.“

Alva nickte und spähte aus dem inzwischen geöffneten Fenster. Eine dunkelblaue Limousine surrte mit laufendem Motor leise vor sich hin. Sie quetschte sich durch die Luke und krabbelte hinaus. Vorsichtig blickte sie sich um. Es war keine Menschenseele zu sehen. Sie trat an den Wagen und öffnete die Tür zum Rücksitz. Mick saß dort, er wirkte völlig verstört und ängstlich. „Alva“, hauchte er. Sie stieg ein und nahm ihn in den Arm. „Wir schaffen das, Mick.“

Auf der Fahrt sprach keiner ein Wort. Alva brannten so viele Fragen auf der Zunge, doch sie war zu erschöpft von den Geschehnissen am Tag, dass sie bloß in Micks Arm dasitzen konnte, während sie versuchte, sich nicht der Welle des Schlafes hinzugeben, die imstande war sie zu überrollen.

 

„Alva, wach auf.“ Es war Mick. Er lächelte ihr aufmunternd zu. „Wir sind da.“ Sie ließ sich von ihrem Freund aus dem Auto ziehen und blickte sich müde um. Sie hatte nicht einschlafen wollen. Wie lange waren sie gefahren? Und vor allem – wo waren sie?

Sie befanden sich vor einem großen, unscheinbaren Gebäude mitten im Wald. Es machte den Anschein, als hätte es keine Fenster, wie ein Bunker. Alva verschränkte die Arme vor der Brust. „Was ist das?“

Jaime lachte und schwang sich aus dem Wagen. „Unsere Zentrale. Je unauffälliger, desto besser.“ Er bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Der andere Typ, der laut Jaime wohl Kevin sein musste, wartete, bis sie ausgestiegen waren und folgte ihnen dann zum Gebäude. Die Tür war ebenso unscheinbar wie das Haus selbst. Alva hätte sie nicht bemerkt, wenn Jaime nicht seine Hand an ein metallenes Gedenkschild gedrückt und somit einen Mechanismus ausgelöst hätte, der die Umrisse der Tür erscheinen ließ.

„William Paulsen. Wer ist das?“ Das Gedenkschild war dunkelblau und eher schlicht. Darauf standen in goldenen Lettern der Name, sowie Zahlen, die dem Anschein nach Geburts- und Sterbedatum darstellen sollten. Die Daten lagen lange zurück.

„Der gute William war Mitbegründer unserer Organisation und war so freundlich, sein Haus zur Verfügung zu stellen. Seitdem ist es die Zentrale, wir haben nur einige kleine Veränderungen vorgenommen…“ Kaum hatte Jaime den Satz zu Ende gesprochen, öffnete sich die Tür wie von Geisterhand und bot einen gut ausgeleuchteten Gang dar.

Sie betraten das Gebäude gemeinsam. Jaime lotste sie durch zig Gänge und Türen, doch je intensiver sich Alva darauf konzentrierte, sich alles zu merken, desto stärker pochte ihr Schädel. Es war unmöglich. „Finden wir hier jemals wieder raus?“, murmelte sie leise und Mick drückte ihre Hand. Es tat gut, ihn an ihrer Seite zu wissen.

„Hier hinein.“ Jaime betrat einen großen, fensterlosen Raum, dessen Lampen bloß dämmriges Licht abgaben. Es war ein Büro, in dem ein riesiger Tisch stand, um den bereits einige Menschen saßen. Sie waren adrett gekleidet und hatten ernste Mienen. Alva und Mick zögerten an der Türschwelle.

„Ah, da sind Sie ja. Kommen Sie herein, setzen Sie sich!“ Am Kopf der Tafel war ein weißbärtiger Mann aufgestanden. Er trug einen dunkelblauen Anzug. „Mein Name ist Nathan Lee. Ich bin der gegenwärtige Leiter der Organisation.“

Alva und Mick tauschten einen langen Blick. Sie waren sich einig, dem Ganzen zu vertrauen, denn es schien die einzige Chance zu sein. Außerdem würden sie hoffentlich Antworten bekommen.

„Okay, Mr. Lee.“ Alva setzte sich und betrachtete den Leiter. „Warum sind wir hier?“

Er lächelte sanft und antwortete mit einer Gegenfrage. „Können Sie mir sagen, was Sie in der Redaktion gehört haben?“

Alva bemerkte das Ausweichen des Leiters, beließ es aber vorerst dabei. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche. „Ich kann es Ihnen vorspielen.“

Die anderen hatten gebannt gelauscht, während Alva die Tonaufnahme abspielen ließ. Das Ganze auditiv noch einmal zu erleben, versetzte sie in die alte Angst und ließ sie Frösteln. Mick nahm ihre Hand. Dankbar lächelte sie ihm zu, zwang sich dann jedoch Nathan Lee anzusehen.

„Mr. Lee, wer sind diese Leute? Und was ist mit Mr. Adamson passiert?“

Der Leiter erhob sich von seinem Stuhl und drehte sich zur nackten, grauen Wand hinter ihm um. Doch im nächsten Moment war die Wand verschwunden und ein zimmergroßes Fenster erschien an ihrer Stelle. Helles Mondlicht durchflutete den Raum und beschien Mr. Lees Gesicht, während er in die Nacht hinausstarrte.

„Es handelt sich um einen Clan, den wir schon öfter versucht haben zu zerschlagen“, durchbrach eine fremde Stimme die Stille. Eine Frau, die bei ihrer Ankunft bereits am Tisch gesessen hatte, ergriff das Wort. „Olivia Barns. Ich gehöre zum Spezialeinsatzkommando der Organisation und arbeite von der Zentrale aus an diesem Fall. Wir verfolgen den Clan seit einer halben Ewigkeit, ein Fall, den wir intern nur LF887 nennen. Die Menschen, die in der Redaktion gewesen sind, gehörten allem Anschein nach zu ihnen. Und auch die Entführung von Rowan Adamson sieht ganz nach ihrer Handschrift aus. Das versuchen wir aktuell zu ermitteln.“

„Wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen? Was können wir tun?“ Alle Blicke waren stumm auf Alva gerichtet. Sie blickte sie der Reihe nach an, unsicher, ob sie etwas Falsches gesagt hatte.

„Ihr könnt nichts tun. Überlass uns diese Angelegenheit.“ Mr. Lee klang endgültig.

Mick runzelte die Stirn. „Dann lassen Sie Alva und mich nach Hause gehen. Wenn Sie sich um alles kümmern.“

Kevin lachte bitter. „Ihr könnt nicht gehen.“ Alva und Mick tauschten erschrockene Blicke, während er ungerührt fortfuhr: „Seit ein paar Stunden habt ihr einen der gefährlichsten Clans des Landes auf den Fersen. Sie haben eure Namen durch die Redaktion, alle persönlichen Daten, Adressen. Glaubt ihr, wir lassen euch einfach raus, damit sie euch in die Finger kriegen? Das sind gefährliche Menschen, die nicht zögern, anderen Gewalt anzutun, um ihre Ziele zu erreichen.“

„Und was soll ihr Ziel sein?“ Alva spürte ein Stechen in der Schläfe. Das durfte doch alles nicht wahr sein!

„In diesem einen Fall ist es Vertuschung.“ Olivia Barns lehnte sich nachdenklich zurück. „Doch dahinter steckt noch mehr. Wir wissen nur noch nicht genau, was.“

Mr. Lee hatte sich inzwischen wieder vom Fenster abgewandt. „Sie beide sind ab sofort im Zeugenschutzprogramm. Für eine Weile werden Sie in unserer Zentrale verbleiben, um ihre neuen Identitäten kennen zu lernen. In ein paar Wochen leiten wir dann eine Eingliederung Ihrer neuen Identitäten in die Gesellschaft ein. Weit weg von dieser Stadt.“

Kapitel 4

Die ersten Tage in der Zentrale gingen wie in einen dunstigen Nebel gehüllt an Alva vorbei. Sie kam sich vor wie in einer Blase. Seit Mr. Lee ihnen eröffnet hatte, dass Sie nicht mehr in ihr altes Leben würden zurückkehren können, hatte sich eine Taubheit eingestellt. Anfangs kam Mick zu ihr, um zu fragen, wie es ihr ginge und ob er etwas tun könnte. Doch nach den ersten Tagen des Schweigens und der Reaktionslosigkeit gab er es auf und konzentrierte sich auf die Aufgaben, die die Organisation ihnen aufgetragen hatte.

Während Mick entgegen der ersten Anweisung von Mr. Lee, nämlich gar nichts zu tun, dabei aushalf, Papiere der Organisation zu sortieren, saß Alva Tag für Tag in ihrer Kammer und starrte an die leere Wand. Sie und Mick hatten vorübergehend Zimmer in der Zentrale bekommen, die sie bewohnten, bis das Zeugenschutzprogramm so weit vorangeschritten war, dass sie eine eigene Wohnung draußen bekamen. Das Zimmer war hell, jedoch karg eingerichtet mit Bett, Kommode und Schreibtisch. Auch ein kleines Badezimmer war vorhanden. Ein Fenster bot einen Blick in die grünen Baumkronen des Waldes. Ab und an flog ein Vogel vorbei. Doch zu hören war nichts, kein Vogelgezwitscher, keine Andeutungen von Zivilisation. Das Gebäude war sehr gut isoliert.

Am fünften Tag nach ihrer Ankunft im Gebäude der Zentrale klopfte es an der Tür. Alva, die wieder einmal Mick vermutete, reagierte nicht. Erst als sich die Tür öffnete und leise wieder schloss, fiel Alva etwas auf. Ihr stieg der Geruch eines Parfums in die Nase, das definitiv nicht Mick gehörte. Sie blickte zur Tür und erkannte einen der jungen Männer, die sie aus dem Restaurant begleitet und hierhergebracht hatten.

„Hallo Alva.“ Jaime setzte sich auf die Kante des Schreibtisches und sah sie lächelnd an. Er ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen und verweilte bei dem Tablett mit Essen auf der Kommode, das man ihr aufs Zimmer gebracht hatte. Alva hatte es nicht angerührt. „Du solltest etwas essen.“

Alva wandte sich ab und starrte wieder an die Wand. Sie hatte keinen Appetit. Natürlich war es nett, dass man ihr etwas brachte. Aber die ganze Geschichte war ihr sehr auf den Magen geschlagen.

Jaime atmete tief durch. „Mick hat nach dir gefragt. Er macht sich Sorgen.“

„Ich weiß.“ Alva zuckte. Ihre eigene Stimme erschien ihr fremd. Sie vermisste Mick, aber sie fühlte sich so schlecht, ihn in diese verzwickte Lage manövriert zu haben, dass sie es nicht über sich brachte, ihm unter die Augen zu treten. „Gibt es Neuigkeiten?“, fragte sie ausweichend und drehte sich etwas zu Jaime um, ohne ihn direkt anzusehen.

„Bisher nicht. Aber wir versuchen weiterhin alles im Blick zu behalten.“ Jaime machte eine Pause und schien sie eindringlich anzusehen. „Du könntest dabei helfen.“

Alva gab ein bitteres Lachen von sich. „Wie könnte ich denn helfen?“ Verzweifelt blickte sie Jaime in die Augen. Sie waren grün wie die Baumwipfel hinter dem Fenster. Sie schmunzelte leicht und konnte Jaime seine Verwirrung ansehen. Doch der fing sich gleich wieder.

„Du könntest Aufnahmen prüfen und möglicherweise die Personen aus der Redaktion identifizieren. Falls dich das nicht zu sehr belastet.“

Am liebsten hätte Alva Jaime rausgeworfen, die Tür verschlossen und sich für alle Ewigkeit in ihrer Kammer verkrochen. Sie wollte nicht daran denken, was geschehen ist. Was vielleicht mit Rowan Adamson geschehen sein könnte.

Als hätte Jaime ihre Gedanken gelesen, fügte er hinzu: „Wir müssen dringend herausfinden, was mit Adamson passiert ist und ihn finden. Er könnte in Lebensgefahr schweben, jeder Tag zählt. Und du bist die einzige, die die Täter identifizieren könnte.“

Seine Worte ließen die Blase, die sich in den letzten Tagen um sie herum gebildet und die sie durch ihre Isolation sorgsam gepflegt hatte, platzen und der Nebel schien zu weichen. Plötzlich waren ihre Gedanken wieder klar. Entschlossen richtete sie sich auf. „Zeig mir, wie ich helfen kann."

Jaime nickte lächelnd, sichtlich erfreut, dass er diese Wendung bei ihr bewirken konnte. Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, sprang Alva auf, drehte im Badezimmer den Wasserhahn auf und warf sich eine gute Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, um gänzlich wach zu werden. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihre Haare waren fettig und standen in alle Richtungen, ihre Haut wirkte merkwürdig fahl. Nur ihre Augen hatten ihr Leuchten wiedererlangt. Sie wollte helfen, denn sie war die einzige, die die Stimmen der beiden Personen in Mr. Winters Büro gehört hatte.

Für eine ausgiebige Körperpflege blieb keine Zeit, also sprang sie schnell unter die kalte Dusche und putzte die Zähne. Beim Herausgehen tropfte ihr nasses Haar auf den Boden. Sie langte nach dem Brötchen auf dem Tablett, das noch immer auf der Kommode stand und zog die Tür hinter sich zu.

Jaime erwartete sie im Flur. Alva bemerkte ein Zucken in seinem Mundwinkel, als sein Blick auf ihr nasses Haar fiel. Er sagte jedoch kein Wort und begleitete sie durch mehrere Flure bis hin zu einem Raum, aus dem Pieptöne und das surrende Rauschen mehrerer elektrischer Geräte zu hören waren.

Als Alva den Raum betrat stockte ihr der Atem. Der Raum war riesig und bestand aus Hunderten kleiner Bildschirme, die die Wände bedeckten. Als sie näher herantrat sah sie, dass diese eine Art Überwachungskameras sein dürften, die Personen und Gebäude im Visier hatten.

„Der Raum spricht wohl für sich“, murmelte Jaime hinter ihr. Er schien es vermeiden zu wollen, laut zu sprechen, um die sehr beschäftigt wirkenden Menschen nicht zu stören. Einige Männer und Frauen liefen mit Headsets und Notizblöcken oder Tablets bewaffnet umher oder saßen vor den Bildschirmen und beobachteten, was dort vor sich ging. Einige Meter vom Eingang entfernt saß Mick. Alvas Herz machte Luftsprünge. Erleichtert stellte sie fest, dass es Mick gut zu gehen schien und er sich früher darauf einlassen konnte, zu helfen.

„Mick“, flüsterte Alva und legte eine Hand auf Micks Schulter. Er schien sehr auf den Bildschirm vor sich konzentriert gewesen zu sein, denn er schreckte kurz hoch, ehe er seine Freundin erkannte und sie in die Arme schloss.

„Geht es dir besser?“, raunte Mick ihr zu, den Blick wieder fest auf die Bildschirme gerichtet.

„Ja. Jaime hat mich wachgerüttelt.“ Sie schenkte Jaime ein dankbares Lächeln. Jaime nickte ihr zu und bedeutete ihr, sich neben Mick zu setzen. Er ließ sich daneben nieder.

„Also. Wir haben verschiedene Personen auf dem Radar. Einige davon waren am besagten Tag im Restaurant, andere wurden um die Tatzeit herum in der Nähe der Redaktion gesichtet. Unsere verdeckten Ermittler haben Personen mit Knopfkameras aufgezeichnet und seitdem verfolgen wir alles, was wir zu sehen kriegen. Hier.“ Jaime wies auf einen der oberen Bildschirme. „Das zum Beispiel sind die beiden Frauen, die im Restaurant nach euch gefragt haben.“

„Ich würde sie optisch nicht wiedererkennen“, gab Alva zu Bedenken und ihr Hoffnungsschimmer verflüchtigte sich etwas. Sie betrachtete die beiden Frauen. Sie machten nicht den Anschein, böse Absichten zu haben. Ihr Auftreten schien friedlich und sympathisch.

Im nächsten Moment hielt Jaime ihr ein Headset unter die Nase. „Wie gut, dass wir Tonaufnahmen haben. Du bist ab jetzt unser Ohr.“ Alva nahm das Headset und setzte es sich auf. Sogleich vernahm sie die zahllosen Stimmen im Restaurant. Die Schwierigkeit bestand wohl darin, die richtigen Stimmen herauszufiltern. Jaime tippte Alva nochmals auf die Schulter, hob das Headset an und zeigte ihr, wie sie die Videos weiterspulte oder von einer Aufnahme zur nächsten springen konnte.

Die nächsten Stunden verbrachte Alva damit, auf die Bildschirme zu starren, die Ohren zu spitzen und jedes noch so bekannte Stimmgeräusch und andere Auffälligkeiten zu notieren.

 

An diesem Tag nahm Alva zum ersten Mal am gemeinsamen Abendessen in der Kantine teil. Der Raum war so voll, dass Alva sich fragte, wie viele von diesen Beobachtungsräumen es wohl geben mochte – oder an was die anderen Menschen hier arbeiteten.

„Schön, dass du wieder unter uns weilst.“ Mick gab Alva einen liebevollen Knuff gegen den Arm. Alva musste gegen ihren Willen grinsen. „Jaime hat anscheinen einen positiven Einfluss auf dich.“

„Ja, scheint so. Ich glaube, er ist so ein Typ, der generell gut mit Menschen umgehen kann. Ein klassischer Sympathieträger.“

„Scheint so.“ Mick hob vielsagend die Augenbrauen, was ihr einen Knuff von Alva einbrachte.

„Lass das“, erwiderte sie lachend.

„Ah, wie ich sehe haben Sie Ihr Quartier verlassen.“ Es war Mr. Lee, der Leiter der Organisation. Ein paar Leute an den Tischen um sie herum nickten ihm zu, einige standen auf, als wollten sie ihm dadurch ihren Respekt demonstrieren.

„Ja das habe ich.“ Alva lächelte leicht. Mr. Lee ließ sich nur schwerlich einschätzen. Er schien einer der guten zu sein, doch irgendetwas hatte er an sich, das Alva nicht wirklich leiden konnte. Möglicherweise lag das aber auch einfach an den Umständen und der Angst, nach allem was vorgefallen ist, überhaupt jemandem Vertrauen zu schenken. „Haben Sie Neuigkeiten?“

Mr. Lee setzte sich ihnen gegenüber an den Tisch und stellte seinen Kaffee vor sich ab. „Nicht besonders viel. Wir haben den Personenkreis näher eingrenzen können und einige zusätzliche Gesichter auf dem Radar. Aber das dürften Sie sicher schon erfahren haben.“ Er warf Mick einen vielsagenden Blick zu, der etwas eingeschüchtert nickte. „Außerdem“, fuhr er fort, „haben wir Adamsons Büro durchsuchen lassen, um weitere Hinweise aufzuspüren.“

Bei diesen Worten spürte Alva, wie ihr Hitze ins Gesicht stieg. Mr. Lee sah sie an und schien geradewegs in ihren Kopf blicken zu können. Es war unheimlich. Sie wagte jedoch nicht, etwas dazu zu sagen.

„Nun denn, wir arbeiten daran. Ich freue mich, Sie beide in unserem Team zu wissen, um die Täter aufzuspüren.“ Mit diesen Worten erhob er sich und schritt aus der Kantine.

Einige Minuten später beugte sich Mick zu Alva herüber. „Warum warst du plötzlich so still?“

„Ich muss dir was beichten… Möglicherweise habe ich einige Hinweise vom Tatort entfernt, um sie vor den Tätern zu verstecken.“

Mick machte große Augen. „Aber das musst du ihnen doch erzählen! Das könnten wichtige Informationen sein, die du keinesfalls unterschlagen darfst. Adamsons Leben hängt davon ab!“

„Ich weiß.“ Alva atmete tief durch und beugte sich näher an Micks Ohr. „Aber ich traue ihm nicht.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.10.2020

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /