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Ocean Hope - Vom Winde verweht

Vater. Dass es überhaupt richtig sein könnte, dich mit diesem Begriff in Verbindung zu bringen, kommt mir schier unmöglich vor. Du bist kein Vater. Du bist einfach nur ein Lügner, ein betrügender, widerlicher, alkoholabhängiger Bastard, der das Sorgerecht für sein einziges Kind nur gekriegt hat, weil meine geliebte Mutter gestorben ist.

 

Am liebsten würde ich dich wegsperren lassen. Wer weiß, vielleicht werde ich das in die Wege leiten. Es wäre das Beste für alle Beteiligten. Doch leider geht das nicht so einfach. Leider, es brennt mir im Herzen, dass es nicht möglich ist. Nichts würde ich lieber missen als dich. Ich hasse dich.

 

Aus dem Tagebuch der Ocean Hope Johnson

 

 

 

 

 

 

 

 

Samstag, 25.April

Liebe Mom,

 

heute hat Fog mich draußen am Strand aufgesucht. Eigentlich war ich dort, um gar nicht erst mit ihm sprechen zu müssen. Hat leider nicht so gut geklappt. Aber wer kann so was schon vorhersehen. Also ich zumindest nicht.

 

Ein leises Rascheln und Rauschen zog über den leeren Strand. Die kühle, salzige Brise durchwirbelte mein Haar und ließ es weich und harmonisch aufflattern. Ganz im Gegensatz zu dem hitzigen Gespräch, das gleich darauf die atemberaubende, entspannte Stille brechen sollte.

 

„Ich kriege die Schulden vom Haus nicht mehr abbezahlt“, hatte Fog gesagt und scharrte nur nervös mit dem Fuß auf dem Boden. Dann kickte er einen kleinen Stein weg. Sein Tonfall ließ meine Wut neu aufbrodeln. Ich war richtig sauer. „Aber du tust auch nichts dagegen“, hatte ich darauf gereizt geantwortet und einen flachen Stein ins Meer geworfen, sodass er fünfmal über die Wasseroberfläche hüpfte. Wundervoll. Die Schönheit von Wasser in Bewegung verzauberte mich immer wieder aufs Neue. Dennoch konnte es dieses Mal meinen Ärger nicht mindern. „Wenn du wenigstens arbeiten würdest“, warf ich ihm vor. Ich wusste, was jetzt kam. Der übliche Spruch.

 

„Du weißt genau, dass das Diner so gut wie pleite ist.“ Doch ich wollte und konnte es einfach nicht mehr hören. „Weil ein armseliger Säufer es in den Ruin getrieben hat!“ Ich dachte, gleich würde er die Beherrschung verlieren. Wie immer, wenn man ihm einen Vorwurf machte. Vorsicht war geboten. Automatisch spannte mein Körper sich an und ich verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust, senkte den Kopf und tat so, als würde ich bloß meine nackten Füße im noch kühlen Sand betrachten.

 

Sein Mund verzog sich. Doch er tat nichts. Ich war schlicht und einfach verwirrt. Da ich nicht genau wusste, was ich tun sollte, hielt ich es für das Beste, noch ein wenig Salz in die Wunde zu streuen und meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. „Allmählich glaube ich wirklich, dass Mom krank wurde, weil sie dich und deine Sauferei nicht mehr ertragen konnte.“ Es tat weh auch nur darüber nachzudenken. Über dich nachzudenken. Mein Herz schmerzt vor Trauer, jedes Mal. Ich erwartete, dass mein Vater ausrasten würde. Vielleicht war er betrunken genug, dass er nicht mehr so klar sah und mich nicht die volle Wucht des Schlages traf. Doch ich hatte mich in ihm verschätzt. Während ich mich innerlich auf eine saftige Tracht Prügel vorbereitete, wurde ich von einer völlig neuen Reaktion überrollt. Ich brachte mich aus der Rolle. Vorsichtig betrachtete ich ihn. Doch er sagte nichts. Er schwieg. Er schwieg und sah aufs Meer hinaus.

 

Ich hatte ihn noch nie in meinem Leben so verletzt gesehen.

Montag, 27.April, gleich nach dem Aufstehen

Mom, ein Tag ist schlimmer als der andere. Zum Glück ist heute endlich wieder Schule.

Montag, 27.April

Die Kinder im Bus waren wie immer laut und ungestüm. Genervt stopfte ich mir die Ohrstöpsel meines MP3-Players in die Ohren, um ein wenig abzuschalten zu können. Dann ließ ich die bunte Landschaft an mir vorbeiziehen. Es war zwar immer dieselbe, doch ich war fasziniert von der stets gleich bleibenden Ebene, die sich mir Tag für Tag auftat. Erst sah man nur das Meer. Dann kamen einige Felder und schließlich ein kurzes Stück Laubwald. Aber warum erzähl ich dir das. Du kennst den Weg, Mom. Du bist ihn schließlich früher jahrelang selbst mit dem Bus abgefahren. Ich vermisse deine Erzählungen davon. Ich vermisse dich.

 

Der heutige Schultag war ein Tag wie jeder andere. Wie sollte es auch anders sein. Doch es war ein hervorragender Ausgleich zum Drama daheim. Ich hasste es, in Fogs Nähe zu sein. Daher mag ich die Schule umso mehr und genieße es, natürlich im genauen Gegensatz zu meinen faulen und überaus genervten Mitschülern, die langen, achtstündigen Tage, die sich hinzogen wie Kaugummi. Dann muss ich nur noch nachmittags meine Hausaufgaben machen, und zwar ganz bewusst langsam, und das Abendessen in mich hineinzwingen, um dann mit irgendeiner Ausrede flugs ins Bett zu verschwinden. So natürlich auch heute. Es war nie anders. Nacht.

Dienstag, 28.April

Mom, heute ist etwas Sagenhaftes passiert!

 

Der nächste Schultag stand an. Ich dachte, es würde sein wie immer. Doch auf radikale Art und Weise wurde mir klar gemacht, dass dieser Tag ganz und gar nicht werden würde wie jeder andere.

 

Alles begann mit einem normalen Start in den schulischen Alltag. Doch mitten in einer super langweiligen Chemiestunde, stürzte plötzlich die Schulsekretärin in den Raum. Vierundzwanzig schutzbrillenbesetzte Augenpaare starrten sie stumm an und warteten darauf, was sie uns zu sagen hatte. Ich ignorierte sie vorerst, weil ich nicht erwartete, dass es mich betraf. Als sie jedoch anfing, betroffen vor sich hin zu stottern und sich dauernd verhaspelte, schaute ich doch ein wenig neugierig auf. Sie wirkte wirklich stark mitgenommen. „Ocean Hope Johnson?“ Als ich meinen Namen hörte, bekam ich einen Kloß im Hals. „Bitte folgen Sie mir ins Büro des Rektors. Sofort.“ Trotz der Wortwahl klang es keineswegs garstig oder vorurteilsvoll. Nein, vielmehr traurig.

 

Verunsichert stand ich auf und folgte der Sekretärin hinaus. Vor dem Büro des Rektors legte sie behutsam eine Hand auf meine Schulter. „Es tut mir Leid.“ Schon war sie verschwunden. ‚Ist jemand gestorben oder warum diese Trauermiene?’, dachte ich bloß und trat nach kurzem Klopfen ein. Der Rektor telefonierte angeregt. Nach reichlichem Gestikulieren legte er schließlich auf und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. „Ocean. Da bist du ja.“ Er hatte einen Schluckauf bekommen. Das war so ulkig, das ich kichern musste, doch als ich seinen Gesichtsausdruck bemerkte, verstummte ich prompt. Es schien mir doch ernster zu sein. Auf seine Geste hin setzte ich mich auf den nächstgelegenen Stuhl vor dem Schreibtisch. Er sah mich lange an, bevor er mit der Nachricht herausrückte.

 

„Ocean, was ich dir jetzt erzähle, wird dir nicht gefallen. Mehr noch, es wird dich mit unendlicher Trauer erfüllen. Vielleicht wirst du auch erst einmal Wut verspüren, aber danach womöglich nichts als pure Verzweiflung. Und du sollst wissen, dass du hier immer jemanden hast, mit dem du Reden kannst und der dir hilft.“ Nach einer kurzen Kunstpause, wohl um mich alles noch einmal durchdenken zu lassen, als auch um Luft zu holen, sprach er es endlich aus. „Ocean, dein Vater ist eingezogen worden. Er musste heute Vormittag in den Irak aufbrechen.“

 

Kurz und schmerzlos. Ja, schmerzlos war genau das richtige Wort. Ich fühlte mich taub, fühlte nichts, dachte nichts. Erst nach einer ganzen Weile registrierte ich, was der Rektor mir gerade eben vermittelt hatte. Er war fort.

 

Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr verschwand das taube Gefühl aus meinem Körper. Tatsächlich, insgeheim freute ich mich ein wenig. Klar, für Fog würde es eine schreckliche Zeit werden. Aber wer weiß, vielleicht wurde er dann wieder trocken. Und das Leben könnte um einiges besser werden. Ein kleiner aber feiner, ferner Lichtblick. Und ich Idiotin beschwerte mich über Alltagstrott. Was hätte mir besseres passieren können?

 

Kaum war ich zuhause, hatte ich erst einmal alle Türen und Fenster des Strandhauses geöffnet, das von nun an mir allein gehören würde. Ich erspürte den Duft der Freiheit. Es war toll. Mein nächster Schritt war unheimlich wichtig für mich. Vorsichtig öffnete ich Fogs Giftkammer. Es stank widerlich nach Alkohol. Überall standen angebrochene und auch jede Menge ungeöffnete Flaschen hochprozentigen Stoffs. Ich wusste genau, was das Zeug Fog bedeutete. Aber so sehr er es brauchte, so sehr hasste ich es. All die Jahre lang hatte ich es gehasst. Ob du es glaubst, oder nicht, Mom. Es wurde noch viel schlimmer nachdem du von uns gegangen bist. Er war nie nüchtern.

 

Ich tat die für mich einzig richtige Entscheidung. Knapp packte ich die ersten Flaschen vor mir aus der Kammer, kämpfte die Deckel ab und kippte das Teufelszeug in den Ausguss. Alle Flaschen und jeder auffindbare kleinste Tropfen musste dran glauben.

 

Als es geschafft war, fühlte ich mich tausendmal besser und ungeheim befreit.

Samstag, 2.Mai

Mom, es könnte nicht besser sein.

 

Eigentlich ein tolles Leben. Wenn man einigermaßen kochen konnte, einen Job hatte und sich ein klein wenig mit der gröbsten Hausarbeit auskannte, war so ein einsames Leben in einem wunderschönen kleine Strandhaus gar nicht so übel. Mehr noch, ich liebe es. Und seit Fog weg ist, lade ich auch gern mal Freunde ein. Das habe ich mich früher nie getraut, weil ich mich für ihn geschämt hatte. Jetzt muss ich aber los, ich treffe mich mit Curtis in der Stadt! Bis später, ich schreibe dir.

Mittwoch, 6.Mai

Es ist so ruhig… Fog hatte nie viel Lärm gemacht. Aber jede Sekunde wartete ich auf das leise Klirren eines Glases, das kaum wahrnehmbare Plätschern des Alkohols, wenn es aus der Flasche umgefüllt wird oder direkt die Speiseröhre hinunterwandert. Wenigstens ein Schlurfen des faulen, trägen Fog. Ein Husten. Nichts.

Freitag, 8.Mai

Mom, ich fühle nichts… nur Verwirrung.
Ich bin nicht imstande, dir mehr zu schreiben zurzeit. Ich kann nicht klar denken.

Sonntag, 10.Mai

Mom? Mom, bitte komm zu mir zurück. Ich fühle mich so allein. Und ich bin traurig, unheimlich traurig. Ich vermisse dich so sehr.

Dienstag, 12.Mai

Habe heute einen Brief von der Schule gekriegt. Sie wollen mir einen Psychiater aufdrücken, weil ich so in mich gekehrt bin seit kurz nach Fogs Rekrutierung. Und den Unterricht geschwänzt habe, weil ich niemanden sehen wollte. Kein Lachen. Keine Gesichter. Keine Menschen, die ihre Mom noch haben.

 

Die haben alle keine Ahnung. Ich brauche sie nicht. Ich brauche nur dich.

Freitag, 29.Mai

Ich weiß, ich habe dir lang nicht mehr geschrieben. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.

Montag, 8.Juni

Curtis und seine Mom haben sich Sorgen gemacht. Seine Mom ist Psychiaterin. Sie hat mit mir geredet. Ich habe nicht viel davon mitbekommen, ich fühlte mich etwas benebelt. Aber ich erfuhr von ihr, dass es mir so schlecht geht, weil etwas in meinem Leben noch nicht geklärt ist. Irgendeine Sache, die mich beschäftigt, Sie fragte mich, was das sein könnte. Ich wusste es nicht. Ich weiß es noch immer nicht.

Mittwoch, 10.Juni

Mir ist gestern Nacht etwas eingefallen. Erst war es nur ein kleiner Funken, dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Der Brief. Ich hatte Fog einen Brief geschrieben. Ich hatte ihm gesagt, wie sehr ich in hasste. Und als ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass ich ihn nicht hasste. Nein, ich hatte ihn gern. Er hatte nur ein schweres Leben.

 

Seit dem tödlich verlaufenen Unfall seiner Schwester Maureen, davon weißt du ja, trank er ab und an ein wenig mehr. Einige Abende in der Woche, einfach um die trauernden Gedanken beiseite zu schieben. Er war immer so stark gewesen. Bevor das Schicksal ihm einen solch schweren Schlag verpasst hatte. Das Diner, das er dir damals geschenkt hatte zu eurer Hochzeit, machte rote Zahlen. Weil er die Kunden vergraulte, wenn er angetrunken war oder vor Trauer nur stumm vor sich hin starrte. Und schließlich wurdest du krank, Mom. Er war überfordert. Ich kümmerte mich um dich, und ich hasste ihn dafür, dass er es nicht tat. Ich verstand damals nur nicht, warum. Ich konnte Zeichen seines Kummers nicht zusammenzählen. Nicht begreifen, dass es ihm zu schlecht ging, dass er nicht einmal auf sich selbst achten könnte, geschweige denn auf jemand anderen.

 

Nach deinem Tod war er zu überhaupt nichts mehr zu gebrauchen. Er war ständig betrunken, der Zustand des Diners verschlimmerte und verschlimmerte sich.

 

Und ich hatte nichts Besseres zu tun, als ihm aus dem Weg zu gehen, ihm meinen Hass zu zeigen und alle Vorwürfe der Welt zu machen. Ich hatte ihn sogar für deinen Tod verantwortlich gemacht. Ich hasse mich selbst dafür, ich war so ein schlechter Mensch.

Donnerstag, 11.Juni

 Ich habe eine Entscheidung getroffen. Ich durchsuchte das ganze Strandhaus nach diesem einzigen, wertvollen Stück Papier. Als ich es endlich fand, rannen bereits die Tränen mein Gesicht hinunter. Ich konnte nichts dagegen tun, wollte mich aber auch nicht wehren. Weinen tut der Seele gut, hatte ich mal gehört.

Freitag, 12.Juni

Draußen war es frisch. Wir haben Sommer, doch ich hatte die Nacht nicht schlafen. Die Temperatur störte mich wenig. Was mich störte, war das kleine, knittrige weiße Blatt in meiner linken Faust.

Ich breitete es aus und las die Zeilen noch einmal. Immer und immer wieder. Dann hob ich meinen Blick hinauf aufs Meer.

Ich liebte das Meer. Es war so wunderschön. Schon immer hatte mich das unendliche Farbspektrum des Wassers fasziniert, die untergehende Sonne, die über dem glitzernden Meeresspiegel funkelte wie tausend Sterne. Das Rauschen der Wellen. Die Ruhe, der leichte Geruch nach Algen und Salz. Das raue Kribbeln des warmen Sandes zwischen meinen Zehen.

 

Ich dachte nicht nach, als mein Körper ganz mechanisch agierte. Das Feuerzeug, das meine Hand aus der Hosentasche zauberte. Das leise Klicken, die surrende, kleine Flamme, die aus der silbernen Metallbüchse züngelte, das alles nahm ich kaum war. Dann führte mein fremd gesteuertes Ich das Papier zur Flamme, bis sich große braune Flecken darauf bildeten und die ersten Löcher hinein brannten. Knapp bevor das Feuer meine Hand erreichen konnte, warf ich es fort in den Wind der aufgehenden Sonne.

 

Jetzt sitze ich hier an Fogs ewig ungenutzten Schreibtisch und schreibe dir. Und dann habe ich noch ein weiteres unbeschriftetes Blatt vor mir. Es ist endgültig Zeit für einen angemessenen Abschied.

 

 

Vater. Solch ein wertvoller Begriff, der mir immer unheimlich viel bedeutet hat. Lange habe ich ihn dir nur nicht zuordnen können. Es gab eine Zeit, da habe ich dich vom ganzen Herzen gehasst. Ich hatte gedacht, ich hätte die richtigen Gründe dafür, doch ich verstand nichts.

In meiner jugendlichen Naivität habe ich deine Rekrutierung für eine positive Wendung in meinem Leben gehalten. Mittlerweile weiß ich nicht einmal mehr, wie ich es damals mit meinem Gewissen vereinbaren konnte. Ich war einfach grausam. Und das tut mir aufrichtig Leid.

Auch wenn du diese Zeilen jetzt nicht lesen kannst und es vielleicht auch nie können wirst, so will ich dir sagen, dass ich dich liebe. Daddy, ich wünschte, du wärst wieder hier. Wir könnten gemeinsam gegen dein Problem angehen, ich könnte dir dabei helfen. Vielleicht auch Curtis’ Mom. Oh, wenn ich nur die Zeit zurückdrehen könnte. Ich vermisse dich.

 

 

In Liebe,

Deine Tochter Ocean Hope

Nachwort

 

 

 

 

 

 

 

Alle Charaktere in diesem Buch sind frei erfunden.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

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