Cover

Ganz und gar nicht sattelfest




Die Macht zu Fliegen, ohne Schwingen
haben ganz allein die Pferde

Ich hasse Neonlicht. Es war absolut menschenverachtend, jemanden in einem Raum wie diesem, der in eine solche Abartigkeit wie Neonlicht getränkt war und aus nichts als kahlen Wänden und einem Stuhl aus zerkratztem Plastik bestand, festzuhalten. Aber das war denen vermutlich egal. Jugendliche Straftäter verdienten nichts Besseres.
Prüfend betrachtete ich durch die Gitterstäbe hindurch den Polizisten, der mich bewachen sollte. Er saß auf einem bequem aussehenden Sessel, die Füße auf den Tisch gelegt und eine Tasse dampfenden Kaffee in der Hand, der die Luft aromatisierte. Er beachtete mich gar nicht.
Kopfschüttelnd lehnte ich mich an die Wand aus grauem Putz.
Wenig später wurde die Tür aufgeschlossen. Mein Vater betrat die Zelle. Sein Blick sagte mehr als tausend Worte. Er war fuchsteufelswild. Wenn nicht die ganzen Polizisten um uns herum gestanden hätten, wäre er längst auf mich zugestürmt und hätte mich grün und blau geschlagen – wie sonst, wenn ich etwas ausgefressen hatte. Stattdessen bemühte er sich, das wütende Beben in seiner Stimme zu unterdrücken. „Das war’s Livia. Ich hab es endgültig satt.“ Er sah auf mich hinab als wäre ich Abschaum, nicht sein eigen Fleisch und Blut.
Ich hasste meinen Vater von ganzem Herzen. Er war ein brutaler Kerl, ein Trinker und Schläger. Und ich glaubte schon lange nicht mehr an Wunder. Als ob sich je etwas ändern würde. Ich wusste schon längst, was mein Urteil war. Mir wurde schon seit Jahren mit Arrest im Erziehungscamp gedroht. Und das schien mir im Gegensatz zu meinem bisherigen Leben immer wie der Himmel auf Erden.
Jetzt stand ich hier also. Einsam und verlassen, mitten in der Wildnis. Meine Mutter hatte mich mit dem Auto bis zu einem Schild gefahren, das mit „Camp De Caap“ betitelt war und ließ mich ohne Worte allein zurück. Mein Vater hatte seine Drohung wahr gemacht. Im Gegensatz zu ihm war sie aber nicht wütend. Sie war bitter enttäuscht von mir. Es war mir egal.
Ich war weit weg von zu Hause. Es war eine lange Reise, dennoch verspürte ich trotz der herrlichen Entfernung zu meinem Vater keinerlei Freude. Es war eher pure Abneigung, die mich vor dem Schild verharren ließ. Ich könnte weglaufen, noch hatte ich die Chance. Aber sie würden mich eh wieder holen kommen. Es gab keinen Ausweg. Also gab ich mich meinem Urteil hin und blieb, wo ich war.
Ich musste gar nicht lange warten, bis ich das Auto sah, das auf mich zugerast kam. Es war ein rostiger Pick-up, der seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte. Eine Frau mittleren Alters sprang aus der Fahrerkabine. „Livia Walters?“
Ich nickte und schulterte meine Sporttasche, in die ich zu Hause noch schnell mein wichtigstes Zeug gepackt hatte. Erinnerungen - natürlich nicht die an meinen Vater.
Das Camp war nicht so himmlisch, wie ich es mir ausgemalt hatte. Als wir nach einer sehr kurzen, aber rasend schnellen Fahrt ankamen, traute ich meinen Augen kaum. Es war eigentlich… nichts. Dieses so genannte Camp bestand nämlich nur aus einer Feuerstelle, einem Haufen achtlos durcheinander geworfener Schlafsäcke und einer kleinen, schlampig zusammengebauten Hütte aus Holz. Entsetzt betrachtete ich das Häufchen Elend vor mir.
„Willkommen in deinem neuen zu Hause!“ Die Frau war ebenfalls ausgestiegen und stand breit grinsend neben mir. Ich schüttelte nur den Kopf, unfähig ein Wort herauszubringen. „Ich bin Mirjam. Wenn du irgendein Problem hast, kannst du immer zu mir kommen.“ Ich hatte ein Problem. Und was für eins!
Doch Mirjam beachtete meinen skeptischen Blick gar nicht. „Komm mit.“ Nur mit Mühe konnte ich ihren raschen Schritten folgen. Sie visierte ein Gebäude an, ein altes Bauernhaus, das man vom Camp aus nur schwer durch die dichten Bäume hindurch sehen konnte. „Das ist das Haupthaus“, erklärte sie mir, ohne stehen zu bleiben. „Aber.“ Sie zögerte und drehte sich um. „Das ist tabu.“
Verständnislos starrte ich sie an. Im Ernst jetzt? „Und… wo soll ich dann schlafen?“ Mirjam deutete auf die Lichtung, von der wir gekommen waren. Mir fiel vor Schreck die Kinnlade herunter. Doch Mirjam winkte lächelnd ab. „Keine Sorge, du wirst dich schnell daran gewöhnen.“ Sicherlich, dachte ich grimmig.
Die erste Zeit im Camp war der absolute Horror. Nicht nur, dass die Leiter voll verquere Arbeitszeiten eingerichtet hatten – der Arbeitstag begann zu Sonnenaufgang und endete weit nach Sonnenuntergang – die anderen Kids wollten mich auch definitiv fertig machen. Ich passte ihnen nicht in den Kram mit meinen lila Strähnen im zotteligen Haar, den Piercings und den zusammengeklauten Lederklamotten. Obwohl keiner von ihnen auch nur ein einziges Wort sagte, sprachen ihre Blicke Bände.
Am ersten Tag war Mirjam mit mir im Haupthaus den ganzen Papierkram durchgegangen. Dort waren meine Daten verzeichnet, ein Formular von der Polizei und die abzuarbeitende Frist im Camp – die nur bei guter Führung zählte, wohlgemerkt. Fünf Wochen waren eine lange Zeit – aber nicht unmöglich durchzuhalten. Wobei der mir verweigerte Kontakt zu meinen Freunden daheim mich ein wenig weiter herunterzog.
In der ersten Nacht schlief ich sehr schlecht. Die Kids aus dem Camp suchten mich in meinen Träumen heim. Meine Freunde, die mir eigentlich helfen müssten, wandten sich von mir ab. „Du bist Schuld“, hörte ich sie immer wieder sagen, ohne dass sie den Mund bewegten. Irgendwann tauchte auch Mirjam auf. Sie trug ein rosa Ballkleid und tanzte lachend an mir vorbei. „Niemand mag dich. Niemand.“ Und dann war da mein Vater. Es war ganz dunkel um mich herum, doch sein verzerrtes Gesicht war hell erleuchtet. Er kam auf mich zu, die geballte Faust erhoben. Als er zuschlagen wollte fing ich an zu schreien.
Völlig nass geschwitzt erwachte ich. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Langsam ein- und ausatmend versuchte ich mich zu beruhigen. Es war doch nur ein Traum. Seufzend rappelte ich mich aus meinem Schlafsack und warf einen Blick auf die Lichtung. Alle anderen schliefen noch tief und fest. Ich beschloss, eine Runde spazieren zu gehen.
Die Luft um mich herum fühlte sich angenehm kühl an. Frischer Tau belegte die Blätter und Gräser. Während ich in Richtung Haupthaus schlenderte, bemerkte ich ein Rascheln zu meiner Linken. Überrascht ging ich auf das Geräusch zu. Als ich ein paar Zweige zur Seite schob, eröffnete sich mir freie Sicht auf eine weitere Lichtung.
Es war eine große, saftig grüne Wiese. In einiger Entfernung graste ein Pferd, einsam aber friedlich. Die warme Frühlingssonne schien herab und ließ den glatten, grauen Rücken des Tieres hell aufschimmern. Ich lehnte noch eine ganze Weile am Holzzaun und betrachtete das Pferd schweigend. Es war wunderschön, so graziös. Ein kleines weißes Abzeichen schmückte seine Stirn.
Früher hatte ich immer davon geträumt, Reitstunden nehmen zu können. Als kleines Kind durfte ich ein einziges Mal auf einem sitzen und war vollauf begeistert davon, dass ich von da an von nichts anderes mehr redete. Irgendwie kam es mit der Zeit jedoch dazu, dass ich meine Liebe zu Pferden ablegte. Es war mittlerweile schon so lange her, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, wie es geschah.
In meinen Träumereien versunken bemerkte ich nicht, dass ich beobachtet wurde. „Sie ist schön, nicht?“ Ich erschrak und wirbelte herum. Neben mir stand ein Junge. Nachdem ich mich erholt hatte, erinnerte ich mich an seine Frage und nickte vorsichtig. Er lächelte. „Du bist neu hier“, stellte er fest und musterte mich eingehend.
Wie er es sagte, klang es keineswegs abwertend. Dennoch schien er mehr zu wissen als ich. „Und wer bist du? Ich habe dich im Camp noch nie gesehen.“ Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die oberste Latte des Zauns und versenkte die Hände in den Taschen meiner Lederjacke.
„Das liegt daran, dass ich nicht im Camp lebe.“ Fragend hob ich eine Augenbraue, um ihm zu signalisieren, dass ich nicht ganz verstand. „Ich bin Mirjams Sohn. Mitchell.“ Er hielt mir die Hand hin. Stumm sah ich ihn an und ignorierte die Hand. Mirjams Sohn? Sie hatte ihn gar nicht erwähnt. Warum hätte sie das auch tun sollen?, ermahnte ich mich selbst. Hm, vielleicht, weil er einfach blendend aussah! Ich schmolz dahin, bis Mitchell mich wachrüttelte. Er fuchtelte mit der flachen Hand vor meinem Gesicht herum. „Hallo? Alles okay?“
Ich wurde rot und drehte mich weg, um zum Camp zurückzugehen, als er mich am Handgelenk packte und davon abhielt. „Warte. Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie du heißt.“ „Livia“, gab ich knapp zurück, riss mich los und lief in den Wald hinein.
Wie peinlich. Ich schämte mich, dass ich in dieser Situation einfach keinen kühlen Kopf behalten konnte. Zuhause wäre das niemals passiert. Da hätte ich den Mund aufgemacht und schlagfertig wie immer geantwortet. Doch irgendwas hatte Mitchell an sich, das ich nicht klar definieren konnte. War es dieses wundervolle Grübchen-Lächeln, das ihn so liebreizend aussehen ließ? Oder einfach pure Sympathie, die einen jeden Menschen im ersten Augenblick verzauberte?
Kurz vor der Lagerfeuerstelle wurde ich bereits erwartet. Einige Kids hatten sich mir in den Weg gestellt und bedrohlich aufgebaut. Ein rothaariges Mädchen, das neben einem platinblonden Jungen an der Spitze der kleinen Gruppe stand, starrte mich grimmig an. „Ist was?“, knurrte ich und wollte mich an ihnen vorbeidrängen. Der Blonde gab mir einen Schubs, der mich kurz verharren ließ. Ich blickte zu Boden. „Wir wollten dich bloß begrüßen“, sagte er mit einem fiesen Grinsen. „Neue.“
Verärgert blickte ich hoch. Sie wollten mich provozieren, doch das schafften sie nicht. Soweit konnte ich mich kontrollieren. „Ich komme gut allein zurecht, Alter“, konterte ich, schenkte ihm ein triumphierendes Grinsen und ging in einem großen Bogen um die Kids herum. Einige riefen mir Schimpfworte hinterher, doch ich schaltete ab. Nichts würde mich so aus dem Konzept bringen, wie Mitchell es getan hatte.
Als die Abenddämmerung einsetzte, war ich von der Arbeit bereits völlig geschafft. Mirjam hatte mich dazu eingeteilt, im Wald Bäume zu fällen und Holz zum Verbrennen klein zu hacken. Sehr zu meinem Bedauern musste ich diese Arbeit zusammen mit Sascha verrichten, dem platinblonden Jungen, der mich am Morgen so blöd angemacht hatte.
Mir war auch noch gar nicht aufgefallen, dass er von der Schulter bis zu den Unterarmen tätowiert war, außerdem waren seine Haare in jedem Fall gefärbt. Wieso wurde er akzeptiert, ich aber nicht? In gewissem Sinne sah ich schließlich genauso aus wie er. Sascha schien zu bemerken, dass ich ihn ansah. „Was?“, zischte er und schien mich mit seinem Blick töten zu wollen. Ich musste mir ein Lachen verkneifen, wandte mich aber ab und setzte meine Arbeit fort.
Später war unsere Schicht vorbei. Aus dem Haupthaus ertönte ein Gong, der das Abendessen ankündigte, das nun im Camp bereit stehen sollte. Ich beeilte mich, zurück zur Feuerstelle zu kommen. Mein Magen knurrte wie verrückt. Doch als ich ankam, fand ich keinen Teller vor, der mit meinem Namen betitelt war. Überrascht ging ich jeden einzelnen Teller noch einmal durch, mit dem Gedanken, meinen übersehen zu haben. Doch es war keiner da.
Genervt raufte ich mir die Haare. Ich warf einen Blick auf eine Gruppe Mädchen, die eng beieinander hockten und kicherten. Sascha saß nur einige Meter mit einigen Jungs daneben und grinste überheblich zu mir rüber.
Wütend stapfte ich rüber und baute mich vor ihm auf. „Gib es her.“ „Was meinst du, Kleine?“ Ich lachte über seinen Kommentar. Mich Kleine zu nennen war ein großer Fehler. Ich holte aus und schlug ihm mitten ins Gesicht. Er verlor das Gleichgewicht und knallte rückwärts von dem Baumstamm herunter, auf dem er gesessen hatte. Es war mucksmäuschenstill. Die anderen Kids im Camp starrten uns an. Manche wirkten verwirrt, andere waren zutiefst schockiert oder gar erbost.
Ich entdeckte meinen unberührten Teller Spaghetti Bolognese hinter dem Baumstamm, auf den Sascha sich gerade langsam wieder aufzurappeln versuchte, angelte danach und verzog mich in meine Ecke am anderen Ende des Lagerfeuers. Die Flammen loderten hoch, dennoch konnte ich Saschas vor Wut verzogenes Gesicht dahinter deutlich erkennen.
Am nächsten Morgen hörte ich den Gong nicht. Als ich erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel und das Camp war absolut still und wie leer gefegt. Meine Ohren taten weh und als ich nervös drüberstreifte, fiel es mir auf. Irgendwer hatte mir Stöpsel in die Ohren gesteckt! Sicher dieser Vollidiot Sascha. Fluchend zog ich mich an und raste in Richtung Wald. Ich war sehr spät dran. Auf halbem Wege kam mir Mirjam entgegen. Seufzend trat ich vor sie. „Es tut mir wirklich Leid, ich hab den Gong nicht gehört. Sascha…“ Ich verstummte. Lieber schwieg ich, als zu petzen. Ich hatte immerhin noch eine Ehre.
„Ach, das macht doch nichts. Ich habe dich bloß gesucht.“ Mirjam lächelte freundlich, doch ich wollte der seltsamen Situation nicht ganz trauen. „Komm mal mit.“ Sie nickte in Richtung Haupthaus. Ich folgte ihr und bemerkte schon bald, dass sie ein kleines Gebäude neben dem Haus anstrebte. Kurz darauf standen wir in einem Stall. „Mitchell hat mir erzählt, dass du gestern Silbermond kennen gelernt hast.“ Sie machte eine Pause, um mich zu mustern, bevor sie weiter sprach. „Er sagte, sie gefiele dir. Deshalb habe ich mir überlegt, dass du von jetzt an nicht mehr im Wald arbeiten wirst, sondern im Stall.“
„Das ist…“ Ich konnte kein Wort herausbringen. Einerseits war ich von Sascha weg. Doch eine Pferdenanny?! Das machte mich zum absoluten Oberloser für die Kids im Camp. Ich war ihnen doch sowieso schon ein Dorn im Auge und sie suchten nur nach Ansatzpunkten, um mich fertig zu machen.
Mirjam interpretierte mein Schweigen leider falsch. „Wunderbar! Du kannst sofort anfangen! Mitchell?“ In dem Moment betrat er den Stall. Wie gestern auch schon sah er einfach hinreißend aus. Grimmig sah ich zu ihm rüber. Wie könnte ich mich schon darüber freuen? Opfer der Kids und von Mitchells Charme zugleich. Prima.
Er schien zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. Als Mirjam pfeifend den Stall verließ, trat er näher an mich heran. „Alles in Ordnung bei dir?“ „Klar“, gab ich gelassen zurück und stellte mich tief durchatmend vor Silbermonds Box. Ich verharrte einen Augenblick, darauf wartend, dass Mitchell endlich verschwinden würde. Doch er tat es nicht. Er stand nur da und sah mich an. „Hast du schon mal ein Pferd gepflegt?“ Ich schwieg. Jetzt hielt er mich sicherlich für total bescheuert. Sollte hier arbeiten und hatte keinen Plan von nichts.
„Macht nichts. Ich zeig dir, wie es geht.“ Mit diesen Worten schob er die Boxentür auf, stülpte Silbermond ein Ding um, das er Halfter nannte und führte sie an einem Strick vor die Tür. Dann verschwand er kurz in einer Kammer, wobei er bereits nach wenigen Sekunden mit einem Koffer wieder herauskam.
„Das alles brauchst du, um Silbermond zu pflegen. Striegel, Kamm, Bürste, Schwamm, Hufkratzer, …“ Er zählte so viele Sachen auf, dass ich mir gar nicht alles merken konnte. Trotzdem nickte ich eifrig zu allem, was er mir einzuprägen versuchte. Er sollte mich schließlich nicht für dumm halten.
Das jedoch wurde mir gleich im nächsten Augenblick zum Verhängnis. Mitchell hielt mir den Koffer hin und sagte, ich solle die Theorie in der Praxis anwenden. Schwer schluckend nahm ich das Putzzeug an mich und begann, irgendwelche Gegenstände zu benutzen, wie ich es glaubte, wofür sie da waren. Mitchell schüttelte nur lachend den Kopf. „Ich denke, es dauert noch eine Weile, bis du das alles draufhast.“
Die Sonne ging gerade unter, als Mitchell mir Feierabend gab. Er sagte, dass es sich jetzt nicht mehr lohnte, noch irgendetwas zu tun. Nachdem wir Silbermond von der Koppel geholt hatten, auf der sie den Nachmittag über grasen konnte, und sie stallfertig gemacht hatten, machten wir uns gemeinsam auf in Richtung Camp.
„Du kannst nicht besonders gut mit den anderen Jugendlichen hier, oder?“, raunte Mitchell mir zu, bevor wir die Lagerfeuerstelle erreichten. Es war noch niemand da, also setzten wir uns auf einen Baumstamm und konnten ungestört reden. „Irgendetwas an mir scheint sie grundlegend zu stören – ich hab nur noch nicht herausgefunden, was es ist.“ Schulterzuckend starrte ich in die Glut des Feuers – keiner hatte heute daran gedacht, es während der Arbeitszeit weiter anzuheizen.
„Ich glaube nicht, dass sie etwas stört.“ „Und warum provozieren sie mich dann?“ „Weil sie es gewohnt sind, Stunk zu machen. Die Kids, die hierher geschickt werden, kommen alle aus sozialschwachen Verhältnissen. Da ist so etwas Normalität.“
Als Mitchell seine Vermutungen anstellte, schweiften meine Gedanken ab. Auch ich war ein solches Kind. Das allein ist doch der Grund, weshalb ich hier war. Es tat weh, so etwas von ihm zu hören. Auch wenn er es mir gegenüber nicht böse meinte, so traf es mich doch sehr tief. Mitchell reagierte sofort auf meine nachdenkliche Miene. Er legte einen seiner recht muskulösen Arme um meine Schultern und zog mich an sich. Es fühlte sich gut an, so nah bei ihm zu sein. Warm und gemütlich.
In den nächsten Tagen wurde ich immer besser in der Pferdepflege. Ich konnte mir nun fast alles merken, was ich zu tun hatte, und durfte Silbermond mittlerweile sogar auch allein betreuen. Doch an einem wunderschönen Nachmittag überraschte Mitchell mich. „Jetzt sattle Silbermond.“ „Möchtest du wieder ausreiten?“, fragte ich ihn, als ich den Auftrag ausgeführt hatte und mit dem Ergebnis absolut zufrieden war. „Nein, nicht ich.“ Verwirrt schaute ich auf. Mittlerweile hatten wir den Koppelzaun erreicht. Mitchell drückte mir einen Helm in die Hand und wies auf Silbermond. „Na los.“
„Ich werde nicht auf Silbermond reiten“, weigerte ich mich vehement. „Ich kann das doch gar nicht.“ Mitchell lachte. „Dann lernst du es eben, Dummerchen!“ Er half mir, einen Fuß in den Steigbügel zu setzen und hievte mich hoch. Von dort oben wirkte alles so klein und weit entfernt. Schwindelfrei muss man in jedem Fall sein, dachte ich mir und schaute noch einmal zum Gras zu Silbermonds Füßen herab.
„Hiermit lenkst du.“ Er klopfte auf meinen Schenkel. „Du erinnerst dich noch die einzelnen Grundlagen, die wir letztens durchgegangen sind? Probier es mal aus.“ Ich wusste genau, dass er mir alles erklärte, wie er es auch einem kleinen Kind beibringen würde. Es war mir schon ein wenig peinlich, dass ich mit meinen 19 Jahren nicht erwachsener behandelt werden konnte, doch er tat es mit so viel Elan und Freude, dass ich es ihm einfach nicht übel nehmen konnte.
Ich lernte viel von Mitchell und er wuchs mir wahrhaftig ans Herz. Einen wahrlich besseren Freund als ihn hätte ich mir gar nicht wünschen können. Er zeigte mir alles, was ich wissen musste. Mitchell hatte mir die Pferde nahe gebracht und letztendlich auch zurück in mein Herz.
Die Wochen vergingen. Der letzte Tag im Camp de Caap war gekommen. Ich galoppierte über Felder und Wiesen, frei und ungebunden. Der warme Sommerwind streichelte mein Gesicht und ließ mein Haar wild durcheinander wirbeln. Es war ein wunderbares Gefühl. Doch das Tollste an allem war, dass Mitchell neben mir her ritt. Er trieb Mirjams Pferd Azura an und lächelte mir zu. Ich schenkte ihm ein freudiges Strahlen. Noch nie war ich so glücklich, wie in diesem Moment.

Ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Die Wochen waren wie im Fluge vergangen, und wenn ich am Anfang noch so betrübt war, so war ich am Ende traurig, gehen zu müssen. Begeistert von der Idee, mein Abitur nachzuholen und es zu etwas zu bringen, habe ich mich wieder an meiner alten Schule angemeldet und wurde mit offenen Armen empfangen. Meinem brutalen Vater habe ich den Rücken zugekehrt und lebe nun in einem Wohnheim für Jugendliche. Meine alten Freunde sehe ich nicht mehr. Dafür habe ich ein paar neue gefunden und halte immer noch engen Briefkontakt zu Mitchell. Manchmal besuche ich ihn auch, dann reiten wir gemeinsam auf Silbermond und Azura aus.
Dieser Lebensabschnitt ist der allererste, der wirklich einen Sinn hat. Dank Mitch konnte ich endlich anfangen, mein Leben in vollen Zügen zu genießen.

Impressum

Texte: Laura Gabbert
Bildmaterialien: Laura Gabbert
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /