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Kapitel 1




„Laica, können Sie mir vielleicht sagen, was das Trinitätsdogma besagt?“ Erschrocken zuckte ich hoch. Trinitätsdogma? „Wenn das so weiter geht, werden Sie Ihren Abschluss nie schaffen“, tadelte mein Lehrer mich, was ihm einen wütenden Blick meinerseits einbrachte.
Ich war noch nie eine große Leuchte, am allerwenigsten in Religion. Doch als wenn das noch nicht genug wäre, musste mein Lehrer auch noch andauernd auf mir rumhacken. Das ging mir gehörig auf die Nerven.
Wie nach jeder Religionsstunde beschwerte ich mich bei meiner Cousine und besten Freundin Sara. Wir saßen in der Mittagspause in der etwa halb gefüllten Schulcafeteria und schlürften lauwarme Cappuccinos. „Dieser Kerl will mich definitiv fertig machen“, zeterte ich, während Sara mich mit kritischem Schweigen betrachtete.
„Er möchte doch sicher nur dein Bestes.“ Das konnte sie nicht verstehen. Sara lebte in ihrer rosaroten Welt, in der alle Menschen gut und freundlich waren. Doch irgendwann würde sie aufwachen und dann würde ihr ganz plötzlich klar werden, wie unsinnig und falsch ihr Weltbild gewesen war.
Ich schüttelte seufzend den Kopf. Sara schien es als Nachgeben zu deuten. „Siehst du! Und das Klassentreffen am Samstag wird bestimmt super gut. Freust du dich auch schon so darauf?“ Das Klassentreffen. Wie konnte ich das nur vergessen.
Jetzt, nach sieben Jahren auf der weiterführenden Schule, hatte sich irgendein Volldepp ausgedacht, dass man doch mal ein Klassentreffen der ehemaligen Grundschulklasse veranstalten könnte – weil damals ja noch alles so gut und schön war. Wenn ich an diese Zeit zurückdachte, bekam ich eigentlich bloß das Würgen.
In der Grundschule war ich das größte Opfer überhaupt. Alle Kinder haben mich wegen meiner dicken Brille und meinen schiefen Zähnen gehänselt und darüber gelacht, dass mein Vater spurlos verschwunden war, als ich gerade in die zweite Klasse kam. Sie sagten immer wieder, dass er weggegangen war, weil er mich nicht lieb hatte. Das hatte ziemlich wehgetan.
Doch darüber war ich hinweg. Ich wusste nun, dass mein Vater eine neue Familie im Ausland hatte und es damals das Einfachste gewesen war, uns zu verlassen. Meine Mutter und ich kamen bestens allein zurecht. Dank einer festen Zahnspange waren meine Zähne inzwischen auch perfekt gerichtet, außerdem trug ich Kontaktlinsen. Obwohl sich mein Äußeres nur zum Guten gewandelt hatte, war mir nicht ganz wohl bei dem Gedanken, die fiesen, inzwischen auch fast erwachsen gewordenen Kids wieder zu sehen.
Sara klatschte fröhlich in die Hände. „Paula und Cathy haben schon fast alle zusammengetrommelt! Sogar Fabio kommt extra aus Spanien zugeflogen, weil er es nicht verpassen will!“
Klasse!! Meine Begeisterung hielt sich absolut in Grenzen. Fabio hätte auch ruhig weiter in Spanien versauern können. Auf den konnte ich nun mal einfach am Besten verzichten. Seine Eltern, die beide in Spanien geboren sind, waren damals mit ihm nach Europa ausgewandert mit dem Plan, ihr altes Leben gänzlich hinter sich zu lassen und in der guten alten Heimat einen Neubeginn zu starten. Dennoch schien der brave Sohnemann deren Meinung nicht zu teilen und war ganz heiß auf ein Wiedersehen mit seinen alten Freunden aus den Staaten. Ich wünschte, er wäre mittlerweile zum eingefleischten Spanier mutiert, der nicht einmal auf die irrsinnige Idee kommen würde, das Land seiner Kindheit zu besuchen - oder dass er lieber gar nicht erst von einem etwaigen Treffen erfahren hätte.
„Du warst früher totaaal in ihn verknallt, weißt du noch?“ Sara kicherte, als sie in alten Erinnerungen schwelgte. Ha, ha, sehr lustig. Wirklich. Ich schenkte ihr einen alles sagenden Blick und sprang pünktlich zum Klingeln auf. Der bloß angenippte Cappuccino-Becher landete im nächst besten Mülleimer, bevor ich endlich aus dem lauten Saal flüchten konnte. Saras blumige Schilderungen meiner Grundschulträume musste ich mir jetzt nicht unbedingt geben.

„Und Fabio wird auch da sein. Das wird ein einziger Horror-Trip“, beschwerte ich mich abends bei meiner Mutter. Doch sie reagierte ganz anders als erwartet.
„Ach, Fabio? Das ist doch schön! Ich weiß noch wie du immer von ihm geschwärmt hast. Das war so süß!“
„Ähm… danke Mama – du baust mich echt auf. Manchmal glaube ich wirklich, dass sie mich damals im Krankenhaus mit einem anderen Baby vertauscht haben.“
Meine Mutter schlang die Arme um mich. „Ach Schätzchen, das wird sicher lustig. Und Shayenne wird sicher auch da sein! Ihr habt euch doch immer so gut verstanden.“
„Shayenne war eine Mistkuh! Sie hat immer nur mit mir gespielt, weil sie meine Bonbons haben wollte.“
„Sei doch nicht gleich so aufbrausend“, entgegnete meine Mutter fast nebenbei, während sie das Bügelbrett vor dem Fernseher aufbaute. Dann schaute sie mir direkt ins Gesicht. „Alle haben sich irgendwie verändert, genauso wie du.“ Sie stupste mit dem Zeigefinger aufmunternd gegen mein Kinn. „Es wird sicher schön.“
Ja, sicherlich. Mit einer Horde pubertierender Idioten und überschminkten Zicken. Halleluja!

Wie nicht anders erwartet, war der Tag aller Tage schließlich gekommen. Schon als ich den recht kurzen Weg in Richtung Sportplatz radelte, wo die Grillfeier stattfinden sollte, breitete sich ein mulmiges Gefühl in mir aus. Warum habe ich nur zugesagt. Das war alles Saras Schuld! Sie hatte mich mit ihrem Hundeblick total aus der Fassung gebracht, bis ich eingewilligt hatte. Und das hatte ich nun davon.
Kaum näherte ich mich der Sportanlage, hörte ich auch schon lautes Gelächter mit dröhnenden Bässen von R ’n’ B-Musik im Hintergrund. Die Feier schien schon in vollem Gange zu sein. Leider erkannte ich sofort auch schon die ersten Gesichter. Shayenne, die Mistkuh. Lina, Tamy und Paula, die mich mal auf dem Mädchenklo eingesperrt hatten. Und natürlich Fabio. Sonnengebräunt und extrem cool mit Sonnenbrille, babyblauem Polohemd und bunten Shorts stand er am Grill und zeigte beim dämlichen Grinsen seine schneeweißen, supergeraden Zähne.
Wie ich diesen Kerl hasste.
Ich näherte mich der fröhlich plappernden Schar und stellte mein Fahrrad ab. Sogleich wurde ich von Sara heftig begrüßt. Sie sprang mir regelrecht in die Arme. Ihre hellblonden Locken hüpften fröhlich auf und ab.
„Das ist soo toll, dass du auch da bist! Die Leute sind wirklich lustig, es macht soviel Spaß wie in Grundschulzeiten.“ Na da konnte ich mich dann ja noch auf was gefasst machen. Hoffentlich gab es wenigstens heute nicht allzu viele Späße auf meine Kosten.
Sara quatschte unbeirrt von meinem kritischen Gesichtsausdruck weiter und hängte sich bei mir ein. Ich hatte das ungute Gefühl, dass sie schon jetzt ein Gläschen zu viel getrunken hatte. Auch der Rest der ehemaligen Grundschul-Abschlussklasse 2007 schien freudig und absolut in Partylaune zu sein. Bisher waren mir auch noch keine abschätzigen Seitenblicke oder Tuscheleien aufgefallen. Ein Glück!
Doch ich hatte mich wieder einmal zu früh gefreut. Kaum hatte ich mir ein Glas Cola eingeschenkt, hörte ich einen hohen Aufschrei. „Laica! Leute, Laica ist hier!“ Shayenne. Fast hätte ich mein Getränk verschüttet, so erschrocken war ich, der Mistkuh wieder Aug in Aug gegenüberstehen zu müssen.
„Hi, Shayenne“, ich zwang mich zu einem kleinen, falschen Lächeln und drehte mich desinteressiert wieder weg. Leider hatte ich die anderen Gäste fast vergessen.
„Nicht so eilig.“ Bei meiner dramatischen Wende hätte ich beinahe Fabio umgerannt. Er hielt meine Oberarme fest und musterte mich. Er stutzte. „Du hast dich echt verändert.“ Hörte ich da etwa eine Art unterschwelligen Respekt heraus?
„Du hast dich gar nicht verändert“, entgegnete ich gereizt und kämpfte mich aus seinem festen Griff frei. Fabio lachte. Verärgert streifte ich meine Jacke wieder ordentlich und sah mich nach Sara um. Sie saß mit einem Jungen, dessen Gesicht ich nicht zuordnen konnte, auf einer der Partybänke und tuschelte aufgeregt. Wenigstens sie hatte ihren Spaß.
„Mal im Ernst, Laica. Wann bist du so hübsch geworden?“ Meine Haltung Fabio gegenüber wuchs an – aus Wut wurde leichte Aggressivität. „Lass mich bloß in Ruhe“, zischte ich zornig und drehte ihm und seiner Kumpane für den Rest des Abends den Rücken zu.
Außer mir schienen alle die Feier und das Zusammensein zu genießen. Ich saß allein auf einer Bank und beobachtete das Geschehen. Natürlich wäre ich gerne ein Teil davon gewesen – niemand will freiwillig ein Außenseiter sein. Doch wo man nicht hineingehört, da findet man auch keinen Anschluss. Und hier gehörte ich definitiv nicht rein.
Mein Fazit: Nie wieder ein Klassentreffen.

Kapitel 2




Ich habe schon lange nicht mehr darüber nachgedacht, wie groß und ausgeprägt mein Hass auf manche Leute war. Eigentlich wollte ich auf die meisten Leute gar keine Gefühle verschwenden. Doch Hass war eine der Emotionen, von denen ich am häufigsten Gebrauch machte und die mir aus irgendeinem mir schleierhaften Grund tiefe Freude bereitete.
Das könnte zum Teil daran liegen, dass Hass das einzige Mittel war, mit dem ich mich für meine Vergangenheit rächen konnte, ohne sinnlose Verbrechen zu begehen. Obwohl das mit den Verbrechen auch keine üble Idee wäre. Viele hätten es einfach verdient, für ihre Taten bestraft zu werden.
Shayenne zum Beispiel, die hinterhältige Ziege. Sie hätte es verdient, zu leiden. So zu leiden, wie auch ich leiden musste damals. Sie sollte endlich lernen, dass nicht alles nach ihrer Pfeife tanzt! Hoffentlich würde durch irgendeinen Vorfall ihr hübsches Gesicht entstellt, damit auch sie erfährt, wie es ist, ausgeschlossen zu werden!
Bevor ich weiter in düsteren Gedanken versinken konnte, platzte Sara überraschend in mein Zimmer. Tränen rannen ihr über die aus Hektik rot gefärbten Wangen. „Laica, es ist was Schlimmes passiert“, schluchzte sie und ließ sich neben mich aufs Bett fallen. Ich nahm sie tröstend in den Arm, darauf wartend, dass sie mir davon erzählte. Vermutlich hatte ihr wieder einmal irgendein Junge den Kopf verdreht und sie kommt sich auf einmal völlig ignoriert vor. Das war schon oft der Fall.
„Shayenne ist im Krankenhaus.“ Schniefend stützte sie sich an meiner Schulter ab. „Sie hatte gestern Abend einen Autounfall. Ihr ganzes Gesicht ist zermanscht, hat Paula gesagt.“
Ich traute meinen Ohren kaum. Autounfall? Erschrocken durchforstete ich mein Hirn nach meinen letzten Gedankengängen. War ich schuld daran? Hatte ich sie verflucht? Panisch betrachtete ich meine Hände.
„Was ist?“ Sara betrachtete mich, als zweifle sie an meiner geistigen Gesundheit.
„Ich… habe nur gerade über etwas nachgedacht.“ Ich schob mein düsteres Geheimnis beiseite. „Lass sie uns besuchen“, schlug ich vor.
Gesagt, getan. Bereits eine halbe Stunde später standen Sara und ich an der Rezeption des örtlichen Krankenhauses. Wir fragten nach Shayenne, durften sie jedoch nicht besuchen, da es ihr noch viel zu schlecht ging.
Ich würde sie zu gern sehen, dachte ich bei mir und musste daran denken, wie ich es mir in meinen Vorstellungen ausgemalt hatte. Bitte, lieber Gott, wenn es dich tatsächlich gibt – mach, dass ich einfach nur wahnsinnig bin und keinerlei Verbindung zwischen meiner Verfluchung und dem Unfall besteht!
Die Dame hinterm Tresen beäugte uns interessiert. „Shayenne hat gestern Nacht etwas von ein paar sehr guten Freundinnen geredet, die sie unbedingt sehen muss. Es mag zwar nichts heißen, weil sie halb im Koma lag zu der Zeit aber… seid ihr vielleicht diese Freundinnen?“
Sara nickte eifrig. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu, schwieg jedoch. Die Dame am Empfang nickte und bedeutete uns, ihr zu folgen. Auf der Intensivstation durften wir durch eine Glasscheibe in einen äußerst sterilen Raum hineinsehen.
Und dort lag sie. Shayennes Gesicht war mit Verbänden umwickelt, sodass nur die Atemwege und die Augen frei waren. Der Rest ihres Körpers schien unversehrt, doch allein der Anblick ihres Kopfes ließ mich beschämt wegschauen. Ich wollte das nicht sehen. Nicht, wenn es meine Schuld war.
Ich trat vorsichtig hinter Sara. „Lass uns gehen“, raunte ich ihr unauffällig ins Ohr. Sie nickte, noch wie betäubt vom Schrecken über Shayennes Anblick. In Gedanken verabschiedete ich mich von ihr. Es tut mir Leid, wiederholte ich immer wieder, ohne dass Sara etwas davon mitbekam. Das habe ich nicht gewollt.
Als ich wieder zu Hause war, wollte ich nur noch ins Bett. Nie wieder würde ich irgendjemandem etwas Böses wünschen. Und ist diese Person noch so schlecht. Nie wieder würde ich hassen. Nie wieder. Während ich dies immer wieder vor mich hin murmelte, fiel ich langsam und unter Tränen in einen unruhigen Schlaf.

Ich würde meinen Namen ändern müssen. Und nach Australien auswandern. Ich kann gar nicht glauben, dass das gerade wirklich passiert ist!
Vor einer knappen Stunde hatte es an der Haustür geklingelt. Nichts ahnend machte ich die Tür auf und warf diese regelrecht entsetzt sofort wieder zu. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich mich wieder gefangen und den Mut erlangt hatte, die Tür noch einmal zu öffnen.
Auf den kalten Steinstufen vor unserem Haus stand niemand anderes als Fabio. Er hob fragend die Augenbrauen, ließ sich jedoch ansonsten nichts anmerken. „Hallo, Laica.“
„Hey.“ Am liebsten hätte ich ihm jetzt mit einem extralauten Knall die Tür vor der Nase zugeschlagen. Auf den Grund seines Besuchs wartend lehnte ich im Türrahmen, die Hand kritisch in die Hüfte gestützt.
„Darf ich reinkommen?“ Ich musterte ihn, dann trat ich eher widerwillig einen Schritt zu Seite, sodass er ins Haus gehen konnte. Er blieb nicht wie erwartet im Flur stehen, sondern durchquerte dreist unser halbes Haus, bis er sich auf der dunkelblauen Ledercouch in meinem Zimmer niederließ. Ich folgte ihm mit einiger Verzögerung bis in meine eigenen vier Wände und fragte mich, woher er wusste, dass es mein Zimmer war.
Fabio sah sich in meinem Zimmer um, als sei er eingeladen worden. „Hübsch hast du es hier“, sagte er, als er mit einem leichten Grinsen bei meinen Star-Postern hängen blieb. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg und stellte mich vor meine Posterwand, hoffend, dass ich sie einigermaßen verdecken konnte.
„Was willst du?“ Ich baute mich vor ihm auf.
Fabio grinste bloß dämlich. „Wir haben uns so lange nicht gesehen. Ich dachte, wir könnten vielleicht mal wieder was unternehmen?“
Wie stellte er sich das denn bitte vor? Wie witzig. Seit der Grundschule (in der die Sympathie in jedem Fall nur einseitig vorherrschte) hatten wir uns nicht wieder gesehen. Kaum wurde ein Klassentreffen veranstaltet, musste man sich auf einmal anfreunden.
„Wie kommst du auf die Idee, ich würde etwas mit dir unternehmen wollen?“
Fabio zwinkerte mir neckisch zu. „Ach komm schon. Ich finde dich nett und wir kennen uns eigentlich schon ewig!“ Nett. Ah ja, ist ja interessant. Und klar kannten wir uns ewig, leider aber hatten wir eine miserable gemeinsame Vergangenheit und unsere „ewige“ Freundschaft wurde durch sieben Jahre ohne Kontakt unterbrochen. Was für ein Idiot.
Er schien zu merken, dass ich nachdachte. „Ein Abend wird dich schon nicht umbringen“, sagte er und versuchte meinen Blick aufzufangen. Seine Augen waren wirklich wunderschön. Sie waren braun und wirkten so treu und liebevoll… Wie Teddyaugen. Aus irgendeinem Grund wollte ich ihm seinen Wunsch nicht abschlagen.
Ich seufzte ergeben. „Also gut.“
Fabios Gesicht hellte sich auf. „Tatsächlich?“ Was denn, wenn er gar nicht erwartet hatte, dass ich ja sage, warum war er dann überhaupt hergekommen?
„Klar, warum nicht.“ Im Gegensatz zu ihm hielt sich meine Freude darüber in Grenzen, doch ich mochte ihn nicht verletzen.
„Klasse! Ich hole dich morgen um neun ab, ja?“ Ohne meine Antwort abzuwarten war er aufgesprungen und im Flur verschwunden. Verdutzt sah ich ihm nach.
Ich gehe mit Fabio aus. Fabio, dem Frauenheld und größten Macho vor dem Herrn. Wie konnte es nur so weit kommen! Ich musste völlig verrückt geworden sein. Vielleicht hatte ich ja einen Sonnenstich vom Sonnen auf unserem Balkon heute Mittag. Anders konnte ich mir nicht erklären, weshalb ich zugesagt hatte, mit ihm wegzugehen.

Kapitel 3




Mein ganzer Körper kribbelte. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, kalt und wieder heiß. Wurde ich krank? Nein, vermutlich lag es nur daran, dass ich mich selbst ohrfeigen könnte, weil ich einem Treffen zugesagt hatte, das ich nicht in meinen absurdesten Träumen in irgendeiner Weise für gut befinden würde.
Nachdenklich ließ ich das Telefon von einer Hand in die andere plumpsen. Ich könnte anrufen und einfach absagen. Dann wäre die Sache ein für alle mal gegessen. Doch etwas hielt mich zurück. Vielleicht wollte Fabio wirklich nur nett sein. Ich schüttelte den Kopf und musste über diese lächerliche Idee lauthals lachen. Es klang heiser und irgendwie bösartig, sodass ich irritiert darüber augenblicklich verstummte.
Ohne dass ich Zeit dazu hatte, mir unnötig darüber Gedanken zu machen, weshalb mein Lachen derartig grausam klang, kam Sara ins Haus gestürmt.
„Kevin hat mich gefragt, ob wir zusammen ins Kino gehen wollen! Er ist so süß!“ Sie sank verträumt in einen unserer Küchenstühle. Das war das Problem, wenn deine Cousine und sogar beste, wenn auch die einzige richtige Freundin deine Nachbarin war. Sie kam ständig herüber und musste ihre Neuigkeiten mitteilen. Egal, ob es einen interessierte – oder überhaupt interessieren sollte.
„Ist ja toll“, gab ich eher beiläufig zurück, um sie zufrieden zu stellen. Dann kam mir eine Idee. „Ich gehe mit Fabio aus. Wollen wir uns nicht zu viert treffen? Das wäre doch was!“ Sara schien nicht sonderlich begeistert, dass ich ihr superromantisches Date entweihte, freute sich jedoch unheimlich über meine Verabredung mit Fabio.
„Fabio? Ich wusste es. Ich hab es immer gewusst! Ihr passt einfach so gut zusammen, da musste es irgendwann so weit kommen.“ Aus dem kleinen Persönchen vor mir kam ein eigenartig großer Wortschwall hervor. Saras Gesicht lief vor Freude zartrosa an.
Ich amüsierte mich über ihren Gefallen an meiner Idee. Dabei kam das nur mir zugute. Wenn Sara und dieser Kevin dabei waren, würde Fabio es nicht wagen, mich blöd anzumachen oder irgendwie bloßzustellen. Wenn es in diesem Augenblick nicht so absonderlich ausgesehen hätte, würde ich mir selbst auf die Schulter klopfen.
Ich machte mit Sara den richtigen Termin für unser „Doppel-Date“ klar. Fabio sollte davon vorerst nichts erfahren.

Am nächsten Tag stand ich pünktlich um neun Uhr vor unserem Haus. Ich zitterte in meinem leichten Sommerkleid, da die abendliche Brise zunehmend kühler wurde. Der Minutenzeiger schritt langsam aber sicher voran. Fünf Minuten nach neun. Zehn. Fünfzehn. Ich wurde ungeduldig.
Nach geschlagenen zwanzig Minuten hörte ich in einiger Entfernung ein schwaches Brummen, das stetig lauter wurde. Dann bog ein alter, rostiger VW in unmöglicher Geschwindigkeit um die Ecke unseres 30-Zonen-Wohngebiets.
Wenige Zentimeter vor meinen Fußspitzen kam der Wagen mit ätzend quietschenden Bremsen zum Stehen. „Hey Puppe, steig ein!“ Fabio schien sich ja für einen ganz Tollen zu halten. Ich verdrehte genervt die Augen und ließ mich auf den Beifahrersitz plumpsen. Dann trat Fabio wieder voll aufs Gas und fuhr die eigentliche Zehn-Minuten-Strecke zum Kino in nur zwei Minuten.
Wir hatten die Fahrt über kein Wort gesprochen. Das kam davon, wenn zwei durchweg unterschiedliche Menschen miteinander ausgingen. Ohne gleiche Interessen oder Freunde hatte man sich einfach nichts zu sagen. Am Kino hielt Fabio mir dann ganz gentlemanlike die Beifahrertür auf.
„Da sind wir.“ Er reichte mir die Hand. Ich ignorierte sie und ging an ihm vorbei zum Haupteingang, wo Sara und der erschreckend hünenhafte Kevin bereits auf uns warteten – sie schienen sich jedoch auch ohne uns bereits sehr zu amüsieren. Sara kicherte vergnügt, als ich näher kam.
„Hallo, ihr zwei!“ Ich winkte ihnen zu, als ich die letzten Meter hinter mich brachte. Fabio hinter mir seufzte kaum hörbar. Ich musste mich zwingen, nicht laut loszulachen, so sehr genoss ich diesen Moment. Zu gern hätte ich jetzt sein Gesicht gesehen.
Der Film, den Fabio vorgeschlagen hatte, war wirklich nicht schlecht. Er handelte von blutsaugenden Vampiren und abgedrehten Elfen. Eine eher merkwürdige Mischung, die aber zum grandiosen Fantasyspektakel wurde. Bis Fabio alles kaputtmachte.
So unauffällig, dass nicht mal ich es bemerkte, obwohl ich davon ausgegangen bin, hatte er seinen Arm auf meine Stuhllehne gelegt. Ich spürte ihn erst, als der Arm sich auf meine Schultern herabsenkte und Fabios andere Hand auf meinem Schenkel landete.
Ich räusperte mich leise, doch als ich ihm einen bösen Blick zuwarf tat er, als wäre nichts. Als er sich dann noch ganz nebenbei weiter zu mir rüberlehnte, hatte ich die Schnauze voll. Scher dich zur Hölle, dachte ich und war drauf und dran, aufzuspringen und mit hochdramatischem Abgang den Saal zu verlassen.
In diesem Momentertönte ein schrilles Pfeifen vom Gang. Nervöses Getuschel ging durch die Reihen, bis der riesige Bildschirm mit einem lauten Zischen erlosch und die im Saal zum Brandfall integrierte Sprenkelanlage ansprang. Es ging alles viel zu schnell, sodass die Menschen im Raum anfingen zu schreien und panisch durcheinander zu rennen. Der Ausgang war schon sehr bald belagert, doch es passten immer nur wenige Menschen gleichzeitig durch die schmalen Tür, sodass sich ein riesiger, lauter Menschenauflauf davor bildete, bei dem es mich wunderte, dass niemand tot getrampelt wurde. Das rot blinkende Licht der Feueralarmanlage verstärkte die angespannte Situation nur noch.
War es nur ein Probealarm? Oder brannte es etwa tatsächlich? Verwirrt von den vielen unbekannten, vor Angst verzerrten Gesichtern suchte ich den Raum nach Sara ab. Ich konnte sie nicht entdecken, genauso wenig wie Kevin oder Fabio. Ich musste mich wohl oder übel allein durchschlagen und hoffen, dass sie bereits den Weg ins sichere Freie gefunden haben.
Kaum hatte ich mich zur Tür durchgekämpft, ertönte eine Durchsage aus den Lautsprechern. „Liebe Kinobesucher! Dies war nur ein versehentlicher Fehlalarm. Wir bitten Sie, den Vorfall zu entschuldigen und erstatten Ihnen aufgrund der Unannehmlichkeiten Ihr Geld zurück. Bitte melden Sie sich an der Kasse. Leider müssen die Säle nun wegen Säuberungsarbeiten geräumt werden “
Versehentlicher Fehlalarm. Na klasse! Murrend trottete ich den Gang hinunter zu den Kassen und holte mir mein versprochenes Geld ein. Vor dem Eingang warteten Sara und Kevin bereits. „Wo hast du Fabio gelassen?“
Verdutzt reckte ich den Hals und ließ den Blick über die Menschenmasse wandern. „Ich dachte, er wäre bei euch?“
Sara wirkte zerknirscht. „Vielleicht ist er in der Menge untergegangen. Kevin und ich wollten noch etwas Essen gehen, sollen wir dich heimfahren?“ Ich nahm Saras Angebot dankend an und verschwendete nur noch wenige Gedanken an Fabio, der wohl allein irgendwo im Kino herumirrte. Sorgen machte ich mir nicht. Es ging ihm sicher blendend. War doch bloß ein Fehlalarm.

Kapitel 4




Fabio war spurlos verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Niemand wusste, wo er sein könnte. Er fehlte in der Schule, beim Basketballtraining (an dem im Übrigen sein ganzes Herz hängt) und seine Mutter rief zigmal bei jedem an, den sie kannte, um möglichst irgendetwas über ihren verlorenen Sohn in Erfahrung zu bringen. Doch niemand hatte eine passende Antwort für die besorgte und regelrecht am Boden zerstörte Mutter parat.
Allmählich begann auch ich, mir Sorgen um ihn zu machen. War ihm etwas zugestoßen? Wir hätten ihn niemals allein lassen sollen, sondern ihn suchen und gemeinsam mit ihm heimfahren müssen! Ich bekam ein fürchterlich schlechtes Gewissen und versuchte es damit zu besänftigen, dass wir ja keine direkte Schuld daran trugen. Dennoch plagten mich düstere Gedanken, was Fabio passiert sein könnte, wo er jetzt wohl war und wie es ihm ging.
Leider war auch Sara keine große Hilfe. „Kevin ist so ein toller Mann“, schwärmte sie am Apparat, als ich ihr meine Gewissensbisse zu vermitteln versuchte. „Er ist stark, sieht einfach hinreißend aus und hat einen großartigen Humor!“
„Wie schön, dass Kevin das einzige ist, dass in deinem Hirn Platz hat“, knurrte ich, aufgeregt über ihre Einfältigkeit. Verschwendete sie gar keinen einzigen Gedanken an Fabios mysteriöses Verschwinden?
„Fabio geht’s bestimmt prima“, tat Sara meine Sorgen mit spöttischem Unterton ab. „Sicherlich hat er sich nur eine Auszeit genommen und ist zum Strand gefahren.“
„Wirklich.“ Darüber konnte ich nur den Kopf schütteln. „Wie denn ohne Auto? Außerdem wäre er dann niemals allein gefahren. Und schon gar nicht, ohne auch nur irgendwem Bescheid zu geben. Das ist doch nicht sein Stil. Und außerdem“, fuhr ich nach einem plötzlichen Gedankenblitz fort, „ muss er morgen früh zum Flughafen. Er muss wieder zurück nach Spanien. Ich erinnere mich genau daran, dass er mir erzählt hat, dass er um acht Uhr früh raus muss!“ Ich musste schwer schlucken. „Vielleicht ist er überfallen worden und liegt nun grün und blau geschlagen in irgendeiner Ecke…!“
„Jetzt mal’ doch nicht gleich den Teufel an die Wand!“ Sara zwang mich, mit den Gedanken in die Realität zurückzurudern.
„Vermutlich hast du Recht.“ Ich fasste mir an die Stirn. Sie pochte und war glühend heiß, als hätte ich hohes Fieber. „Ich mache mir nur unnötig Sorgen.“
„Eben. Entspann dich, Süße. Genieß erstmal das kommende Wochenende, bevor die elende Schule wieder losgeht.“ Eine kurze Pause folgte, ein leises Kichern. „Ich muss jetzt Schlussmachen, Kevin ist da. Wir sehen uns morgen!“ Und schon hatte sie aufgelegt.
Ich wusste nicht, wo mir der Kopf steht. Einerseits machte ich mir schon Sorgen um Fabios Wohlergehen, andererseits musste ich auch noch ein Referat über das Trinitätsdogma vorbereiten, das ich morgen wegen meiner Konzentrationsstörungen in den letzten Unterrichtsstunden in Religion halten sollte. Es schien wirklich vorerst das Beste zu sein, einmal frische Luft schnappen zu gehen und einen kühlen Kopf zu kriegen.

Ich hatte mich für den Stadtpark entschieden. Er war relativ zentral gelegen und bot viele Plätze zum gemütlichen Ausruhen und Entspannen. Zu dieser Jahreszeit blühten außerdem noch viele Blumen, die die Luft angenehm erfrischten und die Vögel zwitscherten fröhlich im warmen Schein der Spätsommersonne.
Während ich genüsslich die warme, fruchtig-blumige Brise in mich aufsog, näherte ich mich einer Parkbank, auf der ein Junge saß und Tauben fütterte. Er hatte blauschwarzes Wuschelaar, das seine Augen verdeckte, den Kontrast zu seinem sehr blassen Gesicht jedoch zunehmend verstärkte. Er warf den Tauben mit sichtlicher Langeweile die Körner aus einem kleinen weißen Stoffbeutel zu und achtete nicht darauf, dass sie wild um ihn herumflogen und gierig nach dem Beutel in seiner Hand pickten. Es sah aus, als würde er auf jemanden warten.
Als ich an ihm vorbeiging, betrachtete ich ihn unauffällig durch meinen dichten Pony hindurch genauer. Er trug eine helle, ausgewaschene Jeans und weiße Sneakers. Sein Hemd war nur unterhalb der Brust zugeknöpft und hing eher lieblos herab. Was meine Aufmerksamkeit am meisten erregte und mich regelrecht fesselte, war der Anhänger seiner Kette. Er war golden und glitzerte in der Sonne wie ein geschliffener Kristall. Das eingravierte Symbol konnte ich zu meiner Enttäuschung nicht erkennen. Dazu hätte ich näher an den fremden Jungen herantreten müssen.
Auf einmal blickte dieser auf. Seine stechend blauen Augen fixierten mich und ließen mich auf Ort und Stelle verharren. Er strömte eine ungeheure Anziehungskraft auf mich aus, sodass ich mir in die Unterlippe biss, um nicht nachzugeben und mich dem Fremden zu nähern.
„Kann ich dir helfen?“ Die Stimme des Jungen war samtig, ruhig und melodisch. Ich spürte, wie meine Knie weich wurden und stützte mich vorsichtshalber an der nahe gelegenen Straßenlaterne ab, um keinen peinlichen Abgang machen zu müssen.
Ich schüttelte noch ganz benommen den Kopf und versuchte, das Bild seines perfekten Anblicks gedanklich beiseite zu schieben, um wieder klar denken zu können.
„Du bist ja kreideweiß im Gesicht.“ Der Junge war aufgesprungen und umfasste sanft mein Handgelenk. Eine Art kleiner Blitz durchzuckte diese Stelle und bescherte mir Gänsehaut. Aber keinesfalls auf eine unangenehme Weise.
Der Fremde führte mich zur Bank und half mir, mich vorsichtig niederzulassen. „Geht’s wieder einigermaßen?“ Ich nickte und wunderte mich, dass ich so schnell über seine atemberaubende Stimme hinweggekommen war. Mittlerweile konnte ich mich in seiner Gegenwart wieder voll konzentrieren und sortieren.
„Ich wundere mich nur… diese Wirkung…“, stammelte ich und starrte auf die wütend auf dem Boden nach Körnern pickenden Tauben zu unseren Füßen.
Der Junge lachte ein heiseres, sehr sympathisches Lachen. „Die Wirkung habe ich auf alle Menschen“, gab er zu und ich spürte, dass er mich von der Seite ansah.
Ich nickte und bemühte mich, seinen Blick nicht zu erwidern, sondern streng die Tauben oder die auf dem Rasen tollenden Hunde zu beobachten. Nicht, dass mich sein Aussehen wieder ganz aus dem Konzept brachte. Ich ging lieber auf Nummer sicher.
Ein paar Minuten saßen wir einfach nur da in der Sonne und schwiegen uns an. Es war kein unangenehmes Schweigen, einfach eines unter Fremden, die still nebeneinanderher existierten. Schließlich brach er das Schweigen mit einem leisen Räuspern.
„Ich bin übrigens Lyle.“
„Laica“, gab ich zurück und zwang mich, ihn endlich wieder anzusehen. Die recht mysteriös wirkende tiefblaue Farbe seiner Augen fesselte mich noch immer. Als er meinen Namen hörte, schien er sich ein wenig zu versteifen. „Laica, hm?“ Er murmelte etwas vor sich hin, das ich nicht verstand. Es klang beinahe wie eine fremde Sprache…
„Was hast du?” Sein unverständliches Gewisper machte mich nervös. Lyle schüttelte nur schweigend den Kopf. Er wurde mir langsam unheimlich. Ich überlegte, ob ich mich lieber davonmachen sollte. Die ganze Sache fing an, besorgniserregend zu werden.
In diesem Moment drehte Lyle sich vollständig zu mir um und schenkte mir ein einladendes Lächeln, sodass mir sofort unendlich warm ums Herz wurde. „Ich muss jetzt gehen.“ Woher wusste er, dass er gehen musste? Er hatte gar nicht auf die Uhr geschaut. Vielleicht hatte er auch ganz einfach genug von mir. Ich konnte es ihm nicht verübeln. „Vielleicht sieht man sich mal wieder?“
„Sicher.“ Ich nickte verkniffen. Er hatte definitiv genug von mir. Vielleicht sieht man sich mal wieder. Es war eindeutig, dass er mich damit nur loswerden wollte. Als er aufstand und davon schlenderte, sah ich ihm nach. Kurz vor der Abbiegung am Parktor drehte er sich noch einmal um und winkte mir breit grinsend zu, bevor er hindurch trat.
Verdutzt winkte ich ihm zurück, obwohl er schon längst aus meinem Sichtfeld verschwunden war. Möglicherweise hatte er doch vor, mich einmal wieder zu sehen.

Kaum war ich wieder zu Hause, war mein Kopf wieder voller Fragen. Fragen über Lyle, über Fabios Verschwinden und Shayennes mysteriösen Unfall. Fragen, die meine Mutter mir strikt nicht beantworten wollte.
Wenn mich etwas bedrückte und ich es vor Sara nicht ansprechen wollte oder konnte, zog ich immer meine Mutter ins Vertrauen. Normalerweise erhielt ich dann auch befriedigende Antworten, doch heute schien sie regelrecht aufgeregt, als ich sie mit diesen Fragen belastete. Sie wies mich ab und wollte nichts mehr hören. So merkwürdig hatte sie sich mir gegenüber noch nie verhalten.
Am liebsten würde ich jetzt mit Lyle reden. Schade, dass ich nicht einmal seine Handynummer hatte. Wie sollte ich ihn jemals wieder treffen, wenn ich keinen einzigen Anhaltspunkt hatte? Per Zufall?
Das mir wohlbekannte Klingeln an der Haustür riss mich aus meinen Gedanken. Halb benommen richtete ich mich auf und begab mich in den Flur. Als ich die Tür öffnete, fiel mir vor Schreck die Kinnlade herunter. Ich machte den Mund schnell wieder zu, als ich mich einigermaßen gefangen hatte. Auf den Steinstufen vor unserem Haus stand Lyle, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
„Hey, Laica.“ Er schien beinahe etwas nervös.
„Woher weißt du, wo ich wohne?“ Fragend musterte ich ihn, doch er schüttelte nur den Kopf. Letztendlich war es mir auch egal. Ich bat ihn herein und bot ihm einen Teller Kekse an, die er dankend ablehnte. Ich hatte keine Ahnung wieso. Mochte er keine Kekse? Schulterzuckend nahm ich mir einen Keks, warf mich auf die Couch im Wohnzimmer und knabberte an dem Gebäckstück herum.
„Ich dachte, ich komme dich mal besuchen.“ Ich wartete darauf, dass er mir den Grund seines Besuchs nannte, doch er schien nicht darauf aus zu sein, es zu verraten.
„Das ist… schön.“ Ich grinste verlegen. Dann schwiegen wie uns wieder einmal an. Meine Gedanken tanzten wirr in meinem Kopf herum. Was wollte er hier? Woher wusste er, wo ich wohnte? Mochte er mich doch ein wenig?
Lyle schien zu bemerken, dass ich geistig sehr weit weg war. Er rückte ein wenig an mich heran, aber nicht so sehr, dass es ungemütlich oder gar peinlich wurde. Es war eine vollauf sympathische Entfernung.
„Du wirkst bedrückt“, raunte er mir leise zu. Wusste er, dass meine Mutter sich im Nebenzimmer aufhielt?
„Ich mache mir nur Sorgen“, gab ich zu und lächelte ein wenig traurig. „Ein Junge ist verschwunden, nachdem wir miteinander ausgegangen sind.“
Lyle nickte wissend. „Ja, davon habe ich auch schon gehört.“
Ich traute meinen Ohren nicht. „Wie bitte?!“
„Er ist in Sicherheit, das kann ich dir hoch und heilig versprechen.“ Wie er das sagte, klang es beinahe verschmitzt. Ein leise angedeutetes Lächeln begleitete seinen Satz und verlieh ihm einen sarkastischen Unterton. Lyle wurde mir langsam nicht mehr ganz geheuer.
„Ich habe noch Schularbeiten zu erledigen.“ Ich war kein Mensch, der log. Doch in der Not musste es einmal sein. Ich wollte mich jetzt nicht mehr in Lyles direkter Nähe befinden.
Er nahm es einfach hin. „Klar, wir sehen uns!“ Dann war er schon verschwunden.
Ich atmete erleichtert auf. Noch nie hatte ich solche Gefühlsschwankungen erlebt, was eine freundschaftliche Beziehung anging. Es war unheimlich – zwar interessant und seltsam fesselnd – doch es ließ mich wahrhaftig vor unserem nächsten Zusammentreffen zittern.

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Texte: Laura Gabbert
Bildmaterialien: Laura Gabbert
Lektorat: Alyssa Sarmiento
Tag der Veröffentlichung: 30.05.2012

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