Die Angst gefriert meine Seele
Doch die Hoffnung ist stärker
Sie taut sie auf
Und lässt sie in Liebe und Freiheit erblühen
Wieder heulte die Sirene auf. Die Abendluft war durchtränkt von Abgasen und Schießpulver, die Stadt von Scheinwerfern hell beleuchtet. Hochbewaffnete Soldaten marschierten von Panzern gefolgt durch die Straßen. Auf der Suche nach dem Feind.
Ungesehen huschten zwei dunkle Gestalten durch die engen Gassen.
Nicht in meinen düstersten Träumen hätte ich erwartet, so etwas einmal zu erleben. Die Geschichtsbücher sind voll von derartigen Geschichten. Flüchtlinge. Opfer. Zerstörung. Doch jetzt ist es wahr geworden. Die Menschen dieser Erde zerstören sich selbst. Durch Hass, Neid und politische Unklarheiten ist der dritte Weltkrieg in Gang gesetzt worden.
Wir sind keine Bedrohung für den Feind. Und dennoch ist er gewillt, uns alle auszulöschen. Auch unsere Mutter ist keine Bedrohung gewesen. In letzter Sekunde schleuste sie meine kleine Schwester Phoebe und mich aus dem Bunker, bevor die Soldaten uns erreichten und sie mitnahmen. Seitdem sind Phoebe und ich allein auf der Flucht. Auf der Flucht in die Freiheit.
Mom sagte, wir sollen uns am Hafen auf ein Boot schleichen und weit weg reisen. Doch ihr war weder klar gewesen, dass der Feind längst alle Ausreisemittel belagerte, noch, dass der Krieg derartige Maße angenommen hatte. Wir konnten nirgendwo hin. Wir waren verloren.
„Caitlin, mir ist kalt“, flüsterte Phoebe, als wir zusammengekauert zwischen Müllcontainern versuchten zu schlafen. Ich zog sie näher an mich heran, um sie ein wenig zu wärmen.
„Vielleicht ist es bald vorbei“, überlegte ich laut, doch ich tat dies nur, um Phoebe zu beruhigen. Vermutlich auch mich selbst. Im Grunde war kein Ende in Sicht. Mit ihren elf Jahren hat sie noch nicht viel vom Leben gehabt. Doch ich wünschte mir so sehr, dass sie irgendwann einmal wieder richtig leben konnte.
„Cate....“ Phoebe reckte den Hals, um etwas sehen zu können. „Hör mal.“ Ich horchte. Stimmen. Sie waren ganz nah. Dann blendete uns ein Scheinwerfer ins Gesicht.
Ich schrie auf, packte die erschrockene Phoebe am Arm und rannte los. Keuchend liefen wir durch die Gassen, Unterschlupf suchend. Dabei gab es nichts, wo wir uns auf Dauer hätten verstecken können.
Das Straßensystem unserer Stadt war nicht sehr durchschaubar. Doch nachdem wir schon über drei Tage auf der Flucht waren, hatte ich es mir halbwegs einprägen können.
Wir erreichten eine Kreuzung und mein Gefühl sagte mir, wir sollten uns rechts halten. Ich schlug die Richtung ein und folgte der langen, schmalen Gasse um eine Kurve.
Es war eine Sackgasse. Erschöpft lehnte Phoebe sich an die kalte Steinwand. „Und was jetzt?“ Registrierend, dass die Stimmen sich wieder näherten, begutachtete ich unsere Fluchtmöglichkeiten. Oben. Flugzeuge suchten mit ihren Scheinwerfern die Dächer und Straßen ab. Hinten. Die Soldaten, die uns verfolgten. Vorne. Massiver, grauer Stein.
Ich warf einen zweiten Blick nach oben. Es schien mir die einzige Chance zu sein, den Soldaten zu entkommen. Missmutig dreinblickend nahm Phoebe meine Räuberleiter an und hievte sich auf einen Container, der an der Mauer stand. Sie half mir hoch und kletterte dann an der Regenrinne hinauf. Ich tat es ihr nach. Es war nicht gerade leicht, denn das metallene Rohr bot nur begrenzte Möglichkeiten zum Festhalten.
Oben angekommen liefen wir sofort weiter, den todbringenden Scheinwerfern der Kampfflugzeuge ausweichend. Eine Zeit lang waren wir gezwungen, ganz dicht am Rand der Dächer zu laufen.
Und dann geschah es. Kreischend rutschte Phoebe ab und schlug hart auf den Kacheln auf. Sie schlitterte immer weiter das Dach hinunter, nach Halt suchend. In allerletzter Sekunde schaffte sie es, sich an der Regenrinne festzuhalten. Diese quietschte gefährlich.
„Phoebe, nein!“ Eifrig rutschte ich die Dachplatten hinab, jedoch darauf bedacht, nicht selbst hinunterzufallen. Ich langte nach der Hand meiner Schwester und versuchte sie hochzuziehen. Ohne Erfolg.
Ein Knattern stahl meine Aufmerksamkeit. Als ich mich umdrehte, das Handgelenk meiner kleinen Schwester fest im Griff, sah ich den Hubschrauber, der sich uns näherte. Voller Angst startete ich einen weiteren Versuch, Phoebe hochzustemmen. Es hatte keinen Sinn. Fassungslos starrte ich auf den Hubschrauber, der knatternd auf das Haus zuflog, auf dem wir uns befanden. Seine Scheinwerfer blendeten mich, reizten mich noch mehr zum Weinen. Ich hockte mich zu Phoebe. Niemals würde ich meine kleine Schwester dem Feind überlassen. Ich hatte doch nur noch sie.
Plötzlich packte jemand meine Schulter. Ich schrie und wehrte mich, doch die fremde Gestalt riss mich unsanft nach Hinten und warf mich rücklings auf das Dach. Die Schmerzen beim Aufprall waren unerträglich. Als ich mich aufrichten konnte, sah ich, dass der Fremde bei Phoebe war. Es war ein Soldat. Wutentbrannt ging ich auf ihn los, kreischte und schlug nach ihm. Trotz meiner Attackierungen schaffte er es, Phoebe aufs Dach zu zerren. Wimmernd krümmte sie sich zusammen. Ich stürmte auf sie zu und schloss sie in die Arme. „Alles wird gut, Phoebe, alles wird gut“, schluchzte ich erleichtert und küsste sie auf die Stirn. Alle Last fiel von mir ab, ich fühlte mich schwerelos und unbeschreiblich glücklich.
Ich hob den Kopf und bemerkte den Soldaten. Er hatte sich ein paar Schritte entfernt und beobachtete uns aufmerksam. Ängstlich blickte ich zurück. Er war unser Feind. Jeden Moment könnte er uns umbringen.
„Danke“, flüsterte ich. Obwohl er unser Feind war, hatte er meiner Schwester das Leben gerettet. Auch wenn er uns gleich tötete, so war ich ihm unendlich dankbar.
Der Soldat machte einen Schritt auf uns zu. Phoebe wimmerte und vergrub ihr Gesicht in meiner zerschlissenen Jacke. Ich verstärkte den Druck meiner Arme um ihren zarten Körper und senkte ergebend den Kopf.
Nun stand er direkt vor uns. Mit vor Angst geweiteten Augen sah ich auf seine schwarzen Stiefel. „Lauft“, zischte er.
Irritiert blickte ich auf. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber seine Stimme klang ernst. Mit zitternden Knien richtete ich mich auf und zog Phoebe, die sich fest an mich geklammert hatte, mit hoch.
Auch wenn er es aufgrund der Dunkelheit nur schwer sehen konnte, warf ich ihm einen letzten dankbaren Blick zu. Dann liefen wir los.
„Wieso hat er uns laufen lassen?“ Phoebe konnte nicht begreifen, was eben passiert war. Sie hatte schon von vielen blutigen Geschichten des Krieges gehört, doch nie ist jemandem Güte geschenkt worden.
Wir hatten uns ein Versteck im Wald gesucht, nicht weit von der Stadt. Ich dachte über Phoebes Frage nach und vermutete, dass wir als Straßenkinder keine wirkliche Gefahr für den Feind darstellten. Wir waren arm und ausgelaugt. Unsere Kleider waren zerschlissen, unsere Haut schmutzig. Wie bei unserer Mutter, dennoch hatten sie sie mitgenommen. Doch Phoebe wollte ich damit nicht strapazieren. „Ich weiß es nicht“, sagte ich stattdessen.
Die restliche Nacht verlief ruhig. Einige Male konnte ich noch die Sirenen hören, doch trotz des Lärms und der Angst, entdeckt zu werden, schlief ich bald ein.
„Wir müssen los, Cate!“ Unsanft wurde ich wachgerüttelt. Phoebe hockte neben mir. „Sie durchforsten den Wald!“
Plötzlich hellwach sprang ich auf. Beinahe geräuschlos suchten wir einen Weg durch das Dickicht, um die Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden möglichst gering zu halten.
Als wir jedoch am Waldrand ankamen und einige hoch gewachsene Farne zur Seite stießen, schlug uns eine gewaltige Böe entgegen. Ein Hubschrauber stand auf dem Feld, er war wohl gerade erst gelandet. Ob es der gütige Soldat war, der in dem Hubschrauber saß? Bedacht aber interessiert schlichen wir uns hinter den breiten Baumstämmen haltend näher heran. Wie sollten wir erkennen, ob er es war? Es war dunkel gewesen und das einzige, was ich mir eingeprägt hatte, war seine Stimme.
Als ich in unserer Hörweite Stimmen vernahm, hob ich ruckartig den Kopf. Irgendetwas stimmte hier nicht...
Dann wurde mir schwarz vor Augen.
Ich blinzelte ins Neonlicht. Wo war ich? Verwirrt sah ich zur Seite und stellte aufatmend fest, dass Phoebe neben mir auf einer Holzbank kauerte. Ich warf einen Blick durch den Raum. Außer uns waren noch ein paar andere Menschen hier. Sie alle blickten wehmütig drein, sie weinten oder schliefen einfach nur. Einige kannte ich vom Sehen aus der Stadt. Doch sie schienen mich nicht sehen zu wollen. Stur blickten sie auf den Boden oder an die Wand.
Ich erhob mich von der knarrenden Holzbank und ging zur einzigen Tür im Raum. Sie war verriegelt. Energisch rüttelte ich daran, doch nichts geschah. Verzweifelt wandte ich mich an Phoebe. Sie schüttelte nur den Kopf. „Wir sind verloren“, murmelte sie und wandte den Blick ab.
In dem Moment öffnete sich hinter mir die Tür. Trotzig stellte ich mich davor, um den Ankömmling zu begutachten. Es war ein junger Mann, durchtrainiert und sauber. Wohl ein Soldat.
Als er mich ansah, weiteten sich seine Augen kurz. Dann wurde sein Gesicht zu einer steinernen Maske. „Essen“, sagte er barsch und ließ eine ältere Frau mit einem Kochtopf herein. Hinter sich schloss er ab.
Plötzlich kam Leben in den Raum. Die Menschen, die noch beinahe leblos am Boden hingen, gierten nach dem Eintopf. Bald schon war die Suppenfrau von einer hungrigen Meute umgeben. Der Soldat stand in Reichweite der Tür, bewaffnet, und beobachtete das Geschehen.
Während ich mir meine Portion Eintopf abholte, warf ich immer wieder vorsichtige Blicke auf den Soldaten. Ich hatte das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein. Und diese Stimme... ernst, und dennoch warmherzig.
Ich war mir fast sicher, den gütigen Soldaten von letzter Nacht vor mir zu haben. Doch was brachte uns das schon. Er hatte uns einmal gerettet, ein zweites Mal war unmöglich. Vor allem in einem Gefangenenlager, umringt von seinen eigenen Truppen.
Es schienen Wochen vergangen zu sein, bis jemand anderes die Zelle betrat als die Suppenfrau mit einem Sicherheitssoldaten. Ein Mann Mitte Vierzig stand vor uns und musterte uns kritisch. Einen nach dem anderen. Er sagte etwas zu den Soldaten, die ihn begleiteten. Daraufhin gingen sie auf die in den Ecken kauernden Menschen zu. Sie packten einige von ihnen und zerrten sie grob hinaus. Sie wehrten sich nicht. Traurig senkte ich den Kopf. Sie hatten keine Hoffnung mehr. Langsam aber sicher wurde sie während ihres Aufenthalts im Gefangenenlager aus ihnen herausgesaugt.
Die Anzahl der Insassen in der Zelle hatte sich beträchtlich verringert, obwohl stetig neue Gefangene hinzukamen. Alle paar Tage kam nun ein hochgestellter Soldat mit einem kleinen Trupp und entführte einige aus der Zelle. Niemand wusste, was sie mit ihnen anstellten. Wurden sie zu Zwangsarbeit genötigt? Oder war diese Auswahl gleichsam ein Todesurteil?
Phoebe erzählte mir eines Nachts, sie hätte Angst, dass wir die Nächsten sein könnten. Ich traute mich nicht, ihr zu widersprechen. Sie zu beruhigen wäre nicht in Ordnung, zumal es jeden Tag soweit sein könnte, dass sie uns holten. Also legte ich nur die Arme um sie und sagte ihr, sie dürfe nur nie aufhören zu hoffen. Denn das ist es, was uns jetzt noch am Leben halten kann.
Eines Mittags kam wieder die Suppenfrau. Hinter ihr trat der Soldat durch die Tür, der schon am Tag unserer Gefangennahme für ihre Sicherheit gesorgt hatte. Ich musterte ihn. Er hatte einen seltsamen Ausdruck im Gesicht und als er mich ansah, kam es mir beinahe leidend vor.
Während die Suppenfrau das Essen an die hungrigen Menschen verteilte, blieb ich auf der Holzbank sitzen und beobachtete den Soldaten, der an der Tür lehnte. Sein braunes Haar war nicht sorgfältig frisiert wie bei unserer ersten Begegnung, sondern wirkte vielmehr, als hätte er in Eile nach dem Aufstehen keinen Blick mehr in den Spiegel werfen können. Unter seinen müden Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet. Das glänzende Gewehr hing an seinem schlaffen Arm herunter.
Auf einmal ging die Tür auf. Das war ungewöhnlich. Erst gestern wurden wieder Menschen aus der Zelle geholt. Alle Blicke lösten sich von dem Suppentopf und blieben an dem General hängen, der mitsamt Eskorte in der Tür stand. Eine unangenehme Stille legte sich über den Raum. Keiner wagte es, zu atmen. Der General ließ seinen Blick schweifen, der bei mir hängen blieb. Er musterte mich und meine kleine Schwester, die auf meinem Schoß saß und mit großen Augen über den Rand ihrer Schüssel blickte. Er nickte den Soldaten zu.
Bevor ich richtig wusste, wie mir geschah, hatte einer der Soldaten bereits Phoebe gepackt und sie von mir runter gezerrt. Ich schrie auf und schlug nach dem Soldaten, doch ein anderer verschränkte mir die Arme hinter dem Rücken. Der Schmerz, der mich durchzuckte, lähmte mich. Eine Unerträgliche Hitze durchströmte meinen Körper und verhinderte jegliche Bewegung. Wenn der Soldat mich nicht so eisern festgehalten hätte, wäre ich wohl vor Erschöpfung zusammengebrochen.
Ich spürte nichts mehr, sah jedoch verschwommen, wie ich aus dem Raum gezogen wurde.
Wie ich feststellte, wurden die Menschen, die nach und nach aus der Zelle geholt wurden, nicht getötet. Nein, sie mussten Arbeiten im Lager verrichten. In der Küche, im Lazarett, in der Wäschekammer oder auf dem Hof, überall wurden Arbeiter gebraucht. Sie suchten sich die harmlosesten Fälle aus der Zelle heraus und die, die durch ihren langen Aufenthalt keinen Funken Widerstand mehr zeigten.
Phoebe wurde ins Lazarett geschickt, ich in die Wäschekammer. Da Waschmaschinen teuer waren, musste mit Hand gewaschen werden. Meine Hände wurden schon nach wenigen Tagen rau und kaputt von den ätzenden Waschmitteln.
„Cate, hol die Wäsche von Abteilung 3 ab“, wies Avery mich an, meine Vorgesetzte in der Wäschekammer. Ich vermutete, dass sie ebenfalls eine Gefangene war, denn sie war kaum älter als ich.
Nachdenklich verließ ich die Wäschekammer. Ich war unglaublich froh darüber, dass Phoebe und mir nichts angetan wurde. Wir hatten auch nicht die schlimmste Arbeit erwischt. Und das Beste war, dass wir nicht ganz auseinander gerissen wurden. Tagsüber liefen wir uns oft über den Weg und für die Nacht teilen wir uns ein Zelt mit anderen Arbeitern.
Wir hatten zwar nicht viel zu verlieren gehabt, dennoch waren wir froh, nicht getötet worden zu sein. Erst jetzt nahm ich wirklich wahr, wie kostbar das Leben war und wie sehr man sich daran erfreuen konnte, wenn einem etwas Glückliches passierte.
Einen hölzernen Wäschekorb unter den Arm geklemmt machte ich mich auf zum Lager von Abteilung 3. Es war ein großes Zelt, in dem vier lange Reihen Feldbetten aufgestellt waren. Braune Kissen, braune Decken, braune Taschen daneben. Diese privaten Plätze strahlten kein bisschen Persönlichkeit aus.
Ich schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu verjagen. Persönlichkeit war unwichtig. Von Belang war nur, dass die Wäsche der Soldaten gesäubert wurde. Und dafür war ich schließlich da.
Suchend streifte ich durch die Reihen und hob hier und da ein Wäschestück auf. Einige Soldaten hatten auch freundlicherweise ihre Schmutzwäsche bereits in einen Leinenbeutel gehüllt auf ihre Feldbetten gelegt. Ich sammelte alles zusammen und näherte mich dem Ausgang, als dieser sich verdunkelte. Jemand betrat das Zelt.
Niemand durfte sich während dieser Zeit im Zelt aufhalten. Das war Gesetz. Ängstlich machte ich einen Schritt zurück.
„Wen haben wir denn da?“ Ein junger Mann kam lässig auf mich zugeschlendert, Je näher er mir kam, desto deutlicher konnte ich sein Gesicht erkennen. Erst als er fast vor mir stand, wich ich vor Schreck einen Schritt zurück. Sein bösartiges Grinsen ließ mich aufzittern.
Er musterte mich und schien sich zu amüsieren. „Dreckig bist du“, stellte er fest und streichelte mit dem Handrücken meine Wange. Es war unangenehm und ich drehte den Kopf weg. Er lachte leise.
„Zane!“ Ein anderer Soldat betrat das Zelt. Mit vor Schreck geweiteten Augen blickte ich an der Schulter des mich bedrängenden Soldaten vorbei. Es war der Mann, der mich so sehr an den gütigen Soldaten erinnerte. Kurz vor uns blieb er stehen und betrachte mich. Er schien mich zu erkennen, denn er schluckte schwer. „Was wird das hier?“, wendete er sich fragend an den Soldaten, der wohl Zane hieß.
„Wonach sieht’s aus?“, gab Zane fies grinsend zurück. Die beiden waren so mit sich selbst beschäftigt, dass ich einen Versuch wagte, unbemerkt zu verschwinden. Doch daraus wurde nichts. „Hier geblieben“, rief Zane belustigt und zog mich grob am Arm zurück.
„Lass sie los.“ Der Soldat schüttelte seufzend den Kopf. „Sie ist doch bloß eines der Waschmädchen.“
„Ich kann machen, was ich will, Elias.“ Er drückte mich fest an sich und presste seinen muskulösen Arm auf meinen Brustkorb. Keuchend schnappte ich nach Luft.
Elias versah Zane mit einem viel sagenden Blick. „Du stehst auf der Liste, Zane. Kriegt der General noch ein einziges Mal mit, dass du etwas angestellt hast, bist du raus.“ Er grinste überlegen.
Zane knurrte und ließ mich los. Rückwärts gehend entfernte ich mich von den beiden, in der Angst, sie könnten ihre Meinung ändern. Als ich draußen war, rannte ich so schnell ich konnte.
Erst in der Wäschekammer fiel mir auf, dass ich die Schmutzwäsche vor Schreck fallen gelassen hatte, als Zane auf mich zugekommen war. Sie lag noch immer im Zelt. Ich hätte mich ohrfeigen können!
Ohne die Wäsche konnte ich Avery unmöglich unter die Augen treten. Also schlich ich vorsichtig über das Gelände. Wie vorhin war auch jetzt keiner der Soldaten unterwegs. Zumindest schien es so. Auch das Zelt von Abteilung 3 war menschenleer. Die Luft anhaltend lief ich hinein, packte den Korb und einige Leinenbündel und rannte hinaus, ohne mich umzusehen.
Am späten Abend fand ich Phoebe im Arbeiterzelt vor. Sie lag bereits auf ihrem Feldbett, konnte jedoch nicht einschlafen. Ich setzte mich an den Bettrand und strich ihr liebevoll einige Strähnen aus dem Gesicht.
„Du warst lange weg heute“, stellte Phoebe flüsternd fest.
„Es gab viel zu tun. Wie war dein Tag?“ Ich erhob mich von der Kante und las ein Hemd von meinem Feldbett auf, das direkt neben Phoebes stand, und zog mich um.
„Ganz okay.“ Phoebe gähnte. „Nicht so viel los gewesen.“
Ich nickte. Tatsächlich war ich ganz froh darüber. Ein Kind von elf Jahren sollte man nicht in ein Krankenhaus schicken. Doch jetzt, wo kaum Patienten eingeliefert wurden, war es in Ordnung. Mit Angst dachte ich an den Tag, an dem die Soldaten dieses Lagers aufbrachen, um den Krieg weiterzuführen. Es würde viel Blut vergossen werden. Und unzählige Tote geben. Das wollte ich der Kleinen nicht zumuten.
Ich lag noch bis spät in die Nacht hinein auf meiner Pritsche und dachte nach. Über unser Leben im Lager, unsere Mutter und den geheimnisvollen, gütigen Soldaten. Schließlich schlief ich ein.
Wochen verstrichen. Ich erledigte meine Arbeit in der Wäschekammer mittlerweile schnell und sorgfältig. Es war nicht mehr so anstrengend wie am Anfang, und auch an die harten Waschmittel hatte meine Haut sich gewöhnt.
Bei der Arbeit auf dem Hof begegnete ich zu meinem Bedauern sehr oft Zane. Meist bedachte er mich dann mit einem viel sagenden Blick, aber auch mit garstigem Grinsen. Ich versuchte, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen.
Auch Elias traf ich an. Er jedoch fragte dann freundlich, wie es mir ginge und ob Zane mich noch belästigte. Ich erzählte ihm nichts von den fortwährenden Begegnungen im Hof.
Auch an diesem Nachmittag traf ich auf Elias.
„Hallo, Caitlin. Alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Elias lachte leise.
„Kann man wohl sagen.“ Ich rümpfte die Nase und deutete nach links. Zane lehnte am Zelteingang und beobachtete uns. „Ich muss weiter“, sagte ich dann und lächelte ihn entschuldigend an.
„Klar.“ Er trat einen Schritt zur Seite, griff dann aber hastig nach meiner Hand. „Warte.“
Fragend sah ich ihn an. „Was ist?“
„Treffen wir uns nachher? Wenn du mit der Arbeit fertig bist?“, fragte er hoffnungsvoll.
Ich blickte zu Boden. „Wir dürfen uns doch nicht treffen.“
Unruhig verlagerte Elias das Gewicht vom einen aufs andere Bein. „Dürfen...“, begann er grinsend.
Ich musste lachen. Wir verabredeten uns für den Abend hinter der Küche. Dort war abends keine Wache aufgestellt.
Dann war es soweit. Die tiefe Nacht hüllte das Lager ein, der Mond stand schwach leuchtend am Himmel. Als Phoebe eingeschlafen war, schlich ich leise zum Ausgang. Ein anderer Arbeiter fragte mich, was ich täte. „Ich muss auf die Toilette“, log ich und verzog mich nach draußen.
Hinter der Küche war tatsächlich keine Wache zu sehen. Ich lehnte mich an den kalten Stein. Die Küche und die Wäschekammer waren die einzigen richtigen Gebäude. Sie waren aus Stein gebaut und hatten den nach einem Lagerplatz suchenden Truppen einen perfekten Ort geboten.
Hinter mir vernahm ich ein leises Rascheln. Jemand trat auf das Wiesenstück direkt neben mir. Als ich aufsah, erkannte ich trotz des dämmrigen Lichtes Elias’ lächelndes Gesicht.
„Hey“, flüsterte er und nahm meine Hand. Ich zog sie nicht zurück. Stattdessen lächelte ich ihn glücklich an.
„Komm mit.“ Elias zog mich mit sich. Wir schlichen zurück über den Hof zur Wäschekammer. Er schloss auf und schob mich hinein.
„Woher hast du den Schlüssel?“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die oberste Waschfrau ihm den Schlüssel einfach so überlassen hatte.
„Ich habe so meine Kontakte.“ Er schaltete das Licht an und ging zum Kamin. Während er Kleinholz aufstapelte und es anzündete, fiel mein Blick auf seine Kleidung.
„Du trägst gar keine Uniform“, stellte ich grübelnd fest.
„Gut erkannt.“ Elias lachte. Er bot mir einen der Holzstühle neben dem wärmer werdenden Kamin an. Dankbar setzte ich mich hin und sah ihn an. Als er sich ebenfalls auf einem Holzstuhl niedergelassen hatte, schaute er zurück.
„Was ist?“, fragte er mich neugierig.
„Ach nichts.“ Auf seinen zweifelnden Blick hin musste ich lachen. „Ich habe nur gerade daran gedacht, dass du Schwierigkeiten bekommen kannst. Wegen mir.“ Ich senkte betreten die Lider.
„Das merkt niemand“, beruhigte er mich. Eine Weile schauten wir uns stumm im Raum um. Elias räusperte sich. „Warum bist du hier?“, fragte er ernst.
Ich sah ihn an. Seine treuen, warmen Augen. Und dann erzählte ich ihm die ganze Leidensgeschichte von Phoebe und mir.
Elias hörte die ganze Zeit über aufmerksam zu. An einer Stelle jedoch versteifte er sich. Als ich es bemerkte und ihn fragend ansah, winkte er nur ab und bat mich, weiterzuerzählen.
Ich wusste, dass Elias irgendetwas zu sagen hatte. Ich fragte ihn danach.
Er stand auf, sah mich jedoch nicht an. Bevor er auch nur ein Wort gesagt hatte, ahnte ich bereits, was er mir mitteilen wollte. „Du bist der gütige Soldat von jener Nacht...“, schloss ich und sah ihn eindringlich an.
Elias sah mich an. „Ja“, hauchte er. Ich wusste, dass er nicht gerade glücklich über diese Tat war. „Hat man dich dafür bestraft?“, wollte ich wissen.
Er schüttelte den Kopf. „Niemand hat es je gewusst.“
„Trotzdem nimmt es dich mit, das Gesetz gebrochen zu haben. Du ärgerst dich darüber.“
„Nein!“ Er hockte sich vor mich hin und nahm meine Hand. Sanft strich er mit dem Daumen darüber. „Glaub mir, im Nachhinein weiß ich, dass ich das einzig Richtige getan habe.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Ich möchte gar nicht Soldat sein. Und ich wollte nie unschuldige Menschen Gefangen nehmen.“
Ich glaubte ihm jedes Wort.
Nach diesem Abend fiel ich glücklich ins Bett. Elias war wirklich sehr nett und wir hatten uns gleich für den nächsten Abend wieder verabredet. In der Wäschekammer.
Der Tag lief an mir vorbei, ohne dass ich viel davon wahrnahm. Ich arbeitete wie ein Roboter, nur darauf wartend, dass es endlich Abend würde. Schließlich saß ich wieder mit Elias vor dem angeheizten Kamin.
Er erzählte mir, wie eines Tages ein Mann vor ihrer Tür stand, um ihn, Elias, als volljährigen jungen Mann, in den drohenden Krieg zu holen. Seine völlig aufgelöste Mutter und seinen kleinen Bruder, der von alldem noch nicht viel verstand, musste er zurücklassen. Er vermisste sie.
„Das kann ich gut verstehen“, stimmte ich leise zu und dachte an meine Mutter. Ich wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebte. Und wenn, wo sie war. Ich schüttelte den Kopf, um nicht weinen zu müssen.
Elias sah mir meine Verzweiflung an. Er ging auf mich zu und nahm mich in die Arme. Es fühlte sich so gut an. Warm und Geborgen. Ich fühlte mich tatsächlich sicher. In einer Zeit voller Angst.
Ich blickte leicht lächelnd zu ihm hoch. Er sah mich ebenfalls an. Sein Blick war so liebevoll, dass ich daran hängen blieb. Wie verhext starrte ich ihn an. Sein Gesicht senkte sich herab zu meinem. Nur noch wenige Zentimeter lagen zwischen uns. „Ich hab dich echt gern, Cate“, flüsterte er leise.
Ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut. Es prickelte angenehm. Dann beugte er sich noch weiter herunter und küsste mich.
Ich fühlte mich wie im siebten Himmel. Jeden Abend traf ich mich heimlich mit Elias in der Wäschekammer. Wir redeten über den Krieg und die Folgen, die er für die Welt mit sich brachte. Wie es wäre, wenn er endlich vorüber wäre. Doch keinen einzigen Abend hielten wir es aus, uns nicht näher zu kommen.
Tagsüber auf dem Hof sprachen wir nicht miteinander. Zwar konnten wir beide ein leises Lächeln nicht verhindern, wenn wir uns begegneten und an den kommenden Abend dachten. Doch niemand sollte etwas bemerken. Leider hatten wir die Rechnung ohne Zane gemacht.
Ich verließ gerade die Wäschekammer, um mich für den Abend mit Elias ein wenig frisch zu machen, als Zane sich mir in den Weg stellte. Erschrocken wich ich zurück.
„Hey, Kleines.“ Er musterte mich. „Heute Abend schon was vor?“, fragte er mit hämischem Grinsen.
Angewidert schaute ich ihn an. „Verzieh dich.“
Als ich weitergehen wollte, hielt er mich nicht zurück. Erst wunderte ich mich darüber, doch dann ich atmete tief durch und wollte gerade den nächsten Schritt gehen. „Elias ist nicht mehr da.“
Ich drehte mich um. Hatte ich mich verhört? „Willst du mich auf den Arm nehmen?“ Mit verschränkten Armen baute ich mich vor ihm auf. Ich sah ihm an, dass er mich nicht richtig ernst nahm. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Glaub mir. Er ist weg.“ Er genoss es, dass es in mir zu brodeln begann. „Sie haben ihn vor einer Stunde abgeholt.“
Ich schüttelte den Kopf so stark, als könnte ich damit seine vermeintliche Lüge abschütteln. „Das... Das kann nicht sein...“, stotterte ich. Mir wurde schwindelig. Elias. Er war weg. Einfach weg.
„He, kipp mir nicht um hier“, sagte Zane, machte aber keine Anstalten, mich zu stützen. Das hätte ich ohnehin nicht gewollt. Ich wollte nur eins: Elias.
Phoebe ließ sich neben mir aufs Bett plumpsen. „Ist er wirklich fort?“, wollte sie wissen. Ich hatte ihr von Elias und mir erzählt. Sie hatte sich sehr darüber gefreut, zumal er ihr Lebensretter war, und mich jeden Morgen über die Treffen ausgefragt.
Ich nickte stumm. Phoebe schlang ihre dünnen Ärmchen um meine Schultern. „Es tut mir so Leid.“
Sanft tätschelte ich ihren Arm. Sie war ein gutes Kind. Doch Worte brachte ich nicht heraus.
Phoebe stand auf. „Wir müssen los“, sagte sie leise, aber ich blieb sitzen. Sie warf mir einen letzten, gequälten Blick zu, dann verließ sie das Zelt.
Ich liebte Elias. Er war ein wundervoller Mensch, einer der wenigen in dieser trostlosen Welt. Wenn er jetzt von mir ging, könnte ich es nicht ertragen. Die Chancen waren leider sehr gering, dass er unverletzt heimkehrte, doch ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Tag für Tag wartete ich darauf, dass der Trupp das Lager wieder erreichte.
Avery bemerkte, dass ich nicht ganz bei der Sache war. „Alles in Ordnung, Cate? Du wirkst so zerstreut.“ Sie hatte eine gute Menschenkenntnis. Ihre großen, babyblauen Augen musterten mich.
Ich seufzte kaum hörbar. Eigentlich wollte ich mit niemandem reden. Doch seinen Frust in sich hineinzufressen, hatte noch nie jemandem gut getan. „Ich habe einen geliebten Menschen verloren.“ Ich hielt kurz inne. „Vielleicht nicht für immer, aber die Möglichkeit besteht.“ Traurig senkte ich den Kopf und ließ das mittlerweile nur noch lauwarme, schmutzige Seifenwasser ablaufen. Die ausgewrungene, jedoch noch feuchte Wäsche packte ich in den Wäschekorb.
Avery nickte verständnisvoll. „Deine Eltern?“
Ich gab ein kurzes, hartes Lachen von mir. „Nein.“ Als ich hochblickte bemerkte ich, dass sie aufgehört hatte, während wir sprachen nebenbei zu Arbeiten. Ich wusste nicht, ob ich ihr vertrauen konnte. „Elias“, sagte ich nur. Sein Name versetzte meinem Herzen einen Stoß.
Sie hob die Augenbrauen. „Elias Constantin?“
Überrascht trat ich näher an sie heran. „Du kennst ihn?“
Avery zuckte die Schultern. „Er ist ein Freund meines Bruders. Zane.“
Sofort überkam mich eine Welle der Übelkeit. Zane war Averys Bruder? Ich musterte sie eingehend. Noch nie hatte ich sehr auf Averys Äußeres geachtet. Sie sah ihm tatsächlich sehr ähnlich.
„Ah, du hast ihn bereits kennen gelernt.“ Avery lachte schallend. „Glaub mir, er ist eigentlich ein ganz lieber Kerl.“ Sie vergötterte ihn, das merkte man ihr an. Ich konnte dieses Gefühl nicht teilen.
Es gab etwas, das mich schon seit einiger Zeit beschäftigte. „Wieso bist du hier? Ich meine, du bist ja keine Gefangene.“
Avery lächelte, doch ihre Gedanken schienen weitab zu sein. „Als die Nachricht kam, dass Zane in den Krieg ziehen musste, war ich am Boden zerstört.“ Sie senkte beschämt die Lider, lächelte jedoch leicht. „Meine Mutter wollte nicht, dass ich mit ihm in den Krieg ziehe, nur weil ich bei ihm bleiben wollte. Also bin ich weggelaufen.“
„Und dann haben sie dich hier als Arbeiter engagiert, anstatt dich in den Krieg zu schicken“, schlussfolgerte ich.
Sie öffnete die Augen und sah mich an. Tränen standen ihr in den Augen. „Ich liebe Zane und würde lieber sterben, als ihn verlassen zu müssen, aber ich vermisse meine Mom.“
Tröstend schloss ich Avery in die Arme. Sie weinte bitterlich und ich hatte das Gefühl, meine kleine Schwester in den Armen zu halten. Auch sie vermisste unsere Mom wahnsinnig.
Als ich vor der Wäschekammer die feuchten Lumpen auf die Wäscheleine hängte, kam Zane vorbeigeschlendert. Ich sah ihn an und dachte über Averys Erzählung nach.
„Hey, Kleines“, begrüßte er mich grinsend.
Ich nickte stumm und betrachtete ihn weiterhin.
„Nicht gut drauf heute?“, fragte er neckend.
„Alles prima“, würgte ich hervor. Auch wenn er Averys Bruder war, die ich wirklich sehr gern hatte, konnte ich ihn trotzdem noch immer nicht leiden.
Zane sah mich an. Er lächelte etwas unsicher. „Was ist?“
„Ich habe gerade mit Avery gesprochen“, sagte ich und ließ diese Worte im Raum stehen.
Plötzlich änderte sich Zanes Auftreten. Seine Augen nahmen einen sehr sanften Ausdruck an, seine Gesichtszüge wurden weich und seine Wangen leicht rosig. Man konnte die Liebe geradezu spüren. Es war ein schönes Gefühl, auch wenn ich Zane nicht mochte.
Ich musste lächeln. So hatte ich ihn noch nie erlebt in den vielen Wochen, die ich schon hier im Lager arbeitete. „Sie ist ein überaus reizendes Mädchen.“
„Das ist noch untertrieben“, widersprach Zane stolz. „Sie ist einfach wunderbar.“ Dann wurde sein Blick wieder hart. „Aber sie sollte nicht hier sein. Ich will, dass sie in Sicherheit ist.“
Ich nickte. Das verstand ich nur zu gut. Ich dachte an Phoebe und mir wurde gleich warm ums Herz. So in der Art musste auch Zane fühlen, wenn er an Avery dachte. Dann fiel mir etwas ein. „Sie sagte, du wärst mit Elias befreundet.“
Zane schwieg einen Augenblick. „Wir waren es.“ Ich spürte, dass er nicht mehr darüber reden wollte. Er hob einmal zum Abschied die Hand und ging.
Als ich ihm nachblickte, dachte ich darüber nach, dass sein Verhalten immer mysteriöser wurde. Obwohl er eigentlich kein übler Kerl zu sein schien, fürchtete ich mich dennoch vor seinen möglichen Hintergedanken. Ich ermahnte mich aufmerksam zu bleiben.
Tatsächlich hatte ich Recht behalten. Als ich am Abend die Arbeit beendet hatte und mich zum Arbeiterzelt aufmachte, stand jemand am Eingang. Zane.
„Ich dachte schon du kommst gar nicht mehr“, sagte er gespielt empört und gab ein leises, raues Lachen von sich. „Lust auf einen gemütlichen Abend in der Wäschekammer?“, fragte er neckend.
Genervt verdrehte ich die Augen. „Träum weiter, Zach.“ Ich schlug die Zelttür zur Seite und suchte den Raum nach Phoebe ab. Sie war nicht da.
Mit Schrecken lief ich durch das ganze Arbeiterzelt. Doch meine kleine Schwester konnte ich nirgends finden. Es war bereits spät nachts. Sie konnte gar nicht mehr bei der Arbeit sein. Kurz bevor ich in Tränen ausbrechen konnte, nahm jemand meine Hand. Es war Zane. Er blickte erst liebevoll auf mich herab, dann nahm er mich in den Arm. „Elias schafft das schon“, flüsterte er mir zu. „Er ist stark.“ Ich glaubte ihm.
Wir standen noch einige Zeit umschlungen da, bis ich endlich aufhörte zu schluchzen. Zane gab mich frei und schaute mich an. „Geht es dir wieder gut?“
Ich nickte und lächelte ihn an. Vermutlich hatte ich ihm wirklich zu viel Schlechtes vorenthalten.
Von draußen ertönten laute Schreie. Panisch rannten wir vors Zelt. Scheinwerfer blendeten uns. Ich hielt einen Arm vors Gesicht und blinzelte leicht daran vorbei. Große Geländewagen kamen auf dem Platz vor dem Lazarett zum Stehen. Die Krankenpfleger trugen Soldaten aus den Wagen auf Bahren in das große Zelt.
Dann entdeckte ich Phoebe. Sie stand mit dem Chefarzt am Zelteinfang des Lazaretts und sprach mit ihm, während sie jedoch beide das Geschehen auf dem Platz verfolgten.
Erleichtert atmete ich auf. Ich wollte zu ihr herüberlaufen, doch ich bemerkte eine Sekunde zu spät, dass Zane noch immer meine Hand hielt. Ich schaute ihn viel sagend an. Er suchte meinen Blick für einige Sekunden, dann gab er mich schließlich leise seufzend frei.
Um Zane wollte ich mir später Gedanken machen. Phoebe war erst einmal wichtiger. Als ich sie erreicht hatte, drehte uns der Chefarzt gerade den Rücken zu, um einen der Verletzten zu untersuchen.
„Phoebe, du musst das nicht machen“, rief ich, entsetzt auf die Blutlachen vor dem Eingang starrend.
Sie tat dies jedoch mit einem Schulterzucken ab. „Sie haben mich dazu ausgebildet“, stellte sie klar. Mir kamen fast wieder die Tränen. Meine kleine, noch kindliche Schwester übernahm erwachsene Aufgaben. Ich war sehr stolz auf sie.
Etwas hinter mir erregte Phoebes Aufmerksamkeit. Neugierig blickte ich über meine Schulter. Dann sah ich ihn. Er lag auf einer Bahre und wurde gerade von zwei Helfern ins Zelt getragen. Im schwachen Licht am Zelteingang sah ich, dass er die Augen geschlossen hatte. Blut überströmte sein linkes Bein. Entsetzt schlug ich die Hände vors Gesicht. Ich brachte kein Wort heraus.
Er lebt, sagte ich immer wieder zu mir selbst. Er lebt. Wenn er tot wäre... ich war mir nicht sicher, ob ich das verkraften würde. Zitternd vor Angst folgte ich seiner Bahre bis zu einem Feldbett, auf dem die Helfer ihn sachte ablegten. „Wie schlimm ist es?“, fragte ich den einen vorsichtig. Meine Stimme brach.
Der Helfer drehte sich zu mir um und musterte mich. Ob er mir nichts verraten durfte, weil ich kein Angehöriger war? Doch dann glätteten sich die Sorgenfalten auf seiner Stirn. „Er hat ein paar Schusswunden am linken Bein. Doch er wird wieder.“
Ich seufzte erleichtert. Er schien bloß bewusstlos zu sein. Mich durchströmte eine solche Wucht an Freude, dass ich anfing, ein kurzatmiges Lachen von mir zu geben, das einige glückliche Schluchzer begleiteten. Ich zog mir einen Holzstuhl heran und setzte mich dicht an den Bettrand. Elias. Oh, Elias, wie bin ich froh, dass du lebst. Ich nahm seine Hand. Sie war kühl, doch ich würde sie nicht eher loslassen, bevor er wach würde.
„Cate?“ Ich schreckte auf. Vor mir saß Elias, in Bandagen gewickelt auf einem Feldbett. Ich sah mich um. Wir waren im Lazarett. Phoebe lief von einem Kranken zum anderen und verabreichte Medizin. Mein Blick fuhr zurück zu Elias. Erst jetzt nahm ich wahr, dass er tatsächlich hier, direkt vor mir saß.
Die Tränen kullerten mir über die Wangen. Ich war ungeheuer glücklich, als Elias die Arme ausbreitete und ich mich sachte hineinlegte, um ihm keine Schmerzen zu bereiten.
„Ich liebe dich, Elias“, flüsterte ich so leise, dass niemand sonst es hören konnte.
Anstelle einer Antwort drückte er mich noch fester an seine Brust und küsste mich auf die Wange. „Du hast mich am Leben erhalten.“
„Ich bin so froh, dass du wieder hier bist. Lebend.“ Ich schmiegte mich an ihn. Elias brummelte etwas vor sich hin. Ich lehnte mich weg und sah ihn an.
„Es ist noch lange nicht vorbei“, gab Elias traurig zu. „Ich kann jederzeit wieder in den Kampf gerufen werden.“
Daran wollte ich gar nicht denken. „Du musst gesund werden“, sagte ich und betrachtete sein bandagiertes Bein. Er nickte stumm.
Ich betrachtete ihn eine Weile. „Und wenn der Krieg noch weit über unsere Leben hinausgeht, er wird uns nicht auseinander reißen können. Solange es dir und Phoebe gut geht, ist mein Leben im Gleichgewicht.“ Er lächelte glücklich und schlang die Arme fester um mich. Es war ein wunderbares Gefühl.
Jemand räusperte sich hinter uns. Wir lösten uns voneinander und blickten auf. Zane und Avery standen neben dem Bett. Avery hatte einen Strauß mit sonnengelben Blumen in der Hand.
„Zur Genesung.“ Sie übergab Elias den Strauß. Er dankte ihr von ganzem Herzen, dann sah er zu Zane herüber. Der tippelte nervös mit den Füßen auf dem Boden herum. Ich nahm Avery bei der Hand, um die beiden Jungen einen Moment allein zu lassen. Sie schienen sich aussprechen zu müssen.
Ich saß am anderen Ende des Raumes und betrachtete Elias und Zane, zwei zerstrittene Freunde, die langsam aber sicher wieder den Weg zueinander fanden.
Der Krieg endete nach sieben Jahren voller Angst und Schrecken. Wie Zane und Elias sich vertrugen, nachdem sie sich wegen einer relativ unbedeutsamen Sache zerstritten hatten, fanden auch die Politiker der großen Mächte der Welt wieder Frieden untereinander.
Die durch die kriegerischen Schlachten zerstörten Städte wurden mit gemeinsamen Kräften wieder aufgebaut, politische Unklarheiten in einem Weltfriedensrat zum Wohle aller beseitigt. Die einst graue und trostlose Welt wurde durch die friedliche Zusammenarbeit der gesamten Menschheit zu einer einzigen Idylle.
Avery kehrte in ihre Heimatstadt zurück. Ihre Mutter empfing sie unter Freudentränen. Zane dagegen blieb beim Militär. Er mochte das Soldatendasein. Nicht, weil er tötete, sondern weil er dazu imstande war, Frieden zu schaffen und zu erhalten. Erst recht war er glücklich mit der Situation, weil Avery endlich vollkommen sicher war.
Auch Phoebe und ich gingen von nun an getrennte Wege. Während meine Schwester eine zeitlich unbestimmte Reise in die ärmsten Länder der Welt antrat, um sich dort um gute medizinische Versorgung zu kümmern, zog ich mich mit Elias in ein Landhaus zurück. Wir waren unendlich dankbar, dass der Krieg und die daraus erschließende Angst ums Leben endlich ihr ersehntes Ende erreicht hatten.
Zwar ist es eher unwahrscheinlich, dass die Idylle auf Erden ewig hält. Doch solange jeder Mensch einen Funken Hoffnung darauf in sich trägt, wird das Leben lebenswert bleiben.
Texte: Laura Gabbert
Tag der Veröffentlichung: 19.04.2012
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