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1.

MATTER GLANZ



„Ihr seid verrückt, ihr alle. Wahnsinnig! Alle sind des Wahnsinns. Wacht auf! Wacht doch bitte, bitte auf!“ Der Alte musste um die 70 sein, seine schlohweißen Haare passten zu dem weißen Nachthemd, das er am Körper trug, so eins wie man es von Krankenhauspatienten kennt.

Die weißen Hausschuhe an seinen Füßen klapperten über das Kopfsteinpflaster der Gasse.
Empörte Blicke von Passanten einfangend stieß er wieder hervor: „Hört mich jemand? Hört mir doch zu! Bitte, wir müssen etwas tun!“
Doch die allermeisten Leute übersahen ihn, oder vielleicht noch schlimmer, sie sahen einfach durch ihn hindurch.
Er war nicht wie sie, er war alt und verrückt. Er wusste nichts von dem alljährlichen Weihnachtsstress, in dem sie gerade steckten. Er war bloß irgendein ein armer Schlucker, der wahrscheinlich einen über den Durst getrunken hatte, ihnen im Weg stand und die Zeit raubte.
Früher oder später würde sich bestimmt jemand seiner annehmen - also am besten ignorieren.

Und so wichen die Menschen auseinander abgestoßen von der Präsenz des Alten.
Wie ein Öltropfen umgeben von Wasser perlte er die Gasse entlang.

Verzweiflung überkam ihn, war er wirklich zu spät?
Plötzlich hörte er ein leises Räuspern vor sich und erstaunt blickte er in die blauen Augen eines kleinen Mädchens.
„He du! Duuuuu? Bist du ein Engel?“
Verwundert gab der Alte zurück: „So hat mich noch nie jemand genannt. Wie kommst du darauf?“
„Na deine Augen - sie leuchten und funkeln. Wie Sterne.“
Der Alte ließ sich auf ein Knie sinken und blickte tief in die Augen des Kindes und langsam begann er zu verstehen. „Es stimmt...ja...deine auch.“
„Meine Mama sagt auch oft Engel zu mir. Weißt du, ich glaube, dass...“
In diesem Moment packten zwei starke behandschuhte Hände die Schultern des Mannes.
„Sooo, jetzt ist aber auch genug hier. Kleine Kinder erschrecken also. Sie kommen jetzt besser mit mir. Wir suchen Sie jetzt schon eine ganze Weile. Die Ärzte sind sehr besorgt. Kommen Sie, ich bringe sie zurück.“
„Lassen Sie mich los! Ich verlange, losgelassen zu werden!“ Die schraubstockartigen Hände des Gesetzeshüters schlossen sich noch enger um ihn.
„Ach, nun machen Sie doch bitte keine Umstände. Ich bin sicher, die Welt sieht ganz anders aus wenn sie erst wieder ihre Medikamente bekommen haben.“
„Oh ja, da haben Sie Recht. Da haben Sie verdammt Recht. Aber ich will das nicht mehr. Seht ihr es denn nicht? Ihr alle?! Seht ihr es? Das Wunder?“
Inzwischen hatten einige Passanten eine Traube um das Geschehen gebildet.
„... schon wieder einer von den Weihnachtswunderspinnern“, raunte einer, „... sollte man wirklich wegschließen so was“, ein anderer, „ ... hoffentlich hat er dem armen Kind nichts angetan...“
„Aber bitte!? Ich rede doch nicht von Weihnachten! Schaut euch doch endlich um, das Wunder es ist überall, es ist nicht zu übersehen. Ihr steht darauf! Ihr atmet es! Ihr fühlt es! Ihr seid es sogar und trotzdem verleugnet ihr es. Ihr seid verrückt geworden, absolute Irre! Opfer falscher Ideen. Gefangene eurer im Käfig eurer eigenen Gedanken. Ich bitte euch: Schaut euch um! Ihr lebt auf einem riesigen blauen Ball, der in rasender Geschwindigkeit um einen noch viel größeren Stern rotiert. Wo man auch hinschaut, sprießt und gedeiht das pure Leben. Nehmt doch endlich eure Scheuklappen ab und begreift! Das Alles ist mehr, als ihr euch vorstellt! Ihr alle habt es doch einmal gewusst, und ihr hattet Recht! Mit all euren Überzeugungen hattet ihr Recht.
Bitte hört in euch selbst. Wer seid ihr? Und wer wart ihr bevor man es euch sagte?“
Und wirklich, einigen in der Menge lief bei den Worten des Mannes ein sanfter Schauer über den Rücken. Doch von den meisten erntete er nur hohles Grinsen und abfällige Bemerkungen.
Selbst der Polizist hatte sichtlich Schwierigkeiten, seine Rolle als seriöser Helfer zu wahren und so zog er den Alten schnell mit sich, bevor dieser noch weiteren Unfug verzapfen konnte.
Das Leuchten war einem matten Glanz gewichen.

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Tag der Veröffentlichung: 19.12.2015

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