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Sinnlos

 

 

 

„Aber es muss einen Weg geben!“, schreit er weinend: „Es muss, es muss einfach!“

„Nein“, antwortet seine Mutter zärtlich, „So ist das eben, jeder hat einen geregelten und geordneten Ablauf in seinem Leben nicht nur du hast ihn, wir alle haben einen.“

„Aber ich will das nicht!“, meutert der Junge: „Alles soll so sein wie in meinen Träumen! Nur wenn ich schlafe, bin ich wirklich glücklich, wenn nicht alles so funktioniert und nicht alles so passiert, wie es das immer tut.“ Liebevoll streicht ihm seine Mutter die Tränen aus dem Gesicht: „Irgendwann wirst du es verstehen.“ „Nein“, sagt der Junge traurig, „du wirst mich irgendwann verstehen.“

 

Er war 11 und seine liebste Beschäftigung war das Träumen, doch die Feinde von Träumern sind Ordnung und Zeitpläne, von denen es heute unendlich viele zu geben scheint; für alles.

Um 7:10 klingelt sein Wecker, müde schwingt er seine Füße aus dem Bett. In der Küche warten dann schon seine Cornflakes auf ihn.

Um genau 7:30 verlässt er das Haus und macht sich auf den Weg zur U-bahn Station, Punkt 7:40 fährt die Bahn ein, er wartet wie jeden Tag ganz vorne an der Linie. Die U-Bahn bringt ihn in knapp 10 Minuten zu seiner Schule.

Um 8:00 Uhr beginnt der Unterricht, streng nach Plan ändern sich die Fächer. Er mag die Schule nicht, wieso soll er für ein Leben lernen, das er nie führen will?

Um 16:00 Uhr nachmittags endet der Unterricht und die Kinder machen sich auf ihren Weg nach Hause.

Um 16:20 läuft die U-Bahn ein, wie immer steht er ganz vorne an der Linie.

Pünktlich um 16:40 ist er daheim, macht Hausaufgaben bis halb sechs und schaut dann nach dem Essen bis 7:00 Uhr eine Zeichentrickserie. Um genau 8:00 liegt er im Bett und träumt. Träume sind der einzige Ort der Welt, den man nicht ordnen kann, geordnete Unordnung sozusagen, für dieses Traumland lebt er.

Am nächsten Tag beginnt alles von vorne, aufstehen, Cornflakes, U-Bahn, Schule, U-Bahn, Hausaufgaben, fernsehen, träumen und wieder das Ganze von vorne.

Am Tag darauf auch und am übernächsten genauso.

Er hasst es, und so beschließt er aus dem üblichen Trott auszubrechen, sich aufzulehnen gegen dieses System, es wenigstens zu versuchen, etwas zu finden, das seine Welt, seine Umgebung so stört, dass sie sich ändert und nicht mehr „ordentlich“ erscheint.

 

Am darauffolgendem Tag versucht er anstelle von Cornflakes Brot zu essen, das Ergebnis bleibt gleich Null. Als er fertig gegessen hat, geht er zur U-Bahn und alles beginnt wieder von vorne: Schule, U-Bahn, Hausaufgaben, fernsehen, träumen.

Am Tag darauf beschließt er als letzter in die U-Bahn einzusteigen, vielleicht wird ja das nützen, tut es nicht, er bekommt lediglich keinen der begehrten Sitzplätze mehr ab, alles andere geht seinen gewohnten Gang.

Langsam verzweifelt der Junge. Kann er denn gar nichts gegen diesen Trott unternehmen?

Am nächsten Morgen beschließt er, heute nicht in die Schule zu gehen. Seiner Mutter erzählt er, er wäre krank. Schulterzuckend genehmigt ihm die Mutter Zuhause zu bleiben, er ist ja sonst nie krank.

Doch als der Junge aus dem Fenster blickt, sieht er wie die anderen trotzdem zur Schule gehen, dass die U-Bahn trotzdem zur gleichen Zeit wie sonst auch abfährt, dass auch diese Tat, diese eigene Abwesenheit den Ablauf in keinster Weise stört.

Am letzten Tag der Schulwoche entscheidet der Junge, heute keine Hausaufgaben zu machen und seine Serie nicht anzusehen. Vielleicht wird ihm ja das helfen auszubrechen.

Ohne Erfolg, er langweilt sich lediglich und sein Lehrer schreibt die vergessenen Hausaufgaben auf und befiehlt dem Schuldigen zur Strafe zwei Seiten aus dem Lesebuch abzuschreiben. Als der Junge dem Lehrer entschuldigend von seinem Experiment erzählt, meint dieser nur spöttisch grinsend: „Du hast bewiesen, dass man fürs Pflichtverweigern bestraft wird. Glückwunsch.“

„Aber welche Pflicht?“, kontert der Junge, „Ich wollte doch ga...“

„Mir egal was du willst, wir sind beide nicht hier, weil wir wollen! Und jetzt ab auf deinen Platz!“

Er schläft schlecht in dieser Nacht, träumt wirr, schreckt mitten in der Nacht hoch und liegt stundenlang wach, denkt nach über das Gesagte.

 

Die nächste Woche beginnt wie immer, traurig und müde läuft der kleine die Stufen in die U-Bahn hinab. Um genau 7:40 steht er wie jeden Tag vorne an der gelben Linie um zuzusehen, wie gleich der Zug einlaufen wird, wie die Leute eiligst herausdrängen, wie sie ihrem geordneten Leben nachgehen, das Leben das schon bei ihrer Geburt vorbestimmt und damit zu Ende gelebt ist, eben solche Leute werden gleich ein- und aussteigen. Er ist jetzt ganz vorne an der Linie, in seinem Nacken spürt er den Atem eines anderen Kindes, die Luft ist erfüllt von fröhlichem Schwatzen, von Gesprächen, an denen der Junge nicht mehr teilhaben will, von Unterhaltungen, die es nicht wert sind, geführt zu werden, weil sie nur Lückenbüßer zwischen zwei geregelten Aktivitäten sind.

Von fern nähert sich schon das Geräusch der Bahn.

Traurig denkt der Junge nochmal an die vergangene Woche, die Woche in der er alles versucht hat, jede Gewohnheit hat er durchbrochen, doch nichts hatte auch nur den geringsten Einfluss auf den Verlauf der Dinge gehabt.

Laut hupend biegt die U-Bahn um die Kurve.

Der Junge betrachtet seine Schuhe, lässt seinen Blick am Boden dahingleiten, verfolgt die gelbe Linie mit seinen Augen bis sie sich im Beingewirr verliert und plötzlich weiß der Junge, was er zu tun hat, was er noch nicht versucht hat. Wenn gar nichts Einfluss auf nichts hat, dann doch auch das hier nicht oder?

Der Zug ist jetzt ganz nahe.

Glücklich tritt der Junge zwei Schritte nach vorne.

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Tag der Veröffentlichung: 23.05.2013

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